Im Hinblick auf die Konsequenzen, die die Anerkennung der Systemischen Therapie für den Bereich der Aus- und Weiterbildung hat, stellt sich schon länger die Frage nach der Zukunft der Systemischen Therapie als multiprofessionelles und transdisziplinäres Projekt. Diese Frage ist auch der Ausgangspunkt der aktuellen Ausgabe des Kontext.
Im Editorial heißt es: „Im Jahre 2008 wurde die Systemische Therapie nach langem Widerstand vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie endlich als wissenschaftlich begründetes Verfahren anerkannt, eine Entscheidung, die längst überfällig war. Nicht lange danach stellte sich als nächste Herausforderung für die systemischen Verbände, ob man nach der wissenschaftlichen Anerkennung nun auch die Beantragung der sozialrechtlichen Anerkennung folgen lassen sollte, ohne die eine Finanzierung Systemischer Therapie durch die Krankenkassen nicht möglich ist.
2011 hatten wir daher für ein Kontext-Heft unter dem Stichwort »Systemische Therapie 2020?« Kolleginnen und Kollegen aus dem systemischen Feld nach ihren Einschätzungen und Prognosen gefragt, die sie mit einer solchen berufspolitischen Entscheidung verbinden, und nach den Konsequenzen, die diese im Erfolgsfalle für den systemischen Ansatz und die systemischen Praktiker/innen haben würde – wie zu erwarten, gab es ein Spektrum von skeptischen bis hin zu euphorischen Stimmen.
Der Erfolgsfall ist mittlerweile eingetreten. Es hat in der Tat fast zehn Jahre gedauert: Ende 2018 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in dem die Vertreter der Krankenkassen und der Leistungserbringer (u. a. Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft) festlegen, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Einzelnen übernommen werden, entschieden, dass die Systemische Therapie als Kassenleistung abgerechnet werden kann. Ende 2019 sind dazu auch die Psychotherapie-Richtlinien verabschiedet worden, die mittlerweile Gesetzeskraft haben. Auch wenn sich am – diesen Richtlinien zugrundeliegenden – Konzept der seelischen Krankheit bzw. Störung mit Krankheitswert nichts geändert hat, wird immerhin unter anderem das Mehrpersonensetting als zusätzliches Psychotherapiesetting aufgeführt und – ganz neu – konzediert, dass »krankhafte Störungen« neben seelischen und körperlichen auch durch »soziale Faktoren verursacht werden (…) können« (!). Auch bei einer systemischen Therapie muss also zukünftig eine »Störung mit Krankheitswert« nach ICD bei einem individuellen Patienten diagnostiziert werden, selbst wenn es um die Therapie eines Mehrpersonensystems geht. Die Frage nach dem zukünftigen Stellenwert systemischer Epistemologie für das therapeutische Handeln im Kontext der Richtlinien-Psychotherapie drängt sich damit auf.“
Die Herausgeber von Kontext baten namhafte KollegInnen aus dem systemischen Feld um die Beantwortung folgender Fragen:
- Mit welchen theoretischen Modellen, Konzepten bzw. Ansätzen sollten sich systemische Therapeut(inn)en verstärkt auseinandersetzen, welche werden an Bedeutung verlieren? Und warum?
- Welche Konsequenzen ergeben sich aus der sozialrechtlichen Anerkennung für die Aus- und Weiterbildung in Systemischer Therapie? Was geht verloren, was wird gewonnen für die Systemische Therapie als multiprofessionelles und transdisziplinäres Konzept?
- Wie wird systemisches Arbeiten in einer Kassenpraxis Deiner/Ihrer Meinung nach aussehen (Indikation, Diagnostik, Arbeitssetting, Evaluation etc.) und worin wird sie sich von der bestehenden Praxis unterscheiden?
- Welche Änderungen sind für das Gesundheitssystem und die psychosoziale Versorgung außerhalb des Gesundheitswesens zu erwarten? Sehen Sie/siehst du Konsequenzen für die Felder jenseits der psychotherapeutischen Versorgung und wenn ja, welche?
- Welche Aufgaben kommen in diesem Prozess auf die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und die Systemische Gesellschaft (SG) zu? Welche Inhalte, Positionen und Aktivitäten müssen in nächster und mittlerer Zukunft aktiv vorangetrieben werden?
- Welche Vision haben Sie/hast du für eine »Systemische Therapie 2030«?
Die Antworten von Ulrike Borst, Reinert Hanswille, Enno Hermans, Johannes Herwig-Lempp, Tanja Kuhnert, Jochen Leucht, Hans Lieb, Matthias Ochs, Cornelia Oestereich, Arist von Schlippe, Fritz B. Simon, Stefan Schmidt, Kirsten von Sydow, Andreas Wahlster und Renate Weihe-Scheidt sind im aktuellen Heft zu finden. Alle bibliografischen Angaben des Heftes finden Sie hier…