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Online-Journal für systemische Entwicklungen

12. August 2024
von Tom Levold
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Vom Schlechten des zur Schau gestellten Guten: Der Philosoph Philipp Hübl hat ein Buch über „Moralspektaktel“ geschrieben

Stefan Beher, Bielefeld:

„Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es“! So wenig diese Einsicht des großen Erich Kästner heute, beinahe 100 Jahre später, an Glanz verloren hat, so sehr muss sie doch um das psychologische und soziologische Wissen darum ergänzt werden, dass gutem Handeln ganz unterschiedliche Motive zu Grunde liegen können. Wer anderen seine moralische Integrität handelnd zur Schau stellt, dem werden beträchtliche Achtungsgewinne zu Teil, die gerade unter dem Gesichtspunkt von Nutzenmaximierung eine üppige Dividende abwerfen können. Denn nicht nur die Mafia, sondern alle sozialen Gemeinschaften belohnen das Handeln einzelner, wenn es von Eigeninteressen absieht und sich in den Dienst der Gruppe stellt mit einem der höchsten Güter, die uns erstrebenswert erscheinen: sozialer Anerkennung. Der Soziologe Peter M. Blau argumentiert deswegen, dass noch scheinbar selbstlose Handlungen in der Regel auf Eigeninteresse basieren und durch die Erwartung indirekter Belohnungen motiviert werden. Die Warnung vor Moral aus ethischen Gründen ist zudem ein alter systemtheoretischer Topos. Und ohnehin betrifft alles, was wir den Tag über so tun, uns selbst und zahlreiche andere auf mannigfaltige und höchst unterschiedliche, gute wie schlechte Weisen. Von dieser (konstruktivistischen) Warte aus ist also schon eine prinzipielle Skepsis geboten – wenn Gutes reklamiert wird, gerade wenn es sich als Handlung der praktischen Überprüfung entzieht.

Letzteres wird in Zeiten der Social Media-Echtzeitkommunikation zunehmend einfacher für Menschen, die es bloß auf Achtungsgewinne abgesehen haben. Gerade sie werden daran interessiert sein, die Preise zu senken und die Achtung günstiger für sich zu gewinnen: Durch bloßes Zurschaustellen des eigenen Feinsinns in moralischen Belangen etwa, ganz ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Ohnedies halten wir alle von uns selbst gerade unter dem Gesichtspunkt unserer Sittenhaftigkeit eine Menge. Noch Gewaltverbrecher, das wissen wir aus der psychologischen Forschung, halten sich im Allgemeinen für moralisch besonders achtenswert. Sie beurteilen sich in allen pro-sozialen Eigenschaften vorbildlich, lediglich in Punkto Rechtstreue als Durchschnitt.

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6. August 2024
von Tom Levold
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Ideologiemaschinen

Zu den wichtigen Lektüreerfahrungen dieses Sommers gehört für mich das Buch „Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert“ von Harry Lehmann, das kürzlich im Carl-Auer-Verlag erschienen ist. Es handelt sich um einen Sonderband aus der Reihe update gesellschaft, die Essays über relevante zeitgenössische Diskurse und Konfliktlagen bereit hält. Harry Lehmann, 1965 in Dohna bei Dresden geboren, ist Physiker und Kunstphilosoph, der 2003 mit einer systemtheoretischen Arbeit zur Wahrheit der Kunst promovierte.

Das vorliegende Buch untersucht das sich auch hierzulande ausbreitende Phänomen der Cancel Culture in Hinblick auf die Frage, welche Konsequenzen das Cancel-Culture-Syndrom – „worunter wir den ganzen Komplex aus cancel culture, wokeness, victimhood culture, safetyism und identity politics verstehen“ (S. 7) für die Verfasstheit unserer Gesellschaft hat. Seine These ist, dass „infolge der digitalen Medienrevolution … die Institutionen in liberalen Demokratien die Fähigkeit [verlieren], eine Grenze zwischen politischer und nichtpolitischer Kommunikation zu ziehen, was zu erheblichen Dysfunktionalitäten führt“ (ebd.). Das lässt sich derzeit paradigmatisch an den Funktionssystemen der Wissenschaft und der Kunst zeigen, deren Institutionen leider zunehmend „anstelle von Wissen, Bildung und Kunst Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen“ (S. 8).

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16. Juli 2024
von Tom Levold
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Geschwärzte „Akteur:innen der Wissenschaft innerhalb der DGSF“

Vorbemerkung: Dieser Text ist ziemlich umfangreich. Er betrifft die Fragen des Spielraums, den inhaltliche Kontroversen in einem Fachverband wie der DGSF und ihrer Zeitschrift Kontext – Zeitschrift für systemische Perspektiven haben sollten, wieviel Polemik dabei statthaft und wie mit Forderungen nach einer Zensur von unliebsamen Beiträgen umzugehen ist: ein Thema, das auch für das systemische Feld im allgemeinen von Relevanz sein dürfte.

Wer die vorletzte Ausgabe des Kontext aufmerksam gelesen hat, ist am Ende des Editorials auf einen Absatz gestoßen, der sich auf eine Kontroverse bezieht, die um die Rezension eines Buches des Soziologen Martin Schröder „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ durch einen der Herausgeber in Heft 3/2023 entstanden ist und in deren Rahmen der DGSF-Vorstand, der  Wissenschaftliche Beirat des Kontext (dem ich seit meinem Ausscheiden als Herausgeber anzugehören die Ehre habe) sowie  der Ethikbeirat der DGSF zu Stellungnahmen aufgefordert wurde. Dort wurde darauf hingewiesen, dass die Dokumentation dieser Kontroverse (die durch eine sogenannte „Replik“ auf die Rezension durch einige Mitglieder in Gang gebracht wurde) mit allen dazu eingegangenen Stellungnahmen der Verbandsöffentlichkeit auf der DGSG-Webseite zugänglich gemacht würde. 

Erst einige Zeit später wurde diese Dokumentation im Mitgliederbereich der DGSF-Webseite veröffentlich, doch so kunstvoll versteckt, dass jemand, der nicht in diese Kontroverse einbezogen worden ist, wohl nur durch einen Zufall auf die Seite stoßen kann. Leider sind die Texte der „Replikgruppe“ in dieser Dokumentation aus Gründen vollständig geschwärzt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Das ist bedauerlich, denn die Art und Weise, wie diese Auseinandersetzung geführt wurde, und vor allem die darin erhobenen Forderungen an den Verband, die auf die Beschneidung der Unabhängigkeit der Herausgeber sowie auf die inhaltliche Kontrolle der veröffentlichten Texte abzielen, sind nicht nur relevant für die DGSF mit immerhin 10.000 Mitgliedern, sondern dürften auch von Interesse für die gesamte systemische Community sein.

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6. Juli 2024
von Tom Levold
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Kollektive Traumata

Die aktuelle Ausgabe der Familiendynamik befasst sich mit dem Schwerpunktthema kollektiver Traumata. Dazu heißt es im Editorial: „Finanzkrise, Klimakatastrophe, Dürre, Überschwemmungen, Hunger, Artensterben, Pandemie, Angriffskrieg in Europa, Inflation, Krieg im Nahen Osten … Die Welt befindet sich zunehmend im Dauerkrisenmodus. Dadurch sind Menschen nicht nur individuell belastet, sondern es entstehen auch kollektive Ängste und Überforderung bis hin zu Traumatisierungen, die wiederum transgenerational und innerfamiliär weitergetragen werden können. Im Mikrosystem der Familie kann dies beispielsweise über dauerhaft unabgestimmte Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kindern geschehen. Solche kollektiven und kumulativen Traumata stehen im Fokus dieses Heftes, welches von Kazuma Matoba und Jörn Borke herausgegeben wird. Dabei blicken wir über den systemischen Tellerrand hinaus, glauben aber, dass die dargestellten Ansätze auch für die systemische Praxis erkenntnisreich sein können.“ Zu den bibliografischen Angaben und allen abstracts geht es hier…

4. Juli 2024
von Tom Levold
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Evan Imber-Black (19.5.1944 – 29.5.2024)

Am 19. Mai habe ich in dieser Stelle noch Evan Imber-Black zum 80. Geburtstag gratulieren können. Nur 10 Tage später ist sie in ihrem Haus in Connecticut gestorben. Sie hinterlässt ihre 87 Jahre alte Schwester Meryle Sue Mitchel, zwei Kinder und drei Enkelkinder. Ihr Mann, Lascelles Black, verstarb bereits im Jahr 2022.

Evan Imber-Black war Psychologin mit einem Doktortitel in klinischer Psychologie und Familientherapie. Ihren akademischen Hintergrund und ihre Berufsausbildung erhielt sie an der University of California, Los Angeles (UCLA), wo sie auch ihre klinische Ausbildung in Familientherapie absolvierte. Sie war langjähriges Fakultätsmitglied des Ackerman-Institute und ehemalige Direktorin des Ackerman’s Center for Families and Health, dessen Schwerpunkt in der Arbeit mit Familien liegt, die von somatischen Erkrankungen und körperlichen Einschränkungen betroffen sind. Darüber hinaus war sie Professorin und Programmdirektorin des Masterstudiengangs Ehe- und Familientherapie am Mercy College sowie Professorin in der Abteilung für Psychiatrie am Albert Einstein College of Medicine in der Bronx. Von 2004 bis 2011 arbeitete sie als Herausgeberin von Family Process, einer der wichtigen familientherapeutischen Zeitschriften in den USA.

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27. Juni 2024
von Tom Levold
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6,1 % weniger Ehescheidungen im Jahr 2023

WIESBADEN – Im Jahr 2023 wurden in Deutschland durch richterlichen Beschluss rund 129 000 Ehen geschieden. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, sank die Zahl der Scheidungen gegenüber dem Vorjahr um 8 300 oder 6,1 % und damit stärker als im Jahr 2022 (-3,8 % zum Vorjahr). Im langjährigen Trend ging die Zahl der Scheidungen mit Ausnahme weniger Jahre seit dem Jahr 2003 zurück (-39,7 %) und erreichte 2023 den niedrigsten Stand seit der Deutschen Vereinigung im Jahr 1990. Auch die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung nicht beeinflusst. Die Zahl der Eheschließungen ist langfristig ebenfalls rückläufig. 2023 sank sie auf den zweitniedrigsten Stand seit 1950.

109 600 Kinder aus geschiedenen Ehen im Jahr 2023

Etwas mehr als die Hälfte (50,8 % beziehungsweise rund 65 600) der im Jahr 2023 geschiedenen Ehepaare hatte minderjährige Kinder. Von diesen hatten 48,8 % ein Kind, 39,7 % zwei und 11,5 % drei oder mehr Kinder. Insgesamt waren im Jahr 2023 etwa 109 600 Minderjährige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.

Scheidung meistens nach einjähriger Trennungszeit und mit Zustimmung beider Partner

Die meisten der geschiedenen Ehen (80,1 %) wurden nach einer vorherigen Trennungszeit von einem Jahr geschieden. Scheidungen nach dreijähriger Trennung machten einen Anteil von 18,9 % aus. In diesen Fällen wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist. In knapp 1,1 % der Fälle waren die Regelungen zur Scheidung vor einjähriger Trennung oder Scheidungen nach ausländischem Recht maßgebend. Im Durchschnitt waren die im Jahr 2023 geschiedenen Ehepaare 14 Jahre und neun Monate verheiratet. Bei etwa 21 900 oder 17,0 % aller geschiedenen Paare erfolgte die Scheidung im Jahr der Silberhochzeit oder später.

Bei 89,6 % der Ehescheidungen wurde 2023 der Scheidungsantrag mit Zustimmung des Ehegatten oder der Ehegattin gestellt. Bei 6,2 % wurde der Antrag von beiden Ehepartnern zusammen eingereicht. Bei den anderen 4,2 % stimmten der Ehegatte oder die Ehegattin dem gestellten Antrag nicht zu.

Mehr Scheidungen, aber weniger Aufhebungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften

Im Jahr 2023 ließen sich rund 1 300 gleichgeschlechtliche Paare scheiden. Dies waren etwa 200 oder 15,0 % gleichgeschlechtliche Paare mehr als im Jahr 2022. Ehescheidungen gleichgeschlechtlicher Paare umfassten 1,0 % aller Ehescheidungen des Jahres 2023. Seit der Einführung der „Ehe für alle“ im Oktober 2017 können in Deutschland keine Lebenspartnerschaften mehr begründet werden. Gleichgeschlechtliche Paare, die in einer zuvor eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können diese nicht durch Scheidung, sondern durch Aufhebung beenden. 2023 wurden mit rund 700 Aufhebungen von Lebenspartnerschaften etwa 200 oder 19,4 % weniger erfasst als im Vorjahr. Damit ist diese Zahl das vierte Jahr in Folge gesunken. Hier findet zunehmend eine Verschiebung von den Aufhebungen zu den Scheidungen statt.

Weitere Informationen:

Basisdaten und Zeitreihen zu rechtskräftigen Ehescheidungen sowie Aufhebungen von Lebenspartnerschaften sind in den entsprechenden Statistischen Berichten auf der Themenseite „Eheschließungen, Ehescheidungen und Lebenspartnerschaften“ sowie über die Tabellen 12631 sowie 12661 in der Datenbank GENESIS-Online abrufbar. Daten und Zeitreihen zu Eheschließungen bieten die Tabellen 12611. (Quelle: www.destatis.de)

21. Juni 2024
von Tom Levold
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Mara Selvini-Palazzoli (15.8.1916-21.6.1999)

Heute jährt sich der Todestag von Mara Selvini-Palazzoli zum 25. Mal. Wenn ich die Teilnehmer der Weiterbildungskurse in systemischer Therapie nach ihr Frage, kennt sie kaum jemand. Das ist bedauerlich, war sie doch mit ihrem Mailänder Team in den 1970er und 1980er Jahren weltberühmt und hat auch der familientherapeutischen Szene in den deutschsprachigen Ländern wesentliche Impulse gegeben. Aus dieser Werkstatt stammten die Erfindungen des zirkulären Fragens und der paradoxen Intervention, um nur zwei Interventionsideen zu nennen. Sie interessierte sich für die “schmutzigen” Spiele der Familie, denen mit einem ausgeklügelten strategischen Ansatz begegnet wurde, der heute nicht mehr so praktiziert wird. Sie selbst hat radikal ihre eigenen Konzepte immer wieder selbstkritisch revidiert oder aufgegeben, immerhin war sie sehr lange Psychoanalytikerin, bevor sie mit den Arbeiten von Gregory Bateson und der Palo-Alto-Gruppe bekannt wurde. Auch wenn das Mailänder Modell heute kaum noch – jedenfalls nicht mehr in seiner Rigorosität – eine Rolle spielt, wäre es traurig, diese wichtige Pionierin des systemischen Denkens zu vergessen. In ihrem Todesjahr ist ein Buch von ihrem Sohn Matteo Selvini im Carl-Auer-Verlag erschienen, in dem ihre „Revolutionen” gewürdigt werden und das auch einige zentrale Aufsätze von ihr enthält. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages ist hier das Einführungskapitel von Matteo Selvini zu lesen, in dem es um die psychoanalytische Ausbildung Mara Selvinis geht, um ihren „Sprung vom Individuum zur Familie“, die Anwendung des kommunikationstheoretischem Ansatz bei der Entwicklung der therapeutischen Techniken, und die Erforschung der familiären Spiele. Das ganze Buch ist noch als ebook für 10,- € hier erhältlich.

1. Juni 2024
von Tom Levold
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Kybernetik dritter Ordnung? Entwicklung einer phänomenologisch angesetzten Theoriebildung und ihre Relevanz für die systemtherapeutische Praxis und Lehre

In der aktuellen Ausgabe von Psychotherapie Forum setzt sich Evelyn Niel-Dolzer aus Wien mit der Frage auseinander, wie die theoriebasierte Polarisierung von Subjekt und Sozialen Systemen, die in der Systemtheorie wie der Kybernetik praktiziert werde, aufgelöst werden könne. Im Editorial heißt es: „Mit Ludwik Flecks Konzept des Denkstils wird ein Vorschlag unterbreitet, Theoriebestände innerhalb eines zersplitterten Binnendiskurses hinsichtlich ihrer klinischen Nützlichkeitexplizit(er) herauszuarbeiten. Anhand einer konkreten Entwicklung in der Lehranstalt für Systemische Familientherapie wird gezeigt, wie der Wechsel von einem konstruktivistisch zu einem phänomenologisch fundierten Bezugsrahmen eine Alternative zur Polarisierung von Subjekttheorien und Theorien sozialer Systeme darstellt: Aus der Perspektive der Intersubjektivität lässt sich psychisches Erleben systemtheoretisch fundiert konzeptualisieren, theoriegeleitet beobachten und in der Ausbildung vermitteln. Anschlüsse und Beteiligung an schulenübergreifenden Diskursen als Anspruch an eine zeitgemäße Ausbildung werden sichtbar gemacht.“

Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass Subjektivität eben nichts „Innerliches“ ist, sondern immer schon ein relationales intersubjektives Phänomen, dessen Folge (und nicht Ursache) subjektives Erleben ist. In dieser Hinwendung zu einer phänomenologischen Perspektive sieht Niel-Dolzer den möglichen Wandel von einem Denkstil der Kybernetik 2. Ordnung hin zu einer Kybernetik 3. Ordnung: „Der Wechsel des konstruktivistischen Bezugsrahmen der Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck als Denkstilumwandlung in Richtung einer – möglicherweise – Kybernetik dritter Ordnung beschreiben. Ihre klinische Nützlichkeit erweist sich in ihrer „Sehhilfe“ auf psychisches Erleben als wirkmächtiger Aspekt therapeutischer Performanz. Wo sich klinisch relevantes Geschehen nicht durch die Theorien einer Kybernetik II (als Dekonstruktion von Problemen) konfigurieren lässt, sind Theorien einer Kybernetik III als „Sehhilfe“ auf die (intersubjektive) Genese und Aufrechterhaltung pathologischer Phänomene erforderlich. Relevant ist dies vor allem in Prozessen, in denen drohender Selbstverlust bzw. Selbstaufrichtung zentraler Aspekt des (impliziten) Behandlungsauftrages sind. Das sind v. a. Kontexte traumatischen Erlebens und existentieller Verluste/Zerstörung, Arbeit mit emotional schwer erreichbaren Klient:innen, und auch mit Kindern und Jugendlichen, wo die Orientierung an (Selbst)Entwicklungstheorien prinzipiell unverzichtbar ist“.

Auch wenn nicht so richtig klar wird, wofür es eine neue Kybernetik braucht und inwiefern die Nutzung phänomenologischer Konzepte nicht auch in eine Kybernetik II integriert werden kann (so lässt sich auch das Fragezeichen in der Überschrift deuten), ist dieser Text sehr lesenswert und als Open Access auch hier frei verfügbar.

31. Mai 2024
von Tom Levold
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Ausschreibung einer Universitätsprofessur für (systemische?) Klinische Psychologie und Psychotherapie in Klagenfurt

In Hinblick auf das neue Psychotherapiegesetz in Österreich wird eine zusätzliche Stelle für eine Professur Klinische Psychologie & Psychotherapie an der Universität Klagenfurt ausgeschrieben. Wie ich einem Brief aus dem Umkreis des psychologischen Institutes entnehmen kann, wünscht sich „das Institut […] jemanden aus der Praxis mit Forschungserfahrung und Publikationstätigkeit, vorzugsweise aus der Systemischen Familientherapie, weil die VT und die psychodynamischen Methoden am Institut gut vertreten sind, sodass auch das Systemische Cluster in Klagenfurt angeboten werden könnte (die Universitäten sprechen sich bis Herbst zusammen, es sieht so aus, als würden Lehr- und Forschungsverbünde entstehen, Klagenfurt überlegt sich hier mit Salzburg oder Graz zu kooperieren).

Bisher wird – nach ersten Gesprächen mit den um die 500 Studienplätze mitwerbenden öffentlichen Universitäten die Systemische Familientherapie in den regulären Studien in Österreich – ausgenommen an den zu bezahlenden Weiterbildungslehrgängen ohne Forschung (Wien, Graz usw.) – nicht berücksichtigt, was einen weitreichenden Forschungsnachteil und letztendlich zum Zurückdrängen dieser Fachrichtung im psychotherapeutischen Diskurs führen könnte. Daher wäre eine Universitätsprofessur mit Schwerpunkt Systemische Ansätze für die (Weiter-)Etablierung dieser Fachrichtung im deutschsprachigen Raum, in dem VT und Psychodynamik die Universitätslandschaften in der Forschung dominieren, essentiell.

Das Institut für Psychologie wünscht sich auch, dass das derzeit recht kleine, aber feine Angebot der technisch wunderbar ausgestatteten Psychotherapeutischen Ambulanz in Klagenfurt weiter zu Forschungszwecken genutzt wird und die Ambulanz der Universität mit örtlich versierten Psychotherapeutinnen* und Ausbildungskandidatinnen* weiter um einen in Kärnten dringend benötigten Schwerpunkt der Kinder- und Jugendpsychotherapie ausgebaut wird (oder eine andere, ähnlich notwendige Erweiterung passiert). […]

Auf diese Ausschreibung hin werden sich erfahrungsgemäß viele deutsche Personen mit Habilitation im Fach Klinischer Psychologie und aus VT und Psychodynamik berwerben. Dennoch stehen die Chancen, dass sich das Institut für eine* charismatische* Kandidatin* aus der Systemischen Familientherapie bei guter Forschungsleistung entscheiden würden, recht gut. Ich bitte dich darum um die Inbetrachtnahme deiner Bewerbung und/oder um die Empfehlung von aus deiner Sicht gut geeigneten Kandidatinnen*. The more the marrier – > energy flows where the attention goes….“

Zur Ausschreibung geht es hier entlang…

27. Mai 2024
von Tom Levold
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Systemik und Systemtheorie

Die Begriffskarriere des Wörtchens „systemisch“, die sich seit über 40 Jahren hierzulande vollzogen hat, ist eindrucksvoll. Gleichzeitig hat sich aber der Bedeutungshof dieses Begriffes immer weiter ausgedehnt, so dass er heute nahezu beliebig gebraucht wird. Theoretische Aspekte systemischen Denkens rücken zunehmend in den Hintergrund und fragt man jüngere Systemiker nach ihren Vorstellungen von Systemik, hört man nicht selten, es handele sich dabei vor allem um eine bestimmte Haltung, die von Wertschätzung und Ressourcenorientierung geprägt sei. Diese Haltung ist natürlich allen zu wünschen, die erfolgreich Menschen in Veränderungsprozessen beistehen wollen (und ist wohl in den erfolgreichen dieser Prozesse auch zu finden), ob sie das Alleinstellungsmerkmal des Systemischen ausmachen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Insofern bleibt die Frage nach dem Wesenskern systemischen Denkens weiterhin offen, auch wenn das Interesse an dieser Frage nachgelassen zu haben scheint.

Dem setzt die aktuelle Ausgabe des Kontext ein interessantes Debattenheft entgegen, in dem es um die inhaltliche Differenzierung von Systemik und Systemtheorie (hier der Luhmannschen Prägung) geht. Mitherausgeberin Barbara Kuchler eröffnet das Heft mit einem Artikel über das Verhältnis dieser beiden Denkschulen. Wie es im Editorial heißt, sieht sie „Systemiker:innen als Akteure in kleineren Beziehungssystemen der Integration von Unterschieden verschrieben. Dabei kann Integration beispielsweise bedeuten, dass das Ungelebte gelebt wird (»Ich habe endlich mal ›Nein‹ gesagt«). Hingegen sieht Kuchler Systemtheoretiker:innen als kühle Beobachter:innen größerer sozialer Systeme, die sich der immer präziseren Beschreibung der sozialen Welt durch immer elaboriertere Unterschiedsbildungen widmen. Luhmann habe auf Einheitsanmutungen recht allergisch reagiert, schreibt Kuchler. Wie ließe sich nun der Unterschied im Operieren mit Unterschieden zwischen Systemik und Systemtheorie erklären? Kuchler liefert dazu zwei Hypothesen: (1) Es ist die Rolle bzw. der Kontext. Systemiker:innen müssen unterstützende Impulse bereitstellen, die anschlussfähig sind für die Unterstützung suchenden Personen. Systemtheoretiker:innen arbeiten an abstrakten Problemen und sind dabei keinem professionsgebundenen Ethos verpflichtet. (2) Systemiker:innen arbeiten inhaltlich mit kleinen personnahen Beziehungssystemen (bspw. die Familie), Systemtheoretiker:innen hingegen mit sozialen Systemen, die intern nicht aus Beziehungen bestehen, quasi »Nicht-Beziehungssystemen«. Inwiefern nun könnte das Gras grüner sein auf der anderen Seite? Nun, Systemtheorie könnte für Systemik eine Anregung zur theoretischen Selbstreflexion, Systemik für Systemtheorie ein Impuls zur Steigerung der Anschlussfähigkeit (sofern diese denn gesucht wird) sein. Kuchler hofft am Ende ihres Textes, dass er eine gut gestellte Frage ist.“ Soweit das Editorial. Ob diese Unterscheidung trägt oder nicht, ist Gegenstand von Kommentaren und Erwiderungen, zu denen Arnold Retzer und Fritz B. Simon, Stefan Beher, Wolfram Lutterer und Klaus Eidenschink beigetragen haben.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier…

22. Mai 2024
von Tom Levold
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„Jubiläumstagung“ der Systemischen Gesellschaft

Am 21. und 22. Juni 2024 findet die diesjährige Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft statt, auf der das 30jährige Bestehen der SG gefeiert werden soll. Veranstaltungsort ist die Alte Münze in Berlin. Warum die Jubiläumstagung nicht schon im vergangenen Jahr ausgerichtet wurde (der Verband feiert dieses Jahr schon sein 31-jähriges Bestehen), geht nicht aus der Einladung hervor. Zentrales Thema der Tagung ist das Konzept der Resonanz – als Referenten für den Hauptvortrag am 21.6. konnte Hartmut Rosa gewonnen werden, der den Begriff der Resonanz in den Mittelpunkt seiner „Soziologie der Weltbeziehung“ setzt. Auf der Website der Tagung heißt es, dass er mit seinem Vortrag „Die Unverfügbarkeit von Resonanzbeziehungen“ u.a. „die Anschlussfähigkeit zur Systemtheorie sucht“. Darauf kann man gespannt sein, sieht sich Rosa doch eher in der Tradition der Kritischen Theorie von Marx über Adorno, Horkheimer, Benjamin und Fromm bis zu Habermas und Honneth als in Verbindung zur Systemtheorie. Ein zweiter Hauptvortrag von Daniel Dietrich behandelt das Thema „Als Individuum in der Gemeinschaft wachsen – und Mensch bleiben“.

Wer sich von der Jubiliäumstagung eine Auseinandersetzung mit wichtigen Themen erwartet,die in der Geschichte des Verbandes von Bedeutung waren, wird eher enttäuscht werden. Es gibt weder einen Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre und die damit verbundenen Weichenstellungen noch eine kritische Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand systemischen Denkens nach der Aufnahme der Systemischen Therapie in das kassenfinanzierte Versorgungssystem – die Frage nach der Zukunft des systemischen Ansatzes bleibt ebenso ausgespart. In den zahlreichen Workshops geht es darum, „in Resonanz zu aktuellen Themen“ zu gehen, z.B. „Das Ich in Resonanz mit sich selbst?“, „Langeweile ein Zugang zu Selbstresonanz?“, „Resonanzerfahrungen – in Systemen schwingen!“, „Praxis des Traumasensiblen Yoga“, „Schwingen, Singen und Klingen – sich selbst als Resonanzraum erleben“ und viele andere.

Zur Anmeldung geht es hier…

19. Mai 2024
von Tom Levold
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Die Gestaltung von Familienritualen zur Bewältigung von Übergängen im Lebenszyklus

Heute feiert Evan Imber-Black ihren 80. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Sie ist eine wichtige Pionierin der Familientherapie, lehrte lange am Ackerman Institute in New York und hat das systemische Feld schon seit den 1980er Jahren immer wieder mit wichtigen Beiträgen bereichert. Von 1993 bis 1995 war sie Präsidentin der American Family Therapy Academy (AFTA), von 2004 bis 2011 war sie Herausgeberin der Family Process. Hierzulande ist sie schon in den 1980er Jahren vor allem über ihre Arbeiten zur Einbeziehung größerer Systeme in die therapeutische Praxis sowie über den Umgang mit Geheimnissen und über die Bedeutung von Ritualen im Familienzyklus bekannt geworden. Zu letzteren ist im Carl-Auer-Verlag ein Buch erschienen, das mittlerweile in der 6. Auflage auf dem Markt ist. Ein Buchkapitel zum gleichen Thema, das 2005 in einem u.a. von Betty Carter herausgegebenen Band The Expanded Family Life Cycle erschien, ist auch im Internet zu finden. In ihrem Fazit schreibt sie: „Idiosyncratic life cycle events and transitions pose particular difficulties for individuals and families. Lacking available maps that fit their situation and without wider contextual support and confirmation, complex feedback processes may be set in motion, resulting in symptoms and a high level of distress and isolation. Since rituals have the capacity to hold and express differences rather than homogenize them, they are particularly powerful resources for any life cycle transition that differs from the conventional. Therapy needs to include conversations about meaningful rituals. Creatively and sensitively crafted rituals, which both borrow richly from normative life cycle rituals and are simultaneously brand new, facilitate necessary transitions and the expansion of relationship possibilities“. Ein wichtiges Ritual ist natürlich immer die Feier eines Geburtstages, da passen unsere Glückwünsche zum Thema!

16. Mai 2024
von Tom Levold
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Supervision und die Verschiebung des Sagbaren – das Sagbare ermöglichen, das Unsagbare hüten und begrenzen

Der aktuelle Jahrgang der Zeitschrift Organisationsberatung, Supervision, Coaching ist bislang gesellschaftlichen Themen gewidmet, die nicht nur die breite Öffentlichkeit bewegen, sondern zunehmend auch in Beratungskontexten auftauchen oder thematisiert werden, und in bezug auf die sich Berater aller Formate positionieren müssen. Im ersten Heft ging es um die Rolle der Beratung in der gesellschaftlichen Transformation zu mehr Nachhaltigkeit. Das aktuelle Heft ist der „Verschiebung des Sagbaren“ gewidmet, d.h. der Frage, wie und in welchen Kontexten über relevante Themen gesprochen werden kann, darf, soll – und in welcher Weise der Gebrauch von bestimmten Wörtern in diesen Diskursen als legitim oder illegitim markiert wird. Auch das ein Thema, dass zunehmend in Supervisions- und anderen Beratungskontexten Einzug hält – und die Beteiligten vor komplexe Herausforderungen im Umgang miteinander stellt.

In ihrem Editorial schreiben Heidi Möller und Stefan Busse:

„Aktuell scheinen wir vor allem unter Bedingungen der Aushandlung von Faktizität- und Sagbarkeitsbedingungen in Alltag und Gesellschaft zu leben. Es gibt eine Erschütterung und zugleich eine vehemente Verteidigung des Normalen. Der empfundene Normalitätsverlust zieht sich, wie es Stephan Lessenich (2022) unlängst in seinem Buch „Das ist doch nicht normal“ beschreibt, durch unterschiedliche politische Diskursarenen, die sich schneiden, überlappen und gegenseitig befeuern. In den politischen Krisen- und Konfliktdiskursen und den hochdifferenzierten identitätspolitischen und Antidiskriminierungsdiskursen macht sich eine „Verschiebung des Sagbaren“ bemerkbar. Die Beantwortung der metakommunikativen Fragen: „Was liegt vor (was ist wahr)?“, „Was kann ich authentisch noch sagen?“ und „Wie wollen wir miteinander reden?“ verletzt dabei zunehmend die Normen (Normalität) kommunikativer Vernunft.

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