Vom Muster zur Regel
Eine der vielen Erfahrungswerte der Beratung lautet ja bekanntlich: In den letzten zehn Minuten wird es regelmäßig eng (und manchmal hektisch), weil die Klient/inn/en unter dem Druck, dass die Sitzung dem Ende zugeht, noch einmal „mit ganz entscheidenden Informationen rüberkommen“.
Heute ist es acht Minuten vor Sitzungsschluss, ich will gerade fragen, wann wir uns wiedersehen, da holt Frau G. ihr Handy aus der Tasche und sagt: „Ich habe mir das extra aufgeschrieben. Da ist mir nämlich eine Regel in unserer Familie klargeworden. Moment, ich hab’s gleich …“ Sie scrollt auf ihrem Handy.
Oha, denke ich, es wird noch mal grundsätzlich … wie kriege ich das dann wohl wieder „rund“?
„Hier“, sagt nun Frau G. „Das war genau am 28. August. Ich glaube nämlich, dass ich jetzt weiß, warum es bei uns immer so anstrengend ist. Ich hab mir aufgeschrieben: Bei uns kann es nicht entspannt zugehen. Irgendjemand hat immer schlechte Laune, und das wechselt regelmäßig.„
Damit knüpft Frau G. offenbar noch einmal an die heutige Dikussion an, in der es um den gemeinsamen Frankreichurlaub in den Sommerferien ging.
Und Frankreichurlaub heißt: Das Ehepaar G. plus zwei pubertierende Jugendliche. Also eine „harte Prüfung“ in Sachen gute Laune.
Herr G., der aufmerksam zugehört hat, hatte vorher in der Rückschau seinen Wunsch geäußert, dass „ihr mehr Verantwortung für eure Bedürfnisse übernehmt. Ich muss alles organisieren, und wenn ich dann Ansagen mache, knurrt ihr rum und ich kann es euch nicht recht machen.“
Mit „ihr“ meinte er seine anwesende Frau und seine nicht anwesenden Kinder.
Frau G. hatte genervt reagiert: „Das hatten wir doch schon so oft, Helmut. Ich habe eben einfach eine andere Vorstellung von Urlaub als du, bei mir muss nicht alles durchgetaktet sein auf die Minute, das stresst mich total – und die Kinder auch.“
Im Laufe des Gesprächs kamen die Eheleute nicht wirklich zueinander und die Uhr tickte dem Sitzungsende entgegen.
„Das ist interessant“, antworte ich jetzt Frau G. „Ist das eine ausdrückliche Familienregel bei Ihnen oder eher ein Muster, das Sie beobachtet haben?“
„Das ist so eine Art Muster: Wir können einfach nicht alle gleichzeitig gut drauf und zufrieden sein. Irgendjemand nölt immer rum.“
Plötzlich lacht Herr G. auf und sagt: „Mir fällt was ein, Eva. Wäre es nicht spaßig, wenn wir das Muster wirklich zur Familienregel erheben: Eine oder einer muss immer schlechte Laune haben, sonst ist der Familienfrieden gefährdet. Das gehört eben zu uns dazu.“
„Super Idee“, ergänze ich und denke mir: Nennen die Fachleute das nicht „Musterverschreibung“? Und: Hupps, ich muss ja gar nicht so viel arbeiten, das läuft ja ganz von alleine …
„Witzig wäre es ja, wenn Sie es gar nicht zur offiziellen Familienregel erheben, sondern einfach davon ausgehen, dass es diese Regel bei Ihnen gibt. Jeden Tag muss jemand schlecht drauf sein, sonst ist die Regel gebrochen. Aber man weiß vorher nicht, wer heute dran ist.“
Ist es nicht sowieso so in unserer heutigen Welt: Irgendjemand muss immer schlecht drauf sein, es geht einfach nicht, dass alle gleichzeitig happy sind.
Beim Rausgehen – pünktlich mit Terminverabredung! – sagt Herr G.: „Das hat mir gut gefallen heute …“
„Mir auch“, sage ich und erwidere seinen kräftigen Händedruck.
Irgendwie scheint es leichter zu werden, wenn man sich und anderen erlaubt, auch mal schlecht drauf sein zu dürfen.
Hartwig Hansen, Hamburg