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Die Angst des Psychiaters vor der Nähe

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Psychiatrische Sachverständige werden von Gerichten zur Feststellung von Schuldfähigkeit, Selbst- oder Fremdgefährdung oder Rentenansprüchen beauftragt. Im „Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ ist festgelegt, dass vor einer Unterbringungsmaßnahme das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen hat, der die Betroffenen persönlich zu untersuchen oder zu befragen hat. In Selbstdarstellungen von Gutachtern findet sich nicht selten der Hinweis, dass es sich dabei um eine „objektive“ Beurteilung handele. Die Psychiatriekritik spätestens seit den Arbeiten von Michel Foucault hat andererseits zeigen können, dass Gutachten spezifische Narrationen sind, mit denen Lebensgeschichten und Ereignisse in eine Form gebracht werden, mit deren Hilfe der staatliche Eingriff (etwa in die Freiheit der Begutachteten) legitimiert werden soll. Aus dieser Perspektive sind Gutachten, die explizit oder implizit immer auch auf moralische Bewertungen ihrer Zeit Bezug nehmen, zwangsläufig Bestandteil einer gesellschaftlichen Herrschaftspraxis.

Da die Anordnung einer Begutachtung unabhängig von der Zustimmung der betroffenen Person ist, findet sie immer in einem strukturellen Zwangskontext statt. Die – oft negative – Reaktion auf die Begutachtung wird aber oft selbst zum Diagnostikum, mit dem dann eine freiheitsbegrenzende Maßnahme begründet wird, wie z.B. der Fall Mollath zeigte, der 2014 weithin Aufsehen erregte.

Gutachten müssen zwangsläufig in einer Sprache abgefasst sein, die die Fiktion einer objektiven, neutralen und wissenschaftlich-distanzierten Feststellung von Sachverhalten ermöglicht. Anders wäre eine Gerichtsentscheidung etwa über eine Unterbringung wohl kaum zu rechtfertigen. Das bedeutet aber, dass alle Aspekte, die die subjektive Erfahrung einer Begegnung zwischen Gutachter und Begutachtetem und die eigenen emotionalen Resonanzen im Kontakt betreffen, ausgeblendet bzw. objektiviert und in „Gutachtensprache“ transformiert werden müssen.

Diese abgedunkelte Seite der Begegnungserfahrung ist Gegenstand eines schönen Büchleins mit dem passenden Titel „Die Angst des Psychiaters vor der Nähe“, das 2022 bei Books on Demand erschienen ist. Hans Welsch, der ein Pseudonym verwendet, um die Anonymität der beschriebenen Personen zu schützen, ist Psychiater und Gutachter. In seinem Buch erzählen 13 Kurzgeschichten von seinen Begegnungen mit Menschen, die ihren Halt in der sozialen Welt verloren oder sich in eine eigene unzugängliche Welt zurückgezogen haben. In einem Nachwort schreibt der Autor: „Außerhalb seiner Praxis begegnet der Autor als Psychiater in seiner Funktion als Gerichtsgutachter den von ihm untersuchten Menschen unmittelbarer und taucht tiefer in ihre Welt ein. Er kann daher nicht anders, als sich auch berühren zu lassen. So entsteht neben der distanzierten Betrachtung, die in sachliche Feststellungen in Form eines Gutachtens einmündet, auch eine Sphäre, in der sich die Erlebniswelten von Untersucher und Untersuchtem überschneiden. Hier sind die Erzählungen von der Angst des Psychiaters vor der Nähe entstanden. Die wahren Schöpfer der hier vorgestellten Erzählungen sind die Kranken. Ohne deren Schaffenskraft, die der Psychoseforscher und -therapeut Thomas Bock wohl hochachtungsvoll Eigensinn nennen würde, wären sie nicht entstanden.“

Herausgekommen sind empathische Annäherungen an ver-rückte Lebensentwürfe und fremde Gedankenwelten, deren leidvolle, oft absurde, aber manchmal auch komischen Seiten pointiert und in einer literarisch einnehmenden Sprache zum Ausdruck kommen. Freundlicherweise hat der Autor mir erlaubt, die Erzählung „Familie macht frei“ zu veröffentlichen, die ganz gut zum Ausdruck bringt, was die Leserschaft erwarten kann. Ich kann die Lektüre nur empfehlen!

Hans Welsch: Familie macht frei

Der Mars wäre ein Anfang. Mutter Erde von weitem sehen. Vom roten Planeten aus, wo er bereitwillig sein restliches Leben hätte verbringen wollen. Keine Rückkehr, das war eine der Bedingungen für die Kandidaten, die sich bei Mars One bewerben wollten. 

Tatsächlich aber sitzt D. neben seiner Mutter im Saal des Amtsgerichtes. Neben ihr fehlen ihm meist die Worte und auch eine eigene Zukunft. Glück, so die Mutter, ist an Voraussetzungen geknüpft, die zumeist bereits unwiederbringlich verloren sind. Wie das Elternhaus, das schon zwangsversteigert wurde. Und weil das noch nicht genug Zwang war, musste es auch noch zwangsgeräumt werden, weil die Familie, nun nicht mehr im eigenen Haus, die Miete schuldig blieb. Weshalb D. im Hotel im Doppelbett neben seiner Mutter zu liegen kam, während der Vater allein in die städtische Notunterkunft geschickt wurde. 

D. soll »beinahe erleichtert« gewirkt haben, als er abgeholt wurde, um in die Psychiatrie gebracht zu werden. Er hatte dafür angekündigt, vor der Richterin Selbstmord zu begehen. Ob er wirklich die am Amtsgericht gemeint hat, hat er nicht erklärt. Auf jeden Fall hatten seine Worte endlich etwas bewirkt und zumindest eine kleine Reise konnte beginnen, raus aus dem Doppelbett, rein in das Krankenhausbett. Noch bevor er die abnehmende Gravitation auskosten konnte, den ambivalenten Augenblick, in dem der Magen zu schweben scheint, war aber auch schon das Ende der Reise erreicht. Genau in dem Moment, wo sich die Mutter nun seiner Worte bemächtigte und ankündigte, sich auch das Leben nehmen zu wollen. Womit sie ihren Sohn verfolgen konnte und sogar dabei gefahren wurde. Mit der Mutter in derselben Klinik reist es sich nicht gut. Womit alle Bemühungen von D. entkräftet waren. 

Das hat Tradition in seinem Leben. Als Austauschschüler in den USA hat er sich erstmals für einen schicksalsschwangeren Moment von neun Monaten Dauer von Zuhause entfernt. Doch als Mensch genügt das nicht, um selbstständig zu werden. Auch beim Teenager D. nicht. Er wird verrückte Ideen entwickeln und später behaupten, die Gasteltern gehörten zu einer Sekte und betrieben Exorzismus. Welchen Dämon hätten sie austreiben können? Die schaurige Überzeugung seiner Mutter, Familie könne auch freimachen, hat jedenfalls überdauert. 

So führt D. sein Leben im Irrealis weiter. Zurück zu Hause sind seine Willensbekundungen spärlich geworden, ähneln zuweilen Vexierbildern. Er bricht die Schule ab. Investiert Zeit, Kraft und Geld fortan in immer abstrusere Fern– und Sprachkurse. Die Macht des Wissens und der Worte wird ihm aber nur theoretisch verliehen, es fehlen die Taten. Auch bekommt er nicht die Verbündeten, die er wohl bräuchte, um mehr zu wagen. Sein Vater, erster natürlicher Kandidat, ist in der durch Wasch– und Reinigungszwänge geprägten Welt der Mutter, die sich D. zu eigen gemacht hat, ein Eindringling, der sich »eingenistet« hat. D’s Worte – oder eben auch nicht. Er legt sie sich aber in den Mund, wenn er wie ein Kammerjäger spricht oder auch davon, dass die Mutter sich ganz sicher nicht auf den Platz im Gericht setzen wird, auf dem zuvor schon der Vater gesessen hat. 

Der Vater hatte vorab ganz allein mit dem psychiatrischen Gutachter gesprochen. Der soll beurteilen, ob sein Sohn psychisch krank ist und ob er deshalb der Unterstützung eines gesetzlichen Betreuers bedarf. Obwohl wieder einmal allein, singt der Vater das Lied der Mutter, die sich gegen jede Einmischung im Leben ihres bald 40 Jahre alten Sohnes verwehrt. Sie legt später sogar eine eidesstattliche Versicherung vor, die er auch unterschrieben hat. Die Eltern beteuern, dass ihr Sohn seine Angelegenheiten entweder selbst oder mit ihrer Hilfe regeln kann. 

Tatsächlich scheinen schon alle Rollen vergeben in diesem Stück, dass in diesem nüchternen Gerichtssaal für einen einzigen Zuschauer von Mutter, Vater und Kind gegeben wird. Es erscheint kein Deus ex machina, um für eine unvorhergesehene Wendung zu sorgen. Wenn auch D. vor Beginn der Aufführung in seinen E–Mails an den Gutachter mehr zu Wort gekommen ist als jetzt, bleibt er letztlich doch seiner Rolle treu. Seine Kandidatur für Mars One bleibt eine verrückte Idee. Nach dem Abtritt des Vaters und vor dem Auftritt der Mutter, also in der kurzen Zeit, die in dem Stück für ihn alleine bestimmt ist, breitet er wie ein Priester Symbole vor sich aus, beschwört ohne Worte höhere Mächte. Mächtig angeschwollen ist sein Portemonnaie durch all die Mitgliedskarten im Scheckkartenformat, die er nun vor sich ausbreitet. Sie belegen seine Mitgliedschaften bei zahlreichen Unterstützungsorganisationen von Streitkräften auf der ganzen Welt. Er tut so, als ob sich seine Einflusssphäre auf ein Vielfaches von 85 mal 54 mm beschränken müsste. 

Dabei sind es letztlich seine eigenen Kräfte, die immer wieder alles zunichtemachen. So hat er schon dreimal darauf gehofft, ein gesetzlicher Betreuer könnte ihn zum Glück zwingen, endlich aus der familiären Lagerhaft befreien. Erst im dritten Anlauf, als schon die Zwangsversteigerung naht, ist es was geworden mit der Betreuung. Helfen konnte der Betreuer ihm aber dennoch nicht, da D. sich so nicht als Täter zeigen konnte. Er hat die für ihn organisierte Wohnung nicht bezogen und ist im Doppelbett geblieben. 

Wohl aber hat er den Verlauf des Betreuungsverfahrens so lange hinausgezögert, dass das elterliche Haus nicht mehr vor der Versteigerung gerettet werden konnte. Womit das von ihm selbst erfundene Betätigungsfeld des Betreuers, der »Aufbau einer eigenen Existenz«, sicher nicht mehr so materiell verstanden werden muss, wie er verstanden werden könnte. 

Überhaupt versteht sich D. auch in der Kunst des Dramas. Hier kann er Täter sein. Er bezichtigt sich wiederholt selbst des Ladendiebstahls. Er übt dabei die hohe Kunst der Paradoxie, in dem er einerseits kundtut, die Mutter befehle ihm die Taten, andererseits hinzufügt, er werde seinen Auftraggeber nicht preisgeben. Diese Worte bringen ihm immerhin eine Bewährungshelferin ein, die ihm eine Zeit lang für »Scheintermine« herhalten kann, also ein Alibi verschafft, letztlich Zeit, über die die Mutter nicht verfügen kann. 

Weil die Führungsaufsicht wie ein Schüleraustausch nicht lange währt, greift D. in seiner Not auch immer wieder zu radikaleren Mitteln, fordert etwa seinen Tod durch den Strang. Hofft vielleicht auf ein Sein, das aus dem Nicht– Sein entspringt, wie viele andere auch, die mit der Idee des eigenen Todes spielen. 

Doch am Ende wird D. immer dann, wenn er im Text unsicher oder zu eigenwillig wird, doch immer wieder souffliert. Dann erscheint im Kopf die Stimme seiner Mutter, die Verbote ausspricht und »seelische Schläge« austeilt. 

So besteigt D. kein Raumschiff und greift nicht nach den Sternen. Er erklärt vielmehr, im Moment nur dann mit der Außenwelt in Kontakt treten zu können, wenn er im Wartezimmer sitzt, während die Mutter behandelt wird. 

Mehr gestattet er sich nicht, nachdem Mutter und Vater angedroht haben, sich das Leben zu nehmen, wenn er auszieht und sie nicht mehr in dem für drei Personen als angemessen eingestuften Apartment verbleiben können. Er hat bereits klargemacht, dass er sich nicht aus der Gefangenschaft lösen können wird, solange die Eltern noch leben. Das kann dauern. Wirklich günstige Startfenster für den Mars gibt es alle 15 Jahre. 

Hans Welsch (2022): Die Angst des Psychiaters vor der Nähe. BoD

Hardcover, 92 Seiten
ISBN-13: 9783755760399
Preis: Buch 15,99 €, ebook 5,99 €

Verlagsinformation:

Die Angst des Psychiaters vor der Nähe ist eine Sammlung literarischer Miniaturen, in denen der Autor seine langjährigen Erfahrungen als psychiatrischer Sachverständiger verarbeitet hat. An die Stelle der distanzierten Betrachtung tritt die zuweilen schwer auszuhaltende Nähe der unmittelbaren Begegnung mit der Welt des Kranken und seinem Eigensinn und damit nicht nur seinem Leid, sondern auch der schöpferischen Kraft, die berührt und bewegt. Das Buch wendet sich nicht nur an ein literarisch interessiertes Fachpublikum, sondern an alle, die sich ihre Neugier für das scheinbar Fremde bewahrt haben.

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Ein Kommentar

  1. Christian Michelsen sagt:

    Danke für diesen Beitrag, lieber Tom Levold! Heinz von Foerster erzählte uns 1985, wie er seine Studenten von der Notwendigkeit überzeugt hat, dass die- oder derjenige 5 $ in eine gemeinsame Kasse zahlen musste, wer mit dem Begriff “objektiv” Argumente und Meinungen von Kommilitonen platt machen wollte. “Objektiv” war damit einvernehmlich geächtet.

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