
Der nachfolgende Text von Jürgen Hargens ist schon älteren Datums, er stammt von 1991 und wurde als Positionspapier zur Vorbereitung einer Plenardiskussion im Rahmen einer geplanten Tagung über „Das Reflektierende Team“ verfasst, die vom 6. bis 7. September 1991 in der kroatischen Stadt Varazdin stattfinden sollte. Die Tagung fand dann allerdings wegen der politischen Umstände zu Beginn des Kroatienkrieges nicht statt. Der Text bietet einen Überblick über die Entwicklung des systemischen Ansatzes zur damaligen Zeit, ist bislang nicht veröffentlicht worden und auch heute noch mit Gewinn zu lesen.
Jürgen Hargens, Meyn: Einige Anmerkungen zum systemischen Paradigma
Eine persönliche Vorbemerkung
Zuallererst möchte ich hervorheben, dass ich diese Anmerkungen aus meiner sehr persönlichen Sicht verfasse ‑ wobei ich denke, dass mir mein Kontext sehr zu gute kommt: Lebenspartner, Familienvater, Hausmann, dazu auch klinischer Psychologe und Psychotherapeut, Zeitschriftenherausgeber, Lehrbeauftragter an der Universität, Wissenschaftsjournalist ‑ das sind einige Kontextmarkierungen, die darauf verweisen, welche unterschiedlichen Einflüsse in meine Beobachtungen/Beschreibungen eingehen.
Und ein zweites: ich lebe und arbeite in Meyn, einem kleinen Dorf im nördlichsten Norddeutschland, unmittelbar an der dänischen Grenze ‑ kein Flugplatz, keine große Bahnstation, kein Hafen. Also weit abgeschieden, könnte man meinen oder, wie es ein US‑Kollege einmal formulierte: „in the middle of a corn field“. Weit gefehlt, wie ich aus meiner Sicht („aus Meyner Sicht“) darauf sehe: „in the middle of the center“ ‑ der Mittelpunkt (m)einer Welt, denn Kugeln und Kreise haben weder Anfang noch Ende, so dass es darauf ankommt. welche Bedeutung ich selber Beobachtungen, Gegebenheiten (Wahrnehmungen) verleihe oder, anders formuliert, wie ich meine Welt konstruiere.
Wahrheit ‑ Wirklichkeit ‑ System ‑ Konstrukt
Und damit habe ich bereits einen für mich wichtigen Aspekt systemisch‑konstruktivistischer Erkenntnis beschrieben: Kontextabhängigkeit, BeobachterInnenabhängigkeit, die beide die in den Wissenschaften so sehr betonte Objektivität der Erkenntnis infrage stellen.
Ein Bild, das wir ‑ mein Kollege Uwe Grau und ich ‑ benutzen, um unseren „KundInnen“ unseren Ansatz zu beschreiben, kann hier nützlich sein:

Abb. 1: Metapher „konstruktivistische Beratung
Je nachdem, wie – mit welchem Fokus ‑ ich diese Treppe betrachte, erscheint sie als entweder aufsteigend oder absteigend. Bei einer Veränderung meines Fokus erscheint die Treppe sowohl aufsteigend als auch absteigend. Eine Auseinandersetzung über die Frage, welches die „richtige“ Auffassung sei, erübrigt sich ‑ diese Frage lässt sich „objektiv“ nicht beantworten – allerdings lässt sich ein Konsens erzielen, welche Perspektive unter bestimmten Bedingungen für die BetrachterInnen nützlich sein kann.
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