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systemagazin Adventskalender – Muss überall draufstehen, was drin ist?

| 9 Kommentare

Peter Fuchs, Bad Sassendorf: Muss überall draufstehen, was drin ist?

Die  Frage, die im Titel formuliert ist, ist seltsam vieldeutig. Sie liefert sogar ein Exempel mit, denn in diesem‚Adventskalender‘ steht nicht drin, was er verspricht: Weihnachtliches, Besinnliches, gar Christliches. Vielleicht ließe sich ein passenderes Wort wie ‚systemlich‘ erfinden, das man mit ‚traulich‘ verknüpfen könnte, mit ‚behaglicher Behaustheit‘. Eine Tagung, an der ich teilnahm, verhieß (glaube ich) Schokoladisches: ‚Systemisch – praktisch – gut‘. Ein bisschen heimelig klingt aber auch die ‚Systemische Trauerfloristik‘. Was meines Wissens nur noch fehlt, ist systemisches Weihnachten.

Aber Spaß beiseite, tatsächlich habe ich eine Aversion gegen das Systemische, und das nicht nur, weil man ihm unterstellen kann, dass viele Leute ‚systemisch‘ haben wie andere Leute ‚Rücken‘ oder endlos schreiende Kleinstkinder ‚Baby‘. Der Grund für meine Abneigung ist einfach, nämlich, dass das Systemische kein Begriff und deshalb in gewisser Weise vogelfrei zu sein scheint. Vielleicht liegt die Ursache darin, dass man es mit einer konventionalisierten Metapher zu tun hat, die im Dienst von Reflexionsblockaden bzw.Kommunikationssperren steht – ebenso wie die lexikalisierte Metapher der Praxis.

Wenn ich das so sage, müsste ich aber auch ein Angebot unterbreiten, wie vielleicht der Unbegriff des Systemischen begrifflicher werden könnte. Für mich gibt es in diesemZusammenhang einen Weg, den ich selbst immer wieder begehe: die Referenz auf das, was in der Systemtheorie (jedoch nicht nur dort) Limitationalität genannt wird. Die Methode ist einfach. Man muss sich nur daran gewöhnen, die Frage nach dem Systemischen via negationis zustellen – etwa so:

Was ist das Systemische nicht?

Damit wird ein Negationshorizont aufgespannt. Trivial wäre eine Antwort wie: Es ist kein Lebkuchen, kein süßer Glockenklang, kein Christkind in ‚Präsepio‘. Nichttrivial ist dagegen:

Das Systemische ist kein System.

Weshalb nicht? Es findet sich keine Grenze, bezeichnender Weise auch nicht für Praxis. Was bleibt, sind Anmutungen und Eklektizismen, derenFunktion darin besteht, Vagheit aufrechtzuerhalten. Das ist nicht negativ gemeint. Jene Antwort formuliert nur eine deutlich undeutliche Paradoxie, die man auch als ‚Sprunggelegenheit‘ auffassen kann, die Limitationsfrage zu erweitern:

Was wäre das Systemische dann, wenn es nicht als System beobachtet werden könnte?

Na ja, so adventlich ist die Frage nicht. Aber vielleicht kommt sie an.

9 Kommentare

  1. Martin Rufer sagt:

    Lieber Herr Fuchs
    …. wenn auch etwas verspätet, Ihre letzte Frage nach dem Sinn des Systemischen aufnehmend: wäre die soeben erfolgte sozialrechtliche Anerkennung der ST als Therapieverfahren (auf gleicher Augenhöhe wie andere) dann nicht absurd?

    • Peter Fuchs sagt:

      Lieber Herr Rufer,

      unumwunden: im Kern ja! Aber ich gebe gern zu, dass ich nicht einschätzen kann, was in der Evolution daraus wird. Persönlich kann und mag ich mir aber nicht vorstellen, dass sich sich die Kernkompetenz der Psychotherapie (Umgang mit Unschärfe, funktionional wichtiger Vagheit, mit der der befristeten Bestimmung des Unbestimmbaren …) so problemlos extrahieren lässt.

      Herzliche Grüße

      Peter Fuchs

  2. Wolfgang Loth sagt:

    Lieber Herr Fuchs,
    wenn Sie erlauben, würde ich gerne etwas zur Ehrenrettung des Begriffs „systemisch“ beisteuern, auch wenn ich, möglicherweise mit Ihnen d’accord, dessen pseudosinnige Allgemeinvermarktung mit Unbehagen betrachte. Die Herangehensweise an ein Verständnis von „systemisch“ via Ausschlussannahmen hat etwas für sich, doch komme ich damit nicht weiter als bis zu der (möglicherweise) vergleichbaren Erkenntnis, dass „freiheitlich“ eben auch etwas anderes ist als „frei“. Kurzum, ich möchte gerne versuchen zu erkunden, wohin ich denn komme, wenn ich „systemisch“ als eine sinnvolle Unterscheidung zu „nicht-systemisch“ betrachte. Und da bevorzuge ich die Idee, dass systemisch dann als angemessene Beschreibung gelten soll, wenn ich Vorgaben, die sich auf Entitäten als „an sich gegeben“ beziehen, danach befrage, in welchem Kontext, in welchem Zusammenhang, diese als Entität genommene Beschreibung als sinnvoll erachtet wird. Ich meine dann Relativieren nicht als Ausgehen von Beliebigkeit, sondern als Ausgehen von Sinnentfaltung im Zusammenhang. Das kann sehr unterschiedlich ausfallen, eben nicht als gegebene, einseitig definierbare Angelegenheit. Auch der Begriff „Zusammenhang“ wäre für mich daher nicht sakrosankt – insbesondere, wenn nicht geklärt ist, wer mit welchem Recht, auf der Grundlage welchen Interesses den „Zusammenhang“ als genau diesen definiert – und nicht per se „Zusammenhänge“ als hypothesenleitenden Plural annimmt. Systemisch wäre also für mich eine kritische Herangehensweise an die jeweils zur Debatte stehenden Themen. Insofern fühle ich mich Ihrer Kritik am Gebrauch des Begriffs „systemisch“ verbunden, auch wenn ich (womöglich) zu anderen Schlüssen komme als Sie.
    Der Begriff ist insofern aus meiner Sicht – im Sinne der Anklage – „unschuldig“, seine Verwendung ist es nicht in jedem Fall. Daher bevorzuge ich eine kritische Auseinandersetzung mit der jeweils spezifischen Nutzung des Begriffs anstelle einer allgemeinen Ablehnung. So wie es in der praktischen Arbeit in meiner Profession auch nicht darum geht, allgemeine Normen zu kommentieren, sondern deren Wirkung (als Kontext, als Thema, als Wollen, etc.) zu beleuchten (wir hatten schon einmal über den Begriff „Lichtung“ die Rede; das meine ich hier nicht, sondern das aktive Bemühen darum, etwas zu erhellen).
    Und wenn ich den negierenden Ansatz aufgreife, würde ich sagen, „systemisch“ sollte nicht mythisch verwendet werden, nicht als selbst-verständliche, nicht weiter zu überprüfende Festlegung. Ich hoffe, ich komme nicht in zu dünne Luft, wenn ich zum Abschluss dieses Kommentars erwähne, wie fasziniert ich von Jan Assmanns Auseinandersetzung mit Jaspers‘ Theorie der „Achsenzeit“ bin, vor allem wie er das begründet. Er schreibt, er wolle dem „Absinken der Jaspers’schen Hypothese (…) entgegenwirken, nicht um die These zu widerlegen, sondern um sie in ihrem Anregungsreichtum wieder freizulegen“ (2018, S.10). Und er kommt zu anderen Schlüssen als Jaspers. Besser habe ich so etwas wie Solidarität durch Widerspruch bisher noch nicht formuliert gefunden.
    Ich danke Ihnen für Ihre Anregungen und wünsche Ihnen „Frohe Weihnachten“ (auch wenn mit diesem Begriff fast noch mehr Schindluder betrieben wird als mit dem Begriff „systemisch“, was soll’s…)
    Ihr
    Wolfgang Loth

    • Peter Fuchs sagt:

      „Und da bevorzuge ich die Idee, dass systemisch dann als angemessene Beschreibung gelten soll, wenn ich Vorgaben, die sich auf Entitäten als „an sich gegeben“ beziehen, danach befrage, in welchem Kontext, in welchem Zusammenhang, diese als Entität genommene Beschreibung als sinnvoll erachtet wird. Ich meine dann Relativieren nicht als Ausgehen von Beliebigkeit, sondern als Ausgehen von Sinnentfaltung im Zusammenhang. Das kann sehr unterschiedlich ausfallen, eben nicht als gegebene, einseitig definierbare Angelegenheit. Auch der Begriff „Zusammenhang“ wäre für mich daher nicht sakrosankt – insbesondere, wenn nicht geklärt ist, wer mit welchem Recht, auf der Grundlage welchen Interesses den „Zusammenhang“ als genau diesen definiert – und nicht per se „Zusammenhänge“ als hypothesenleitenden Plural annimmt. Systemisch wäre also für mich eine kritische Herangehensweise an die jeweils zur Debatte stehenden Themen.“

      Lieber Herr Loth,
      wir sind, glaube ich, gar nicht so weit auseinander, denn wenn Sie sagen, es gehe um eine ‚kritische Herangehensweise‘, muss ich ja nur daran erinnern, dass ‚krinein‘ schon das ‚Trennen und Unterscheiden‘ bezeichnet‘, und da wäre ich schon mitten in der Beobachtungstheorie, die im Kern eine komplexe Differenzierungstheorie ist, die ich dann (versteht sich) für ein mächtiges Instrumentarium (und zwar für das Praktisch-Pragmatische) halte. Sie wissen selbst, dass Ihre These, ‚systemisch‘ sei ‚eine kritische Herangehensweise an die jeweils zur Debatte stehenden Themen‘ sich ja auf alles verantwortliche Denken beziehen lässt. Und da liegt das Problem für mich: Worin unterscheidet sich das ‚Systemische‘ vom Systembegriff? Welche Differenz kann ich denn für die linke Seite dieser Differenz finden? Hier sehe ich nur eine Art ‚Swimming pool‘, wenn ich das einmal ganz provokativ sagen darf, und die Trübung seines Wassers durch die ‚Milch der frommen Denkart‘. Ich meine, dass man das empirisch prüfen kann, zum Beispiel, wenn ich, sagen wir einmal, 200 Selbstbeschreibungen ‚systemischer‘ Praxen lese, die angefüllt sind mit kanonischen Phraseologien und ‚Werbung‘. Ich schätze ‚Psychotherapie‘ und ihre Expertise im Umgang mit unauflösbaren, also fundamental unscharfen ‚Existentialien‘, aber genau deswegen meine ich, man sollte Begriffe finden, wo die Worte fehlen. ‚Systemisch‘ ist (und Sie stimmen ja dem Grunde nach zu) einfach inflationiert.

      „Daher bevorzuge ich eine kritische Auseinandersetzung mit der jeweils spezifischen Nutzung des Begriffs anstelle einer allgemeinen Ablehnung. So wie es in der praktischen Arbeit in meiner Profession auch nicht darum geht, allgemeine Normen zu kommentieren, sondern deren Wirkung (als Kontext, als Thema, als Wollen, etc.) zu beleuchten (wir hatten schon einmal über den Begriff „Lichtung“ die Rede; das meine ich hier nicht, sondern das aktive Bemühen darum, etwas zu erhellen).Und wenn ich den negierenden Ansatz aufgreife, würde ich sagen, „systemisch“ sollte nicht mythisch verwendet werden, nicht als selbst-verständliche, nicht weiter zu überprüfende Festlegung. Ich hoffe, ich komme nicht in zu dünne Luft, wenn ich zum Abschluss dieses Kommentars erwähne, wie fasziniert ich von Jan Assmanns Auseinandersetzung mit Jaspers‘ Theorie der „Achsenzeit“ bin, vor allem wie er das begründet. Er schreibt, er wolle dem „Absinken der Jaspers’schen Hypothese (…) entgegenwirken, nicht um die These zu widerlegen, sondern um sie in ihrem Anregungsreichtum wieder freizulegen“ (2018, S.10). Und er kommt zu anderen Schlüssen als Jaspers. Besser habe ich so etwas wie Solidarität durch Widerspruch bisher noch nicht formuliert gefunden.

      Ich danke Ihnen für Ihre Anregungen und wünsche Ihnen „Frohe Weihnachten“ (auch wenn mit diesem Begriff fast noch mehr Schindluder betrieben wird als mit dem Begriff „systemisch“, was soll’s…)“

      Nun, ich denke, dass ich das teilen kann, sehe aber den Weg anders. In meinen ‚Systemerien‘ plädiere ich für ein ‚anders anders‘ – schon in der kuriosen Form der Arbeit.

      Herzliche Grüße und ein gelingendes Fest wünschend

      Peter Fuchs

      • Wolfgang Loth sagt:

        Lieber Herr Fuchs,
        wenn die kritische Herangehensweise im Prinzip für jedes verantwortliche Denken gilt, dann habe ich für mich kein Problem damit, und es ist mir dann auch nicht wirklich wichtig, wie ich das Ergebnis nennen sollte, ob systemisch oder anders. Dass es für eine in sich stimmige Theorie vielleicht ein Problem ist, kann ich nachvollziehen, betrachte das dann jedoch von außen. Ich habe mich in der Praxis betätigt und habe mir Theorien dabei als Anregung genommen, nicht als Vorschriften. Dass dann „im richtigen Leben“ (sensu Gerhard Polt!) manchmal ganz anderes passiert als gedacht, ist dann in der Regel auch nicht schlimm, sondern notwendig, weil es dafür sorgt, aufmerksam zu sein und nicht behäbig zu werden (behäbig im Sinne von: haben als Selbstzuschreibung: ich hab’s… und andere nicht, vielleicht).
        Ich plage mich ein wenig mit der Frage, was wäre, wenn systemisch kein System sei. Ich plage mich deswegen damit, weil ich das nie so gedacht hätte. „Systemisch“ steht für mich für eine Ansammlung von Annahmen darüber, was Systeme seien, wie sie sinnvoll unterschieden werden könnten von anderen Systemen (also Umwelt), etc. Als „systemische Praxis“ habe ich es dann verstanden, in der Auseinandersetzung mit je individuell erfahrenem Leid dessen Umwelt mit einzubeziehen, insbesondere die soziale und kulturelle, aber auch die organisch-physiologischen. Ihre Formulierung „Fortsetzungsbedingungen der Kommunikation“ hat mich dabei immer sehr angeregt.
        Systemisch nehme ich in diesem Sinne als ein Adjektiv, das den Fokus der Aufmerksamkeit kennzeichnet (auf Fragen, die System betreffen), so wie „friedlich“ vielleicht eine Haltung sei, die „dem Frieden“ dient (was immer das sei) oder „freiheitlich“ eine Orientierung am Begriff der „Freiheit“ (dito). Aber nu, das ist ein weites Feld und ist im Umfeld all der Bewegungen rund um die bevorstehenden Festtage jetzt nicht so ganz in der richtigen Zeit. Insofern, danke für Ihre Anregungen und herzlichen Gruß
        Und als Zugabe ein kleines Zitat von Antoine Golea: „Kritik ist die Kunst vernünftiger Bewunderung“ (berichtet Jacques Toussaert in seinem „Versuch einer kritischen Biographie“ über Antonius von Padua)
        Wolfgang Loth

        • Martin Rufer sagt:

          Lieber Wolfgang

          Obwohl ich in euren (Du und Peter Fuchs) Spähren, wie Du weisst, nicht immer mithalten kann, Deine an Kontexten orientierten Gedanken zur „systemischen Praxis“ unterschreibe ich gerne mit. Liegt doch hier mitunter einer der Unterschiede, die einen Unterschied machen gegenüber Herangehensweisen von Analytikern, VTlern, GTlern…, deren Tun unter gewissen Bedingungen in einem übergeordneten Sinne genauso als „systemisch“ beschrieben werden könnte.

          MIt bestem Dank für das wunderschöne zu Weihnachten passende Zitat, das ich im Hinblick auf das Neue Jahr gerne mit einem des Kirchenvaters Augustinus quittiere: „Bete, als hinge alles von Gott ab. Handle, als hinge alles von Dir ab.“
          Herzlich, Martin

  3. Rudolf Klein sagt:

    Lieber Peter Fuchs,
    vielen Dank für diesen schönen Text und die aufgeworfenen Fragen. Zur Beantwortung Ihrer Schlussfrage kann ich wenig beitragen. Allerdings hat mich das wunderbare Wort „Sprunggelegenheit“ gefesselt.
    Sofort habe ich es bei Google eingegeben. Und was finde ich? Hinweise auf die Vorbereitung von Stützsprüngen im Schulsport, Schwimmbäder, die mit einem 1 und/oder 3 m Brett werben, Sportstadien mit vielfältigen Sprunggelegenheiten (vermutlich Hoch-, Weit- und Stabhochsprung) und Tipps für Ziegenhaltung.
    Die Verwendung der Metapher „Sprunggelegenheiten“ finde ich aber zur Beschreibung (system-) therapeutischer Prozesse interessant. Es scheint mir um die gemeinsame Erarbeitung hinreichend vager (riskanter, chancenreicher) Sprunggelegenheiten zu gehen.

    • Peter Fuchs sagt:

      Lieber Herr Klein,

      ja, mit der Metapher des ‚Sprunges‘ befasse ich mich ja schon länger, einmal als eine wichtige Folge des modernen Effekten des Entwurfs von Paradoxien (man arbeitet gleichsam auf Sprungmöglichkeiten hin), dann aber auch im Blick auf die Mäeutik, in der die Schüler an Aporien herangeführt und (zugespitzt formuliert) ‚denken‘ lernen. Das ist, bezogen auf die Psychotherapie tatsächlich wichtig, wie mir scheint.

      Herzliche Grüße

      Peter Fuchs

  4. Peter Kaimer sagt:

    Wunderbar – Danke für diesen erhellenden Beitrag.

    Peter Kaimer

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