systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

11. August 2020
von Tom Levold
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Dirk Baecker wird 65!

Heute feiert der Soziologe und Systemtheoretiker seinen 65. Geburtstag, systemagazin gratuliert herzlich. In Kassel geboren, studierte nach seinem Abitur in Köln Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris, promovierte und habilitierte dann im Fach Soziologie bei Niklas Luhmann an der Universität Bielefeld. Nach Forschungsaufenthalten an der Stanford University, Johns Hopkins University und an der London School of Economics erhielt er 1996 den Ruf auf den Reinhard-Mohn-Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Wandel an der Universität Witten/Herdecke. Von 2000 bis 2007 hatte er ebendort den Lehrstuhl für Soziologie inne. Zusammen mit Fritz B. Simon und Rudi Wimmer gründete er im Januar 2000 das Management-Zentrum Witten.

Baecker erhielt im Jahr 2006 den Ruf auf den neuen Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an die Zeppelin Universität (ZU), wo er von 2007 bis 2015 forschte und lehrte. 2015 erfolgte der Rückruf an die Universität Witten/Herdecke, wo Baecker nun dem Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management sowie der Fakultät für Kulturreflexion vorsteht. Zudem hält er seit seinem Ruf nach Witten/Herdecke 2015 noch eine Gastprofessur für Kultursoziologie an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

Dirk Baecker hat über eine Vielzahl soziologischer, kulturwissenschaftlicher und politökonomischer Fragestellungen veröffentlicht, sein Werk ist komplex und nicht immer einfach zugänglich. Für die Interview-Sendung Jung & Naiv hat er 2015 mit Tilo Jung über seine Themen und Interessen unter der Maßgabe gesprochen, möglichst keine Fremdwörter zu benutzen. Viel Spaß beim Anschauen – das Gespräch lädt zur weiteren Lektüre und zum Schreiben ein…

6. August 2020
von Tom Levold
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Supervision auf dem Prüfstand. Wirksamkeit, Forschung, Anwendungsfelder, Innovation

Ulrike Mathias-Wiedemann, Diplom-Pädagogin, Psycho- und Leibtherapeutin HPG, Supervisorin und Lehrtherapeutin für Integrative Therapie aus Hamburg, beschäftigt sich in ihrem ausführlichen Rezensionsessay mit einem Forschungsband zu Wirksamkeit, Anwendungsfeldern und Innovationspotential der Supervision, der von Brigitte Schigl, Claudia Höfner, Noah A. Artner, Katja Eichinger, Claudia B. Hoch und Hilarion G. Petzold verfasst wurde und 2020 bei Springer erschienen ist. In ihrer Zusammenfassung heißt es:

„2003 legten Hilarion G. Petzold und Brigitte Schigl und Forscherteam einen ersten Bericht über die internationale Supervisionsforschung vor. 2019 kam ein Anschlussbericht zum Forschungsstand 2003 bis 2018. Beide Publikationen sind Meilensteine, wird mit ihnen doch eine longitudinale supervisorische Wissenschaftsforschung begründet, die die ganze Breite supervisorischer Forschungsaktivitäten dokumentiert. Hierzu ein kommentierender Bericht, der beide Studien berücksichtigt. Ein Problem sind die großen Unterschiede zwischen den angloamerikanischen und europäischen Supervisionsverständnissen, aber auch die Heterogenität der deutschsprachigen Ansätze. Ergebnis beider Forschungsberichte: ,Die Supervision als solche gibt es nicht, nur heterogene Praxelogien!’ Noch gravierender: ,Es gibt nur schwache Wirkungsnachweise für Supervision und für Wirkungen von Supervision auf PatientInnen und KlientInnen fehlen solide Nachweise überhaupt’. Die Forschungslage entzaubert den ,Mythos Supervision’. Wieder wird kritisch ein erheblicher Forschungsbedarf aufgewiesen, wenig sei weitergegangen. Risiken und Negativwirkungen von Supervision (Eberl 2018), wie in einer ersten Dunkelfeldstudie aufgezeigt (Erhardt, Petzold 2011) werden als ,weiterführende Kritik’ dokumentiert. Es werden aber auch die positiven Wirkfaktoren und Potentiale (Galas 2013) dargestellt. Um diese evidenzbasiert zu entwickeln, werden große Anstrengungen erforderlich: Ohne Forschung kein Weiterkommen! Deshalb gehört dieses Werk in die Hände aller, die sich mit Supervision befassen: SupervisorInnen, SupervisandInnen, Auftraggebern, WeiterbildungskandidatInnen in Supervision und Coaching.“

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1. August 2020
von Tom Levold
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Erziehungsberatung – Eine Psychotherapie eigener Art

In einem zweiteiligen Beitrag für die Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe hat Klaus Menne, Soziologe und lange Geschäftsführer der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. die langjährige Auseinandersetzung darüber, ob Erziehungsberatung Psychotherapie sei oder psychotherapeutische Verfahren und Methoden einsetzen dürfe, nachgezeichnet und plädiert dafür, Erziehungsberatung als Psychotherapie eigener Art zu betrachten. Im abstract zum 1. Teil heißt es: „Entstanden aus dem Engagement von Psychiatern einerseits und Jugendfürsorgern andererseits hat Erziehungsberatung sich in ihrer Geschichte der Mittel der Psychotherapie bedient und ihre Praxis zugleich auf Pädagogik bezogen. Erst in den 1980er Jahren hat sich unter dem Eindruck eines möglichen Psychotherapeutengesetzes eine Debatte darüber entwickelt, ob Erziehungsberatung auch heilkundlichen Charakter habe. Die vorliegende Darstellung zeichnet ausgewählte Beiträge dieser Fachdiskussion und wesentliche fachpolitische Entwicklungen nach, die die Erziehungs- und Familienberatung im Ergebnis als eine Psychotherapie eigener Art konturiert haben“. Und im abstract von Teil 2: „Der erste Teil dieses Beitrags hat die durch die Heilpraktikererlasse ausgelöste Debatte um heilkundliche Anteile in der Praxis der Erziehungsberatung nachgezeichnet und das für Erziehungsberatung konstitutive Spannungsfeld zwischen elterlicher Erziehung und kindlicher Entwicklung beschrieben. Vor diesem Hintergrund zeichnet der zweite Teil die Debatte um klassifizierende Diagnosen nach, stellt die einschränkenden Bedingungen einer auf Krankheitsprozesse bezogenen heilkundlichen Psychotherapie dar und arbeitet die methodische Eigenständigkeit einer an der Entwicklung des Kindes in seiner Familie orientierten Psychotherapie in der Erziehungsberatung heraus.“

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31. Juli 2020
von Tom Levold
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Bernd Roedel wird 70!

(Foto: Tom Levold)

Heute feiert Bernd Roedel seinen 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Bernd Roedel gehört zur kleiner werdenden Gruppe derer, die sich frühzeitig für die Familientherapie erwärmten und an der Entwicklung der Systemischen Therapie von Anfang an beteiligt waren. Gemeinsam mit Jürgen Linke, Klaus Lübke, Dörte Foertsch und anderen gründete er 1983 das Berliner Institut für Familientherapie (BIF), 10 Jahre später, 1993, wechselte er der Liebe wegen nach Stuttgart und gründete dort mit Ingrid Kellermann das Stuttgarter Institut für Familientherapie, das mit einem ähnlichen (und einmaligen) Konzept wie das BIF arbeitet, nämlich mit einem Life-Supervisionskonzept, bei dem die Weiterbildungsteilnehmer von Anfang an unter Life-Bedingungen mit Klienten arbeiten.

Er hat über Genogrammarbeit ein nach wie vor aktuelles Buch veröffentlicht, ansonsten sucht er eher nicht die große Bühne, was man bedauern muss, wenn man einen seiner so humorvollen wie brillianten Vorträge einmal erleben durfte. Auch in Stuttgart lässt sich nicht verleugnen, dass er ein Berliner Urgestein ist. Dass er im Zentrum des Schwabenlandes trotzdem verehrt wird, spricht für ihn – und muss man den Schwaben hoch anrechnen. Gemeinsam mit dem schwäbischen Urgestein Ingrid Kellermann hat er in ihrem schönen Haus auf den Stuttgarter Höhen eine wunderbare Stätte der Begegnung und Gastfreundschaft geschaffen, die von Anbeginn eine besondere Atmosphäre für alle Weiterbildungsteilnehmer wie Gastdozenten bereitgestellt hat. Auch privat ist Bernd ein wunderbarer Gastgeber, Koch und Freund – eine Kombination, die ich seit Jahren genießen darf. Im Herbst wird er seinen offiziellen Abschied vom Institut feiern – zu hoffen bleibt, dass Klienten, Weiterbildungsteilnehmer und die vielen KollegInnen im systemischen Feld auch danach noch von ihm profitieren werden.

Lieber Bernd, zum runden Geburtstag alles Gute, Gesundheit, viele schöne Momente und ein Prosit auf das Leben jenseits der 70 – verbunden mit dem einen oder anderen vollen Glas, das zu den vielfältigen Anlässen, die sich uns bieten werden, geleert werden sollte.

29. Juli 2020
von Tom Levold
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Geburtenziffer 2019 auf 1,54 Kinder je Frau gesunken

WIESBADEN – Die Zahl der geborenen Kinder in Deutschland war im Jahr 2019 mit rund 778 100 Babys um 9 400 niedriger als im Jahr 2018. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, lag die zusammengefasste Geburtenziffer im Jahr 2019 bei 1,54 Kindern je Frau. Ein Jahr zuvor betrug sie noch 1,57 Kinder je Frau.

Bremen und Niedersachsen mit höchster Geburtenziffer

Die Geburtenziffer nahm in 14 von insgesamt 16 Bundesländern ab. Lediglich in Bayern und Bremen blieb sie unverändert auf dem Vorjahresniveau. In Bremen und Niedersachsen war die Geburtenhäufigkeit mit 1,60 Kindern je Frau am höchsten. Berlin war dagegen mit 1,41 Kindern je Frau das Land mit der niedrigsten Geburtenziffer.

Bei den Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit war 2019 die Geburtenziffer mit 1,43 Kindern je Frau nur geringfügig niedriger als 2018 (1,45 Kinder je Frau). Bei den Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit sank sie von 2,12 auf 2,06 Kinder je Frau. 

Frauen bei Geburt ihres ersten Kindesimmer älter

Frauen bekommen ihr erstes Kind immer später im Leben. Im Jahr 2019 waren Mütter bei der Erstgeburt im Durchschnitt 30,1 Jahre alt. Zehn Jahre zuvor lag das Durchschnittsalter bei Geburt des ersten Kindes noch bei 28,8 Jahren. Bei der Geburt des zweiten Kindes waren Mütter im Jahr 2019 durchschnittlich 32,2 Jahre und beim dritten Kind 33,2 Jahre alt. Im Vergleich der Bundesländer waren Frauen in Hamburg bei der Geburt Ihres ersten Kindes mit 31,2 Jahren am ältesten, in Sachsen-Anhalt dagegen mit 28,9 Jahren am jüngsten.

Im EU-Vergleich lag Deutschland 2018 im Mittelfeld

Nach Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) war die zusammengefasste Geburtenziffer in Deutschland im Jahr 2018 mit 1,57 Kindern je Frau etwas höher als im EU-Durchschnitt (1,55 Kinder je Frau). Deutschland lag damit in der EU auf dem 13. Platz. Die höchste Geburtenziffer wurde mit 1,88 Kindern je Frau in Frankreich und die niedrigste mit 1,23 Kindern je Frau auf Malta gemessen.

Nach dem Alter beim ersten Kind gehörten die Mütter in Deutschland 2018 im europäischen Vergleich zum älteren Drittel. Nach der Berechnungsmethode von Eurostat belegte Deutschland mit durchschnittlich 29,7 Jahren den 9. Platz. Am ältesten waren die Frauen bei der ersten Geburt mit 31,2 Jahren in Italien, am jüngsten mit 26,2 Jahren in Bulgarien.

(Quelle: DeStatis.de)

16. Juli 2020
von Tom Levold
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Mikrozensus 2019: 1,1 Millionen Familien weniger als vor 20 Jahren

WIESBADEN – Im Jahr 2019 gab es in Deutschland 8,2 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) nach Ergebnissen des Mikrozensus weiter mitteilt, waren das genauso viele Familien wie 2009 – also zehn Jahre zuvor. Im Vergleich zu 1999 – also 20 Jahre zuvor – waren es 1,1 Millionen Familien weniger. In allen Familien mit minderjährigen Kindern lebten im Jahr 2019 insgesamt 29,7 Millionen Personen. Dazu zählen die Elternteile der Kinder, etwaige Geschwisterkinder (auch über 18 Jahre) und die minderjährigen Kinder selbst.

Zahl der Familien mit verheirateten Eltern seit 1999 um 22 % gesunken 

Von allen Familien waren knapp ein Fünftel (19 %) Familien von Alleinerziehenden, also Familien mit einem Elternteil im Haushalt (1,5 Millionen Familien). Demgegenüber gab es 6,7 Millionen Paare mit minderjährigen Kindern in Deutschland (81 % der Familien), davon etwa 5,7 Millionen Ehepaare (70 %) und 940 000 unverheiratete Paare (11 %) mit minderjährigen Kindern. 

Vor allem die Zahl der Ehepaare ist im Vergleich zu 1999 um 1,6 Millionen gesunken (-22 %), die Zahl der unverheirateten Paare hat sich hingegen um 77 % von 530 000 auf 940 000 erhöht. Die Zahl der Alleinerziehenden stieg nur leicht von knapp 1,4 Millionen im Jahr 1999 auf über 1,5 Millionen (+9 %) im Jahr 2019. 

Methodische Hinweise

Der Mikrozensus ermittelt die Form des Zusammenlebens innerhalb des Haushaltes. Als Familien gelten dort alle Eltern-Kind-Gemeinschaften innerhalb des Haushalts; hier zusätzlich abgegrenzt mit mindestens einem minderjährigen Kind im Haushalt. Als ledige Kinder gelten minder- oder volljährige Personen, die mit ihren Eltern im Haushalt zusammenleben und keine Partnerin beziehungsweise keinen Partner oder eigene Kinder haben.

(Quelle: Statistisches Bundesamt)

12. Juli 2020
von Tom Levold
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„Die Ordnung des Zerfalls“

Für Heft 2/2020 des Open-Access-Journals Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung“ (SuN), das seit Juli 2015 vom Arbeitskreis Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsforschung am Institut für Soziologie der Universität Münster herausgegeben wird, um soziologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven in der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung zu bündeln und zu fördern, hat Carsten Kaven einen interessanten Artikel über Die Ordnung des Zerfalls. Verlaufsformen im Angesicht ökologischer Krisen veröffentlicht. Darin beschäftigt er sich mit unterschiedlichen soziologischen Konzepten hinsichtlich der Dynamik von Katastrophen und gesellschaftlichen Zerfallsprozessen, eine Fragestellung, die angesichts der gegenwärtigen Weltlage nicht allzu fern liegt.

In der Zusammenfassung heißt es: „Die Erosion sozialer Strukturen betrifft nicht nur Länder des globalen Südens, wo seit langem über ,failed states’ berichtet und geforscht wird. Ökologische Krisen machen an keinen Grenzen halt, Klimawandel und die Folgen des Artensterbens treffen auch Gesellschaften des globalen Nordens. Dürren, Extremwetterereignisse und Überschwemmungen setzen auch hier stabil geglaubte Infrastrukturen immer mehr unter Druck. Durch ökologische Krisen hervorgerufene Migrati- onsbewegungen treten an die Stelle lange eingeübter Bedrohungsszenarien zwischen Nationalstaaten und führen zu ebenso rigiden Grenzsicherungen. Soziologische Theorie war von jeher an Prozessen des Aufbaus und des Erhalts sozialer Ordnung inte- ressiert. Die Folgen des Klimawandels regen an, die Perspektive zu wechseln und den möglichen Zerfall sozialer Ordnung in den Blick zu nehmen. Welchen Pfad beschreiten Gesellschaften, die so schwer von ökologischen Krisen getroffen werden, dass grundlegende und als stabil geglaubte Funktionen in Frage gestellt werden? Ein Prozessmodell soll helfen, dieses Terrain zu erkunden.“

Der vollständige Text kann hier gelesen werden…

10. Juli 2020
von Tom Levold
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Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie? – Anmerkungen zu blinden Flecken im Narrativ der Kybernetik

Bereits 2018 ist im Netz bei vordenker.de ein interessanter Text von Joachim Paul, dem Herausgeber der website, über die seltsame und irreführende, um nicht zu sagen, ahnungslose, Rezeption der Kybernetik in gewissen Teilen der philosophisch interessierten Öffentlichkeit erschienen (u. a. durch Richard David Precht).

Der Text beginnt mit folgender Passage:

„Das Menschenbild des Silicon Valley ist das der Kybernetik, nicht das der Aufklärung“, äußerte der Philosoph Richard David Precht am 16.12.2017 in einem Interview des Magazins FOCUS anlässlich einer Buchveröffentlichung. Auf die Rückfrage des Interviewers, was das denn bedeute, erläuterte er, dass „die Aufklärung“ … „den Menschen als Individuum“ betrachte, sie seinen Wunsch des Gebrauchs der Freiheit respektiere und ihn auffordere, „die eigene Urteilskraft zu schärfen, damit er als mündiger Bürger zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen“ könne. Allerdings, so führte Precht weiter aus, müsse „dieser Bürger natürlich auch eine Struktur in der Gesellschaft vorfinden, die es ihm“ ermögliche, „sich mit seinen individuellen Vorstellungen an ihr zu beteiligen.“

Grundlegend anders sei hingegen das Menschenbild der Kybernetik. Es gehe laut Precht davon aus, „dass sich der Mensch seiner Umwelt anpasst.“ … „Was Lust auslöst, das findet der Mensch gut, und was Unlust auslöst, findet er schlecht. Wenn ich also das Verhalten der Menschen verändern will, dann muss ich – wie bei Tierversuchen im Labor – einfach ihre Umweltbedingungen verändern, indem gezielt andere Lust- bzw. Erfolgsreize gesetzt werden, gewinne ich Einfluss auf das Verhalten der Leute, ohne Rücksicht auf Vorstellungen von individueller Freiheit, Urteilskraft oder Mündigkeit zu nehmen“, so die Ausführungen Prechts.[1]

Der Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster, damals Leiter eines führenden Kybernetik-Instituts, des Biological Computer Lab (BCL) an der University of Illinois, Urbana-Champaign, äußerte sich in seinem Grundsatzreferat „Die Verantwortung des Experten“ auf der Herbsttagung der American Society for Cybernetics am 19.12.1971 wie folgt:

„Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungs-bemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. … Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zulässt, auf die die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind, und die folglich vom Schüler auswendig gelernt werden müssen. Ich möchte diese Fragen als „illegitime Fragen“ bezeichnen.“[2]

Schon beim bloßen Überfliegen der beiden Aussagen fällt auf, dass hier etwas ganz und gar nicht passen will. Der Philosoph deutet Kybernetik als Anpassung und projiziert sie sogleich als Menschenbild auf das Silicon Valley, der Kybernetiker hingegen spricht sich für Unberechenbarkeit und Kreativität aus, mehr noch, später entwickelt er im Nachgang zum kategorischen Imperativ des Aufklärers Kant einen (kybern-)ethischen Imperativ:

„Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“

In seinem überaus lesenswerten Text geht es um die Ideologie des Silicon Valley und die Nutzung der Kybernetik als Kampfbegriff in der Debatte um Digitalisierung und Bildung seitens der Valley-Gegner, um die fälschliche Verbindung von Kybernetik und Behaviorismus und die Denunzierung der Kybernetik als Kontroll- und Kriegstechnologie – alles unter Ignoranz bzw. Verleugnung der Hintergründe und inhaltlichen Positionen der Kybernetik 2. Ordnung, die in diesem Artikel noch einmal gut in ihrer historischen Entwicklung herausgearbeitet werden.

Der vollständige Text ist hier zu lesen…

4. Juli 2020
von Tom Levold
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Gregory Bateson (9.5.1904 – 4.7.1980)

Heute jährt sich Gregory Batesons Todestag zum 40. Mal, eine gute Gelegenheit, noch einmal sein Werk in Erinnerung zu rufen. Die meisten seiner Veröffentlichungen waren keine Monografien, sondern Aufsätze, von denen viele im Sammelband Steps to an Ecology of Mind erschienen sind, der 1972 von Ballantine Books veröffentlicht wurde. 1981 erschien die von Hans Günter Holl übersetzte deutsche Ausgabe unter dem Titel Ökologie des Geistes im Suhrkamp-Verlag.

In Heft 2/2008 der Zeitschrift Kontext erschien in der Rubrik Klassiker wieder gelesen eine Doppelrezension von Kurt Ludewig und Tom Levold, die hier gelesen und heruntergeladen werden kann…

Das Vorwort zur Originalausgabe 1981 von Helm Stierlin:

„Ich halte Gregory Bateson für einen der wichtigsten Denker unseres Jahrhunderts. Deutschsprachige Leser kennen ihn in erster Linie als Schöpfer des Begriffes ‚double bind‘, den ich mit ‚Beziehungsfalle‘ übersetzt habe. Ein ‚double bind‘ ist Folge und Ausdruck einer zwischenmenschlichen Verstrickung, die durch eine widersprüchliche – aber in ihrer Widersprüchlichkeit schwer durchschaubare – Kommunikation ermöglicht wird. Mit der Beschreibung dieser Verstrickung ermöglichte Bateson ein neues Verständnis der gemeinhin als Schizophrenie bezeichneten psychiatrischen Störung – obschon (oder weil) Bateson seither deutlich gemacht hat, dass double binds nicht spezifisch für solche Störungen sind, sie vielmehr auch bei künstlerischer Kreativität, beim Humor, ja selbst beim Vorgehen vieler erfolgreicher Psychotherapeuten eine Rolle spielen. Dabei ist der ‚double bind‘ nur ein – wenn auch wichtiger – Teil seines Beitrages zu einem neuen psychiatrischen und psychotherapeutischen Verständnis. Die familientherapeutische Arbeit unseres Heidelberger Teams wie die vieler anderer Kollegen im Inland und westlichen Ausland wäre undenkbar ohne die Ideen und Anstöße, die Gregory Bateson seit etwa 40 Jahren gegeben hat.

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2. Juli 2020
von Tom Levold
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Der Familienmythos und die romantische Liebe in der condition postmoderne des Wissens

(Foto: Tom Levold)

systemagazin gratuliert Reinhard Sieder herzlich zum heutigen 70sten Geburtstag! Er ist einer der herausragenden Historiker unserer Zeit, der seit den 70er Jahren die Lebensverhältnisse der Menschen, ihre intimen und generationalen Beziehungen in ihren historischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Einbettungen und Bezügen auf ebenso scharfsinnige wie elegante Weise untersucht und beschrieben hat – ein wichtiger Hintergrund auch für die sich fortlaufend verändernde psychotherapeutische und beraterische Praxis, der leider von dieser nur selten ausreichend in ihrer Selbstbeschreibung mitbedacht und -reflektiert wird.

Ein Beispiel für seine gründlichen und luziden Analysen ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags über den Familienmythos und die romantische Liebe in der condition postmoderne, den er am 19. September 2009 auf dem 5. Hessischen Psychotherapeutentag mit dem Thema „Sehnsucht Familie in der Postmoderne“ gehalten hat – und der 2010 im von Jürgen Hardt u.a. herausgegebenen Band „Sehnsucht Familie in der Postmoderne“ erschienen ist.

28. Juni 2020
von Tom Levold
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Psychotherapeutische Diagnostik aus systemischer Perspektive

In der aktuellen Ausgabe von Psychotherapie Forum ist ein Artikel von Elisabeth Wagner über Diagnostik aus systemischer Perspektive in open access zu lesen. Im Abstract heißt es: „Am Anfang des Beitrages wird die traditionell diagnosekritische Haltung der systemischen Therapie dargestellt und theoretisch begründet: sowohl aus der interaktionellen Perspektive der frühen Familientherapie, wie auch aus konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive wird der Anspruch, intrapsychische Störungen objektiv zu erfassen, in Frage gestellt. Der diagnostische Fokus systemischer (Kurz)Therapie liegt dementsprechend auf der Wirklichkeitskonstruktion der_Klientinnen und Klienten, deren Zielen und Ressourcen und soll eine darauf differenziert abgestimmte therapeutische Kooperation ermöglichen. In weiterer Folge wird argumentiert, dass trotz aller berechtigter „Diagnoseskepsis“ nicht zuletzt die Ausweitung des Interventionsrepertoires in der systemischen Therapie eine differenziertere Erfassung intrapsychischer Prozesse als Grundlage verantwortungsvollen therapeutischen Handelns erforderlich macht. Diese wird aus einer synergetischen Perspektive dargestellt und der Klassifikation psychischer Störungen nach ICD und DSM gegenübergestellt. Abschließend werden die Dimensionen eines professionellen systemischen Fallverständnisses zusammenfassend dargestellt.“

Zum vollständigen Artikel geht es hier…