systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

21. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? Die Muskeln des Beobachters

Franz Friczewski, Hannover:

21advent„Die Muskeln des Beobachters“ – so überschreibt Arno Widmann einen Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 6.12.2014.  Eingefleischte Systemtheoretiker mag diese Wortwahl irritieren – ich lese sie als Hinweis auf das, was mir im systemtheoretischen Diskurs fehlt: das Muster, das die Perspektive Maturanas und die Luhmanns verbindet.

Beide Autoren gelten als die Väter der Systemtheorie, beobachten Systeme aber von unterschiedlichen, sich gegenseitig scheinbar ausschließenden Positionen aus: der eine (als Biologe) vom Individuum, der andere (als Soziologe) von der Gesellschaft her. Sie stehen spiegelbildlich zueinander; jeder verortet sich im blinden Fleck des jeweils Anderen. Die Kontroverse wurde bis heute nie wirklich ausgetragen; vielleicht ist jetzt aber die Zeit dafür gekommen. Aus meiner Sicht ist sie keineswegs „nur theoretisch“, sie könnte den Systemtheorie-Diskurs in vieler Hinsicht voranbringen. Am Ende könnte sich  eine systemische Begrifflichkeit herausschälen, die dem gewöhnlichen Denken weniger sperrig gegenübersteht als noch im Moment, obwohl sie ihm (wie in dem berühmten Bild von Magritte) weiterhin einen ungewöhnlichen Spiegel vorhält.

Ich arbeite seit längerem an den Grundlagen einer solchen Begrifflichkeit (siehe hier). Im Folgenden möchte ich ein paar Gedanken dazu vorstellen. Über Feedback würde ich mich natürlich freuen.

Um eines vorwegzunehmen: das verbindende Muster lässt sich nicht fest-stellend beobachten. Wir müssen es uns eher wie einen Tanz ineinandergreifender Teile vorstellen, wie G. Bateson sagte; entscheidend sind dabei nicht die Teile, sondern ihr „Tanz“, das Wie ihres Sich-Verbindens.

Als Schlüssel dafür sehe ich die Frage, wie wir uns das Prozess-Muster vorstellen können, mit dem sich biologische, psychische und soziale Systeme gegenseitig hervorbringen; d. h. wie ihre Ko-Produktion denkbar und möglich ist. Meine These: wir müssen das Muster im Sprach-Handeln suchen. Weiterlesen →

20. Dezember 2014
von Tom Levold
5 Kommentare

systemisch – was fehlt? Schattenseiten!

Noah Artner, Wien: Systemisch kann alles! … oder?

20adventEin kecker Kollege sprach mich letztens an und meinte: „Ihr Systemiker, ihr glaubt doch wirklich, ihr könnt alles gleich gut.“ Abgesehen von den Untertönen, die ich hier beiseite lassen möchte, habe ich mir doch darüber Gedanken gemacht. Umso mehr trifft es sich gut, dass Tom Levold heuer danach fragt, was dem systemischen Ansatz fehle.

Passend dazu schrieb Kollegin Iris Seidler in der Mitgliederzeitschrift der Lehranstalt für systemische Therpie über die Schönheit und Gefahr der systemisch-therapeutischen Beziehung. Was mich zu dem ersten Punkt meiner Überlegungen führt. Oft werden systemische Interventionen und Angebote als elegant und schön beschrieben. An unseren Fahnen prangt die Lösungsorientierung und Resourcenfokussierung, die ich, nebenbei bemerkt, nach wie vor sehr schätze. Wir befassen uns größtenteils mit Ausnahmen, guten Aspekten und Lösungen. Aber was ist mit unseren Schattenseiten, Dämonen und nicht so schönen Seiten? In unserer alltäglichen Arbeit werden wir immer wieder damit konfrontiert und manchmal merke ich, dass es ohne das genauere Hinsehen, das Aushalten und das Annehmen nicht geht. Vielleicht sind wir auch manchmal eher der Schöngeistigkeit zugewandt, wem wäre es zu verdenken.

Ich habe den Eindruck, dass SystemikerInnen oft sehr kritisch und auch mutig an neue Inhalte, Theorien und Strömungen herangehen und doch kenne ich diesbezüglich wenig Literatur, wo sich KollegInnen eben mit diesen Aspekten vertieft auseinandersetzen. Auch hinsichtlich  der Anforderung, dass Psychotherapie  nicht nur heilend wirken soll, sondern auch  Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen soll würde dann auch bedeuten, dass wir manchmal eben genauer hinsehen und nicht nur schnell reparieren sollen. Als besonders schmerzhaft erlebe ich es, wenn besonders im Wirtschaftsbereich Systemikerinnen auf die Methoden und Tools reduziert werden oder sich selbst darauf reduzieren. Ich weiß nicht, ob dies mit fehlendem Wissen oder zu wenig Auseinandersetzung mit der systemischen Haltung zu tun hat. Gerade letztere halte ich so besonders wertvoll und unersetzlich an unserer Richtung. Weiterlesen →

19. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? Das Alter!

Thomas Friedrich-Hett, Essen:

19adventKann systemisch Alter? Oder vielleicht etwas klarer formuliert, widmen sich systemische Beraterinnen/Berater und Therapeutinnen/Therapeuten älteren Menschen und den damit zusammenhängenden Fragen und Ängsten?

Beim Aufruf zum Adventskalender 2014 zu überlegen, was im systemischen Feld vielleicht fehlt, wo blinde Flecken sind oder was zu kurz kommen könnte, war meine spontane innere Antwort sofort formuliert: das Alter.

„Dem Leben das Alter geben“, hat es Klaus Zitt einmal in einem Interview formuliert (Friedrich-Hett, 2005, a). In systemischer Fachliteratur wird das Thema kaum fokussiert, auf Tagungen und Kongressen fristet es auch eher noch (zumindest hoffe ich dies!) ein Schattendasein, das kaum Interessenten anzieht. Wer nach systemischen Kolleginnen und Kollegen sucht, die mit älteren Menschen arbeiten, mag sich an die Suche nach der Nadel im Heuhaufen erinnert fühlen.

Woran könnte dies liegen? In Zeiten des demografischen Wandels müsste doch hinreichendes Interesse bestehen, oder?

Wagen wir ein kleines, selbstreflexives Experiment, um die „Woran-Frage“ auszuloten (vgl. Friedrich-Hett, 2010):

Teil 1: Bitte stellen Sie sich vor, sie wären 75 Jahre alt. Wie werden Sie sich fühlen? Mit welchen körperlichen Einschränkungen und Schmerzen werden Sie leben müssen? Werden Sie Pflege benötigen? Was oder wen werden Sie alles verloren haben? Werden sie einsam oder arm sein? – Und was denken Sie nach diesen Fragen über das Älterwerden?

Teil 2: Bitten stellen Sie sich erneut vor, 75 Jahre alt zu sein. Aber konzentrieren Sie sich nun auf den Reichtum an Freiheiten und Möglichkeiten, der noch vor Ihnen liegen wird. Was werden Sie tun, wofür Sie früher nie Zeit hatten? Von welchen Lasten und ungeliebten Pflichten werden Sie befreit sein? Welchen Dingen werden Sie sich gerne zuwenden? Wohin werden Sie gerne reisen? Mit wem werden Sie gerne zusammen sein? – Und was denken und fühlen Sie nach diesen Fragen über das Älterwerden? Weiterlesen →

18. Dezember 2014
von Tom Levold
2 Kommentare

systemisch – was fehlt? „homonymes“ Bewusstsein!

Rolf Todesco, Aeugstertal:

18adventDie Frage „was fehlt?“ ist in vielen Hinsichten ambivalent. Ich frage mich beispielsweise, ob klare Begriffe wirklich fehlen, wenn diese bestimmte Problemlösungen oder Therapieerfolge nur stören würden. Ich will nicht von notwendig falschem Bewusstsein sprechen, sondern nur fragen, inwiefern ein je bestimmtes kontingentes Bewusstsein fehlt oder einfach nur – fast zum Glück für die Sache – nicht vorhanden ist. Ich habe also keine Ahnung, ob ein allenfalls fehlender Systembegriff einer systemischen Therapie fehlen würde. Ich bin kein Therapeut und schon gar kein systemischer und kann die Frage, was der systemischen Therapie fehle, deshalb nur in einer – systemtheoretischen – Aussensicht angehen.

Was im systemischen Diskurs sehr oft nicht vorhanden scheint, ist das Bewusstsein, dass Wörter unter dem Gesichtspunkt eines Homonyms beobachtet werden können. Das gewöhnlichste Beispiel eines Homonyms ist wohl der Ausdruck „Bank“, der für ein Sitzmöbel und für eine Finanzinstitution steht. Ein oft verdrängtes Beispiel ist System, weil System für unglaublich vieles verwendet wird. Wenn ich den Ausdruck System nicht als Homonym erkenne, weiss ich nie, wovon die Rede ist, noch nicht einmal wovon ich selbst spreche, wenn ich System oder „systemisch“ sage. Oft fehlt mir dann nichts, vielmehr scheint mir der Ausdruck dann überflüssig oder als zu viel. Weiterlesen →

17. Dezember 2014
von Tom Levold
35 Kommentare

systemisch – was fehlt? Wärme!

Lothar Eder, Mannheim:

Es gibt Reiche unterhalb
von Vernunft und Sprache.

Daniel Kehlmann: Berholms Vorstellung

17adventDie Frage ist verführerisch, gewiß. Zumindest für mich, der sich im systemischen Mainstream nicht mehr so ganz beheimatet fühlt. Ich könnte sie also als willkommene Einladung nützen, vieles zu kritisieren, zu bemängeln. Doch das wäre nicht fair. Verdanke ich doch der systemischen Therapie so vieles in meiner persönlichen und professionellen Entwicklung.

Denke ich aber ernsthaft über die Frage nach, was denn fehle, so kommt mir ein Begriff: Wärme. Es fehlt an Wärme. Nicht so sehr in der systemischen Praxis, soweit sie mir geläufig ist. Sie fehlt meiner Meinung nach jedoch im Überbau, in der (Meta-)Theorie. Systemische Praxis und (Meta-)Theorie aber fallen, wie zuletzt Alain Schmitt (Fam.Dyn. 2/2014) eindrücklich zeigen konnte, deutlich auseinander, ja, sie stehen oft sogar in Widerspruch zueinander (bezogen etwa auf die behauptete Nichtinstruierbarkeit von Individuen). Vielmehr unterscheidet sich ein nicht unerheblicher Teil systemischen Handelns nicht wesentlich von therapeutischen Methoden und Haltungen, die aus dem Kontext der humanistischen Therapie stammen (hierzu zählt auch die „Ressourcenorientierung“, also das Ermutigen von Patienten, ihre inhärenten Potentiale zu erkennen und auszuschöpfen).

Man findet in der systemischen Community, wie es neudeutsch so schön heißt, gewiß spontan einigen Zuspruch für die Aussage, daß die Zeiten Sigmund Freuds längst hinter uns liegen. Freuds Projekt aber hatte – unter vielen anderen – einen wesentlichen roten Faden: er forderte die Einheit von Forschen und Heilen. Damit war und ist bis heute im psychoanalytischen Projekt gewährleistet, daß in der (Meta-)Theorie mit den gleichen Annahmen und Kategorien operiert wird wie in der Praxis. Für die systemische Therapie in ihrem praktischen Vollzug gilt dies jedoch nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt. Schmitt (s.o.) liefert hierfür zahlreiche Beispiele und Belege, sie brauchen an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden.

Wärme scheint mir ein wesentliches Merkmal, wenn es um die Frage geht, was Menschen brauchen; was somit auch diejenigen Künste benötigen, die sich mit der Begleitung, Unterstützung und Heilung von Menschen beschäftigen. Eben diese Wärme aus der Systemtheorie zu beziehen, scheint so gut wie ausgeschlossen. Warum, möchte ich nachfolgend erläutern. Weiterlesen →

16. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? Eine systemische Prüfungstheorie

Silvia Puhani, Braunschweig:

16adventAls Vertreterin eines aus meiner Sicht vom Systemischen Ansatz noch vernachlässigten Anwendungsgebiets, spüre ich die Unzulänglichkeiten der dort noch vorherrschenden linear-kausalen Denkansätze in meiner täglichen Arbeit.

Mein Beruf lässt sich ziemlich treffend mit der Aufgabe eines Hofnarren in einem Herrscherhaus vergleichen, der das Herrschaftsgebiet inkl. der Untertanen zu beobachten und dem Herrscher über dessen Einflussbereich Bericht zu erstatten hat. Dies stellt jeden Hofnarren vor verschiedenste Herausforderungen: Im Wesentlichen hat er

  • Informationen zu sammeln, und zwar auf eine Weise, durch die diese möglichst wenig verzerrt werden. Auch soll dies zukünftig möglich bleiben, ohne Qualität und Vollständigkeit zu beeinträchtigen.
  • Informationen zu bewerten, und zwar möglichst objektiv und richtig.
  • eventuell vorhandene Unzulänglichkeiten oder Mängel nachzuweisen, deren Ursachen zu erklären und jeweils Maßnahmen vorzuschlagen bzw. zu vereinbaren, um den Mangel zu beheben.
  • Bericht zu erstatten, wobei die meist unliebsamen Nachrichten dem Herrscher so zu übermitteln sind, dass der eigene Kopf möglichst dran bleibt.

Der Beruf nennt sich übrigens „Interner Revisor“ bzw. die Berufsgruppe ganz allgemein „Prüfer“. Weiterlesen →

15. Dezember 2014
von Tom Levold
3 Kommentare

systemisch – was fehlt? Ein schnelles Pferd

Dörte Foertsch, Berlin:

15adventIn der Mongolei gibt es ein Sprichwort dass heißt: Ein ehrlicher Mensch braucht ein schnelles Pferd.

Die Haltung von Neutralität und Allparteilichkeit trägt in der systemischen Szene nicht unerheblich dazu bei, dass es kaum noch ernsthafte Diskussionen oder gar Streit um Positionen gibt. Neutralität und Allparteilichkeit, alle sind gemeinsame Beteiligte an einem System. Dabei wird immer mal wieder vergessen, dass diese beiden Prämissen sich auf Menschen auch unabhängig von ihrem Tun und Denken anwenden lassen. Neutralität oder auch Wertschätzung eines Menschen muss sich ja nicht auf sein Handeln beziehen. Ist das im Miteinander von Systemikern in Vergessenheit geraten?

Manchmal fallen die eigenen Prämissen einem selber auf die Füße oder wer anderen eine Grube gräbt fällt selbst hinein.

Systemiker schwimmen manchmal in einer gemeinsamen Suppe in der die einzelnen Bestandteile verrührt und verkocht sind, nichts dass ich etwas gegen gute Suppe hätte, aber der Mensch braucht auch etwas zum Beißen.
Dem Systemischen fehlt eine bissige Streitkultur. Es fehlt der Mut sich zu positionieren ohne die Konsequenz, als nicht systemisch plötzlich angezählt zu werden. Weiterlesen →

14. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? Spiel!

Wiltrud Brächter, Köln:

14adventDas Thema des Adventskalenders hat mich in diesem Jahr sofort angesprochen, gibt es doch eine Zugangsmöglichkeit zu Kindern (und Familien), die mir in der systemischen Therapie seit langem schon zu kurz kommt: das Spiel.

„Systemische Familientherapie: Kinder im Abseits“ – mit diesen Worten beschrieb Wilhelm Rotthaus vor gut zehn Jahren den Platz, der Kindern in der systemischen Familientherapie zu kam (Rotthaus 2003). Dabei bezog er sich auf Studien, nach denen sich in Familientherapien 85% aller Äußerungen der TherapeutInnen an die Eltern und nur 15% an die Kinder richteten (Cederborg 1997 – bezogen auf Therapien mit vier- bis siebenjährigen Kindern) und nach denen nur 22% der befragten Kinder ihre Erfahrungen im Familiensetting als positiv bewerteten (Lenz 1999).

Seitdem hat sich in der systemischen Therapie viel getan. Spezielle kinder- und jugendtherapeutische Aufbauweiterbildungen wurden begonnen und erste Lehrbücher zur systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen veröffentlicht (z. B. Retzlaff 2008). Dabei lag der Schwerpunkt zunächst darin, bereits bewährte Methoden der systemischen Familientherapie kindgerechter zu gestalten und Ideen für eine systemisch orientierte Einzelarbeit mit Kindern zusammen zu stellen. Mich irritierte, dass hierbei symptombezogene und therapeutengeleitete Interventionen dominierten, während Spieltherapie, bei der Kinder eigene Themen verfolgen und eigene Anliegen in die Therapie einbringen können, anfangs nur am Rande gestreift wurde. Noch immer scheinen mir die Möglichkeiten nicht wirklich ausgeschöpft zu sein, die sich aus dem freien Spiel von Kindern für eine systemische Therapiegestaltung ergeben. Weiterlesen →

13. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? „Verfahrenstechnik“ – ein kaum entdecktes Fenster im systemischen Kalender

Claus Riehle, Düren:

13adventEiner der bekanntesten Vertreter des systemischen Ansatzes und des systematischen Querdenkens ist sicherlich Heiz von Foerster. Durch ihn hat die Physik eine gewisse Prominenz in der Welt der Systemiker erfahren, ohne dort wirklich präsent zu sein. Woher kommt dieser Zugang, habe ich mich gefragt, denn bin selbst über die Denkwelt Physik zu Management, Organisation gekommen und schließlich in der Welt des systemischen Beratungsansatzes gelandet. Sicherlich hat es mit dem Abstraktionsvermögen, dem Denken in Strukturen und Wechselwirkungen zu tun, so ist zumindest meine (erste) Hypothese.

Eine weitere zusätzliche und wesentliche Rolle für meine Anschlussfähigkeit an die Systemik und Ihren Schwerpunkten „Kommunikation“ und „Organisation“ sehe ich in meiner verfahrenstechnischen Ausbildung (das ist die zweite Hypothese). Denn die Verfahrenstechnik ist die Kunst der „Stoffumwandlung“ und sie hat einen starken Bezug zur Chemie, historisch sicherlich einen Bezug zur Allchemie. Letzteres wird wohl in keinem wissenschaftlichen Standardlehrbuch erwähnt, da das Wort „Allchemie“ dort sicherlich ein „no go“ ist, was ich zumindest nachvollziehen kann. Was ich jedoch nicht nachvollziehen kann:  ein knapp 1000-seitiges Lehrbuch (in 11. Auflage) führt in seinem Titel „Chemische Verfahrenstechnik“ und es werden praktisch ausschließlich Anwendungen physikalischer Prinzipien (und der entsprechend realisierten Apparate) besprochen: Strömen, Fördern, Trennen, Vereinen, Übertragen in Kombination mit unterschiedlichen Aggregatszuständen (fest, flüssig, gasförmig) besprochen. Weiterlesen →

12. Dezember 2014
von Tom Levold
6 Kommentare

systemisch – was fehlt? Die Frage nach dem Stellenwert von Gefühlen in der systemischen Theorie und Praxis

Luc Ciompi, Belmont-sur-Lausanne:

12adventAls Beitrag zur Frage „systemisch – was fehlt?“ möchte ich auf eine Lücke hinweisen, mit der ich selbst mich schon seit vielen Jahren herumschlage: Was genau ist der Stellenwert von Gefühlen in der systemischen Theorie und Praxis? Oder, etwas spezifischer gefragt: Wie lässt sich mein Ansatz der Affektlogik (die Lehre vom obligaten Zusammenwirken von Emotion und Kognition) mit der klassischen Systemtheorie vereinen?

Luc Ciompi (Foto: T. Levold)

Luc Ciompi
(Foto: T. Levold)

Natürlich habe ich selbst dazu schon allerhand Ideen entwickelt, auf die ich hier indes nicht weiter eingehen will. Nur einen einzigen, dafür m. E. ganz grundlegenden Gedanken möchte ich dem geneigten Adventsleser zum Weiterdenken gerne vorlegen: In psychosozialen Systemen aller Art sind Emotionen das dynamische Element. Das heisst, sie liefern die Energie (oder den Antrieb, das Benzin), damit überhaupt irgend etwas läuft (zB: sich etwas verändert). Kognitionen (= letztlich sensorische Unterscheidungen, in meiner Sicht) dagegen liefern das strukturelle, statische oder formale Element. Oder, in einer etwas mechanistischen Metapher: Emotionen sind der (prinzipiell immer wieder gleiche) Treibstoff, Kognitionen die (zunehmend ausgeklügelten) Bauelemente des Motors; nur dank dem sinnvollen Zusammenwirken beider bewegt sich das Automobil (bzw. der einzelne Mensch, die Familie, die Klein- wie Grossgruppe).

Herzlichen Gruß und schöne Weihnachten

Luc Ciompi

11. Dezember 2014
von Tom Levold
4 Kommentare

systemisch – was fehlt? Immer etwas!

Rudolf Klein, Merzig:

11advent„Systemisch – was fehlt?“ ist eine scheinbar simpel daherkommende Frage. Sie impliziert Wünsche und dies scheint durchaus in einen Adventskalender zu passen. An Weihnachten darf man schließlich wünschen. Als Kind war das einfach. Mir fehlte immer etwas: Rollschuhe, Tretroller, Fußbälle, Schienbeinschoner. Aber klappt das Wünschen bei diesem Thema auch?

Beim Nachdenken darüber drängte sich mir zunächst eine andere Frage auf. Die Frage nämlich, was in der Systemischen Therapie bereits von Anfang an da war, was angesichts des teils routinierten, teils gehetzten Tagewerks, des geschäftigen Schreibens und Lesens, des Ringens um sozialrechtliche und darüber hinausgehende Anerkennungen  klammheimlich aus dem Bewusstsein gerutscht ist und nicht etwa prinzipiell fehlt, sondern auf einem hinteren Regalbrett des inneren Orientierungssystems verstaubt.

Wenn man dort zu stöbern beginnt, stößt man schnell auf zwei (!) „Gottväter“ der systemischen Theorie und Therapie: auf Gregory Bateson und Heinz von Foerster. Und man müsste sich noch nicht einmal durch deren Publikationen wühlen (obwohl sich das immer wieder aufs Neue lohnt). Es genügte bereits, sich an drei weithin bekannte und immer wieder gerne zitierte Sätze zu erinnern. Weiterlesen →

10. Dezember 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemisch – was fehlt? Gesellschaftspolitischer Erfolg

Ewald Johannes Brunner, Jena

10adventWas mich als Systemiker ein wenig bekümmert, ist, dass bisher so wenig davon im öffentlichen Bewusstsein und Diskurs angekommen ist, was systemisches Denken und Handeln ausmacht und leisten kann. Dabei könnten Politik und Gesellschaft sich ja durch sie für anstehende Probleme zu konstruktiven und kreativen Lösungsvorschlägen inspirieren lassen.

Nehmen wir mal als Beispiel den Dauerbrenner „Inklusion“. Das „System Sonderpädagogik“ ist bekanntlich so stark zementiert, dass ich schon froh bin, wenn ein Journalist (Thomas Hahn in einer November-Wochenend-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung) folgenden – schon richtig systemisch klingenden – Satz für die Probleme bei der Umsetzung der Inklusion formuliert: „Einzelne Bundesländer stecken schon mittendrin mit allen Schwierigkeiten und Dysbalancen, die in der Natur eines solch komplexen Übergangs liegen“.

Damit will ich nicht von den Schwierigkeiten und Hürden ablenken, mit denen SystemikerInnen  konfrontiert sind, wenn sie ihr professionelles Handeln in der Öffentlichkeit erläutern sollen. In Stuttgart kann man heuer ein Praxisschild mit folgendem Inhalt bestaunen:

Ressourcen Manufaktur

System Familie (Kind, Paar … )
Coaching & Kommunikation
Change Management & EAP
Therap. Beratung & Biographiearbeit
Psychologische Testverfahren (IQ, Persönlichkeit …)

Ewald Johannes Brunner

Ewald Johannes Brunner

Na ja, wir haben vor 40 Jahren, als die „Familientherapie“ sich anschickte, in Deutschland Verbreitung zu finden, auch nicht so recht gewusst, wie wir diesen sperrigen Begriff unter die Leute bringen sollen.

In diesem Sinne die besten Wünsche für das

System Levold (Advent, Weihnachten …)

und herzliche Grüße, auch an alle SystemikerInnen, ob in der Therap. Beratung und/oder in der Forschung tätig

9. Dezember 2014
von Tom Levold
1 Kommentar

systemisch – was fehlt? Gesellschaftspolitisches Engagement

Jochen Schweitzer, Heidelberg:

9adventDer österreichische Psychiater und Familientherapeut Ludwig Reiter hat vor mehreren Jahrzehnten (1) einmal geäußert, dass so wie die Psychoanalytiker aus dem Bildungsbürgertum und die Verhaltenstherapeuten aus den jungen Technokraten sich die damaligen Familientherapeuten ihre Werte vorwiegend aus der Hippiebewegung speisen würden. Diese Einschätzung war sehr umstritten. Aber in meinem Erleben definierten sich die meisten Familientherapeuten um 1980 herum (sie waren nach meiner Erinnerung damals mehrheitlich im Alter zwischen 25 und 45, und sie lebten in einer Phase ca. 10 Jahre nach der Studentenbewegung, kurz nach dem Höhepunkt der K-Gruppen, erlebten den Beginn von Ökologie-,  Friedens- und Alternativbewegung“) in einem diffusen Sinne als „undogmatische Linke“.   Noch 1991 haben wir (Arist von Schlippe und ich, mit Zustimmung der anderen Tagungsverantwortlichen) auf dem großen Kongress „Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis“ in Heidelberg eine Art Teach-In gegen die damalige US-Invasion im Irak veranstaltet.  Auch ein Panel über „Ökologische Politik als Interaktionsprozess“ mit Kommunal-, Umwelt- und Gesundheitspolitikern fand damals im Plenum statt.

Mir scheint, dass das Interesse und Engagement für Gesellschaftspolitik in der systemischen Szene spätestens ab Mitte der 1990er Jahre, vielleicht auch schon deutlich früher, abnahm. Vielleicht zugunsten der Professionalisierung von Beratungspraxis und Weiterbildung. Vielleicht war auch  der Konstruktivismus als eine geistesgeschichtlich gesehen „idealistische“ und möglicherweise auch „individualistische“ Denkschule politischem Engagement nicht besonders förderlich. Vielleicht weil sich Michael Whites recht politisches Verständnis von narrativer Therapie als De-konstruktion herrschender/ unterdrückender Geschichten im deutschen Sprachraum wenig durchsetzte. Weiterlesen →