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Respektlosigkeit

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Heute würde Gianfranco Cecchin (22.8.1932 – 2.2.2004) seinen 90. Geburtstag feiern. Ursprünglich gemeinsam mit Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo und Giuliana Prata im„Gründungsteam” des„Mailänder Ansatzes”, löste er sich dann in den 80er Jahren von Selvini und arbeitete eng mit Luigi Boscolo therapeutisch und als international gefragte Lehrtherapeuten zusammen. Er ist mit vielen interessanten Konzepten in der internationalen systemischen Szene bekannt geworden, unter anderem auch für die Einführung des Begriffs der Respektlosigkeit in Bezug auf die therapeutische Haltung. Während heute allzu oft Wertschätzung für alle möglichen Ideen gefordert wird, plädierte Cecchin dafür, Respekt gegenüber Personen aufzubringen, aber nicht für Ideen und Erklärungsmodelle. Dies galt für ihn auch in Bezug auf die konzeptuellen Auseinandersetzungen im systemischen Feld, etwa zwischen strategischen und konstruktivistischen bzw. narrativen Konzepten. In seinem gemeinsam mit Gerry Lane und Wendel A. Ray verfassten Aufsatz „Vom strategischen Vorgehen zur Nicht-Intervention. Für mehr Eigenständigkeit in der Systemischen Praxis“ (Familiendynamik 17[01], 1992, S. 3-18) schreibt er über dieses Thema:

„Es erscheint uns (…) angeraten, daß der Therapeut gegenüber jeder Idee, die die therapeutische Manövrierfähigkeit und Kreativität einschränkt, eine gesunde Respektlosigkeit bewahrt. (…) Ist man zu sehr von der Nicht-Instrumentalisierung überzeugt, ist man gefangen, eingeschränkt. Ein überzeugter Anhänger des Narrativen zu werden heißt, daran zu glauben, daß eine Veränderung der Erzählung Menschen verändert. Wenn man nicht in der Lage ist, anders zu handeln, kann die Angst, zu aktiv zu sein, lähmend wirken. Der »respektlose« Therapeut bekämpft die Versuchung, jemals ein überzeugter Anhänger einer wie auch immer gearteten Idee zu werden. Auch die Überzeugung, daß man durch die Aufgabe der Idee strategischen Vorgehens eine Wirkung erzielen kann, wird dann zu einer Gefahr. Man glaubt dann zu sehr an das Instrument der Nicht-Instrumentalisierung. Die Versuchung, Kontrolle ausüben zu wollen, kehrt oft zu denen von uns zurück, die schon durch diesen Prozeß hin durchgegangen sind. (…) Eine Lösung besteht darin, sich niemals völlig von einem Modell oder einer Intervention verführen zu lassen. (…) Eine Position der hier beschriebenen Respektlosigkeit einzunehmen heißt, sich gegenüber jeder verdinglichten »Wahrheit« leicht subversiv zu verhalten. Fühlt man sich einem Wertesystem zu sehr verpflichtet, setzt man sich der Gefahr aus, instrumentalisiert zu werden. Wir persönlich sind jetzt bereit, zu spielen. Wir können spielen, indem wir respektlos sind. Dies kann nur geschehen, indem wir die Verantwortung für unsere eigenen Handlun gen und Überzeugungen übernehmen, ohne uns instrumentalisieren zu lassen oder eine strategische Position einzunehmen. Wir können es wagen, unsere eigenen Ressourcen zu nutzen, um zu intervenieren, Rituale zu konstruieren, umzudeuten. Allerdings müssen wir für unser Handeln die Ver antwortung tragen und dürfen niemals vergessen, daß wir der Versuchung ausgesetzt sind, zu glauben, daß unsere Interventionen vorhersagbare Ergebnisse verursachen oder schaffen können. (…) Auf dem Weg zu einer Position der Respektlosigkeit muß man versuchen, sich von der kooptierenden Natur der Werte, über die ein Konsens besteht, zu befreien, und willens sein, nicht bedingungslos das zu tun, was der Staat oder die Institution, oder selbst die Klinik, in der man arbeitet, von einem verlangen. Das gibt dem Therapeuten die Freiheit, spielerisch zu sein, ohne dem eingeschränkten Bedeutungssystem der Familie bzw. der Institution zu verfallen. Er ist frei, um nach absurden wie auch tragischen Aspekten der Familiengeschichte zu suchen. (…) Es ist die Aufgabe des Therapeuten, die Gewißheit des Klienten zu unter graben. Es geht darum, jene Aspekte der Realität der Klienten, die sie daran hindern, die von ihnen gewünschten Veränderungen zu machen, zu unterminieren. Nimmt der Therapeut eine respektlose Position ein, ist er skeptisch gegenüber Polaritäten. Er ist frei von nicht-instrumentellen Positionen des »Ich sollte nicht hineingehen und eine Idee präsentieren, wie sich Menschen verändern können«, und von strategischen Positionen des »Ich muß eine Taktik entwickeln«. Mit Respektlosigkeit führt der Therapeut eine Idee ein, ist aber nicht unbedingt der Meinung, daß Menschen ihr folgen sollten. Er macht nur Vorschläge, die vielleicht hilfreich sind.“

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