systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

6. Dezember 2023
von Tom Levold
2 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 06. Sandra Burgstaller

Ich beschäftige mich schon seit geraumer Zeit mit Psychotherapie im palliativen Setting – also der Arbeit mit Menschen, die sich aufgrund schwerer Erkrankungen in ihrem letzten Lebensabschnitt befinden. Sehr schnell landen wir dann bei Bezeichnungen wie „Sterbebegleitung“ oder „Sterbende“.  Ohne entsprechender kontextueller Einrahmung fokussieren diese Begrifflichkeiten doch nur einen Schwerpunkt dieses vielfältigen Tätigkeitsfeldes bzw. eine Seite unserer Klient*innen. Psychotherapie am Lebensende bedeutet mehr als Sterbe- und Trauerbegleitung – wahrscheinlich ist in dieser letzten Lebenszeit mehr L E B E N spürbar als in den meisten anderen Lebensphasen.

Gerne spreche ich von „Menschen in ihrer letzten Lebenszeit“ (die übrigens auch mehrere Jahre andauern kann). Worte schaffen Realität – öffnen oder verschließen – verbinden oder trennen. Es liegt in unserer Verantwortung, sensibel mit unserer Sprache umzugehen, die Menschen selbst in den Vordergrund zu rücken und ihnen damit neue Möglichkeitsräume zu eröffnen. Vielleicht können wir dadurch Unterschiede bewirken, die tatsächlich auch Unterschiede machen.

5. Dezember 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 05. Martin Rufer

Ein Unterschied ist ein Unterschied, der (k)einen Unterschied macht

Dass ich immer mal wieder für systematische Therapie angefragt werde, ist das eine. Aber was, wenn der legendäre Satz von Gregory Bateson falsch geschrieben würde? Was wäre dann, wenn so Gelesenes einen Unterschied macht und so in unser Denken und Handeln einfliesst? Wären  mit einer solchen Um-Schreibung die eigene Identität und Haltung dann in Frage gestellt? Oder könnten wir  im Gegenteil Betroffenheit mit all unsern Sinnen wahrnehmen, Stellung beziehen, ohne Angst vor  Polarisierung und dem Vorwurf fehlender Kontextualisierung, denn an grausamen Ekstasen der Gewalt, am Eindringen in die Intimsphäre ändert der Blick auf den Kontext nichts…? Was, wenn wir uns auf Verbindendes, das Gemeinsame, ausrichten, anstatt vorschnell abgrenzend Unterschiede zu betonen? Und schliesslich: könnten ideell hoch gehaltene Unterschiede, die einen Unterschied machen, einem gesellschafts- und berufspolitischen Praxistest überhaupt standhalten?

Wie hat doch Tucholsky einmal gesagt: „Dies ist, glaube ich, die Fundamentalregel allen Seins: Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders.“ Davon sind auch wir Systemiker nicht ausgenommen. Darum mein frommer Adventswunsch: lasst uns in gutem Vertrauen, selbstkritisch und skeptisch bleiben und uns nicht vorschnell hinter Glaubenssätzen verstecken, aus welchen Gründen auch immer..

4. Dezember 2023
von Tom Levold
1 Kommentar

systemagazin Adventskalender 2023 – 04. Hartwig Hansen

Wellenwriter und -reiterinnen

Wie fange ich an?

Schön weit weg – das wird ein „Überblicksartikel“: auf dem Mars und auf der Venus.

Ich bin nämlich „ein Kind der Unterschiedsliteratur“, oder sagen wir besser: Ich ging in die Paartherapeuten-Lehre, als Dr. John Gray aus Kalifornien mit seinem Bestseller auch bei uns Furore machte. Und das mit einer Binsenweisheit, die lautet: Männer sind anders, Frauen auch. Das war der Haupttitel. Aha, das ist ja ‘n Ding! Untertitel der damaligen „Pflichtlektüre“: Männer sind vom Mars. Frauen von der Venus. (Also ganz schön weit voneinander getrennt …)

Und weil diese Metapher der verschiedenen Planeten offenbar eine „Erklärungslücke“ schloss, kam natürlich bald danach das praktische Handbuch dazu: Mars, Venus und Partnerschaft mit so wertvollen Tipps wie: Wie er lernt, ihr zuzuhören, ohne aus der Haut zu fahren bzw. Was sie tun muss, damit er ihr zuhört oder Warum Männer so vergesslich sind und Frauen sich an alles erinnern.

Hoch lebe die vereinfachende Schubladen-Welterklärung! Alle Beziehungsprobleme lassen sich lösen, wenn man die Unterschiede kennt, die Frauen und Männer von wo auch immer – sicher schon seit der Steinzeit – mitbringen.

Aber, ich gestehe: Irgendwie hatte das was. Endlich mal ein konkretes Pack-an, warum das oft so kompliziert ist mit der Verständigung zwischen den Geschlechtern. Ich war doch gerade wild entschlossen, als Paar- und Familientherapeut zu eben dieser Verständigung positiv-aufklärend beizutragen. Darüber musste ich doch Bescheid wissen.

Nach oder mit Dr. Gray ging es dann Schlag auf Schlag – ein Markt war gefunden und wurde systematisch erschlossen. Wer will denn nicht wissen, wie sein Mann bzw. seine Frau „wirklich tickt“. Der Alltag ist ja schon anstrengend genug …

Das australische Ehepaar Allan und Barbara Pease – laut Klappentext gehören sie zu den führenden Kommunikationstrainern der Welt – schenkten uns als schnelle Taschenbuch-Lektüre Ganz natürliche Erklärungen für eigentlich unerklärliche Beziehungen. (Auf einer Bahnfahrt Hamburg-Köln durchzuarbeiten!) Der entsprechende Haupttitel aus der legendär gewordenen „Warum-Sparte“ lautete: Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen.

(Man achte auf das immer im Titel. Laut Manfred Priors MiniMax-Intervention Nummer 4 stimmt Immer in Verbindung mit einem Symptom nie!) 

Der erste „Aufklärungs-Knüller“ des Ehepaar Pease half uns schon mit Antworten auf die Frage: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken: Ein Kasten-Zitat von Seite 232: Ganze Männer weinen auch, allerdings nur, wenn ihr Gefühlssegment in der rechten Gehirnhälfte aktiviert ist. Genau, ahnte ich es doch! Bin ich denn wirklich (schon) ein ganzer Mann?

Oder auf Seite 251 – Achtung Kalauer: Was ist der Unterschied (sic! Anm. d. A.) zwischen einem Mann in der Midlife-Krise und einem Zirkusclown? Antwort: Der Zirkusclown weiß, dass er komische Klamottem anhat … (Okay, ausgesprochen müder Publikums-Applaus!)

Passend zu der aufkommenden „Simplify“-Mode warf auch die amerikanische Seminarleiterin Cris Evatt ihren Hut in den Ring der Unterschiedsliteratur. Laut Klappentext lernt man bei ihr, wie man sich das Leben leichter macht („Simply Organized!).

So bringt sie naturgemäß ebenso bahnbrechende wie simple Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf den Punkt: Respektiert werden ist für Männer wichtiger als für Frauen. (Überschrift auf Seite 46 – Das Zitat zeige ich meiner Frau lieber nicht …) oder auf Seite 82: Recht haben ist Männern wichtiger als Frauen (nach 25 Jahren Paarberatung bin ich da nicht so sicher …).

Ach, das bringt Spaß, die alten Unterschieds-Schinken noch einmal aus dem Regal zu klauben und durchzublättern. Hier ein Schmunzeln, hier ein Kopfschütteln, und dann doch eher der Impuls: Schnell wieder zurück ins Regal!

Damals fand ich das hoch spannend, vor allem weil ich mich und meine Verflossenen tatsächlich immer mal wieder in diesen Simplify-Schubladen wiederentdeckte.

Wir gingen in die Broadway-Theater-Klassiker Caveman und Cavewoman und ich merkte mir zum Beispiel den Unterschieds-Satz vom Kollegen Michael Mary aus seinem Ratgeber Schluss mit dem Beziehungskrampf: Männer leiden in Beziehungen eher unter der Enge, Frauen eher unter dem Mangel.

Den fand ich brauchbar griffig, um ihn in Beratungen im Hinterkopf zu behalten.

Dann betrat auch noch der schreibende Chaot (Selbstbeschreibung in der Buchwidmung) Mario Barth aus Berlin die (Comedy)Bühne. Ich zitiere hier (laut Wikipedia-Eintrag) die Titel seiner Soloprogramme, mit denen er Stadien füllte: 2001: Männer sind Schweine, Frauen aber auch! 2006: Männer sind primitiv, aber glücklich! 2009: Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch! 2012: Männer sind schuld, sagen die Frauen! 2015: Männer sind bekloppt, aber sexy! 2018: Männer sind faul, sagen die Frauen! 2022: Männer sind Frauen, manchmal aber auch … vielleicht!

Geht’s denn noch konsequenter (und ermüdender) mit der Schubladen-Zuschreibung?!

Sein Langenscheidt-Bestseller Deutsch-Frau, Frau-Deutsch versprach zudem folgerichtig Schnelle Hilfe für den ratlosen Mann, ein genialer Marketing-Coup. Ich verweigere Ihnen an dieser Stelle die „Erleuchtung“ durch illustre Zitate aus dieser Macho-Fibel (oder -Bibel?). 

Als das „Umsatz-Pferd der Unterschiedsliteratur“ zu lahmen begann, weil es – übermäßig beansprucht – schon fast totgeritten worden war, kam eine neue Welle, und die ließ sich mit dem Titel des Mega-Sellers von Beziehungs- und Karrierecoach Eva-Maria Zurhorst auf den Punkt bringen: Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest. Wer hat sich wohl diesen koketten, im Grunde völlig bescheuerten Titel ausgedacht?

Die nächste Stufe wurde gezündet: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? Egal, Hauptsache, du weißt, wer du bist und was du willst!

Getoppt dann in den letzten Jahren noch durch die zahlreichen Erfolgs-Titel von Stefanie Stahl unter dem programmatischen Motto: Das Kind in dir muss Heimat finden.

Über die (vermeintlich nachweisbaren oder auch nur vermuteten) Unterschiede zwischen Frauen und Männern war das Publikum jetzt offenbar ausreichend aufgeklärt, jetzt wurde die „persönliche Reise nach innen bzw. in die eigene Kindheit“ (wieder) das Gebot der Stunde.

Jetzt sollte man in seinen Beziehungen selbst „einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht“, indem man sich mit den Licht- und Schatten-Erfahrungen der eigenen Vergangenheit konfrontierte. In der Hoffnung, dass es die Partnerin bzw. der Partner auch tun möge.

Da kann ich durchaus mitgehen, dass ist sicher hilfreich für eine verständnisvollere Kommunikation in Beziehungen, wenn ich über mich und meine Prägungen Bescheid weiß.

Aber warum muss das alles immer so kategorisch, ausschließlich, imperativ daherkommen?

Nach der Maxime: Kauf dieses Buch und befolge meine Ratschläge! Dann wirst du (endlich) beziehungsfähig, erfolgreich, zufrieden, glücklich … (Aufzählung bitte selbst fortsetzen)! 

Aber auch nur so!

Was kommt wohl als Nächstes? Man darf gespannt sein. Oder auch nicht. (Wählen Sie bitte selbst.)

Ich stelle während dieser reflektierenden Regal-Reise für mich fest: In meinem Hirn-Depot haben sich im Laufe der Jahre durchaus einige „Erkenntnisse aus der Unterschiedsliteratur“ angesammelt, nicht zuletzt u.v.a. auch aus den Büchern von John M. Gottman, Gary Chapmann und David Schnarch, die ich hier natürlich nicht unerwähnt lassen kann. Ich nahm mir vor, sie „privat“ als Optionen abzulegen und sie den ratsuchenden Paaren nicht plump als „empirische Wahrheiten“ auf dem Beratungs-Tablett zu servieren. Immer unter dem Fragen-Motto: Was halten Sie zum Beispiel von der These, dass Frauen und Männer unterschiedlich denken, fühlen, lieben, streiten, trauern? Dass sie Unterschiedliches brauchen, wünschen, anstreben und dass sie dabei unterschiedlich vorgehen? Wie erleben Sie das in Ihrer Beziehung?

Und schon kommt man ins Gespräch, nicht allgemein-vereinfachend, sondern konkret persönlich erlebt und jetzt im gemeinsamen Reflexions-Fokus. 

Ein mir eindrücklich erinnnerbares Unterschieds-Beispiel zum Schluss:

Frau A. formuliert in der dritten Beratungssitzung, sie leide sehr darunter, dass sie sich von ihrem Mann nicht ausreichend unterstützt fühle, wenn sie belastet und erschöpft sei. Auch bei der Betreuung ihrer zwei kleinen Kinder, immer sei sie so alleine zu Hause … Ihr kommen die Tränen. Herr A. schaut betroffen auf seine Fußspitzen.

Mein Hirn-Depot liefert mir einen Info-Impuls aus der Vorgeschichte: War da nicht was in der Familie von Herrn A.?

Beide sind bereit, auf mein Angebot einzugehen, die Familiengenogramme aufzumalen.

Und Herr A., 35 Jahre, erzählt: „Ich bin ja der Älteste von drei Geschwistern. Meine kleine Schwester Marie ist sechs Jahre jünger und mein mittlerer Bruder Michael ist zwei Jahre nach mir geboren.“ Pause. „Und Michael ist seit damals behindert geblieben, da ist nach der Geburt was Gravierendes schiefgelaufen im Krankenhaus. Meine Mutter hat ihn achtzehn Jahre zu Hause gepflegt. Vor fünfzehn Jahren ist er dann gestorben.“ Pause. „Das war sehr schwer für meine Mutter.“

Ich frage vorsichtig nach: „Und für Sie?“ 

Herr A. schaut auf den aufgemalten Genogrammbeginn, dann sagt er zögernd: „Ich glaube, es war gut, dass meine Mutter entlastet wurde …“

„Entlastet …“, wiederhole ich.

„Ja, das war eigentlich zu viel für Mama, achtzehn Jahre Sorge und kein Ende in Sicht … Das war schon sehr schwer für sie.“

Ich schaue zu Frau A., sie weint erneut.

Vielleicht ist es zu früh, aber ich versuche, eine Brücke zu schlagen, indem ich mich an Herrn A. wende: „Was meinen Sie? Kann es sein, dass Ihre Erfahrungen von klein auf an, mit Michael, Marie und Ihrer Mutter – und was hat Ihre Mutter alles geleistet –, dass das alles auch Auswirkungen auf Ihre heutige Beziehung hat?“

Herr A. schaut mich an, dann lange zu seiner Frau, dann wieder auf die ersten Genogramm-Symbole. Schließlich sagt er: „Wahrscheinlich schon – sicher!“

Pause. Ein Anfang ist gemacht.

In der Folgesitzung berichtet das Ehepaar A. von weiteren guten Gesprächen über ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit Erschöpfung, Hilflosigkeit und gefühlter Aussichtslosigkeit. Frau A. zeigt sich erleichtert.

Mein Ausbilder Martin Kirschenbaum (1928 – 2012) fasste die Sache mit den Unterschieden wie folgt zusammen: Natürlich geht es in Paarberatungen immer (!) darum, wie die Beteiligten mit den Unterschieden ihrer Prägungen, ihrer Herkünfte, ihrer Wünsche, Erwartungen, Zielen und ihrem unschiedlichem Kommunikations- und Lösungs-Know-how umgehen. Konfrontativ und in Streitschleifen ums Rechthaben gefangen („Mach es doch endlich, wie ich es gewohnt bin!“), oder wohlwollend, respektvoll und mit dem anhaltenden Zugang zu liebenden Gefühlen („Okay, du bist anders, erzähl mir bitte mehr darüber …“).

Also: Die Welt ist Unterschied, Unterschiede sind die Welt.

Da muss ich nicht auf den Mars fliegen, das merke ich schon bei uns im Wohnzimmer. Und im Schlafzimmer. Ach ja, Moment – ich glaube, auch in der Küche … Und beim Autofahren … Und …

Hartwig Hansen, Hamburg

www.beratung-supervision-hamburg.de

2. Dezember 2023
von Tom Levold
5 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 02. Barbara Kuchler

Wo finde ich im sozialen Leben Unterschiede (zwischen Menschen), die einen Unterschied machen, die irgendetwas in mir bewegen, die meinen inneren Zustand ändern, die dem Ideenmix in meinem Hirn einen neuen Anstoß gebe? 

Wir sehen es mit Besorgnis – als gute Systemiker und Gutmenschen und Linksliberale –, wenn Trump-Fans und Neue Rechte und Coronaschwurbler sich nur in ihren eigenen Blasen aufhalten und nichts von außerhalb an sich heranlassen. Aber ich halte mich auch 95% der Zeit in Blasen auf, zum Beispiel in der Systemikerblase, die auch eine Blase ist, oder in der Universitätsblase, die auch eine Blase ist. 

Mir hat mal ein kluger Mensch gesagt, der in einer internationalen Forschungsgruppe in der Pharmaforschung arbeitet: Wenn ein Außenstehender einen oberflächlichen Blick in ihr Labor werfen würde, wäre er beeindruckt, wie divers und gemischt und global es da zugeht, mit Leuten aus Indien und Finnland und den USA, die alle zusammen an denselben Projekten arbeiten. Aber wenn man genauer hinschaut, ist es die totale Blase von Leuten, die alle ähnlich ticken, auch wenn sie aus verschiedenen Ecken der Welt kommen. Es sammeln sich dort nämlich Leute, die das Profil des „nerdigen Naturwissenschaftlers“ erfüllen, oder des spezialbegabten Dorfkindes, das von irgendeinem Lehrer oder Stipendiumprogramm entdeckt wird und es aus dem indischen Dorf in die internationale Pharmaforschung schafft. Und im Labor sind sie dann alle zusammen und sprechen vielleicht verschiedene Sprachen, aber sie ticken alle gleich. 

Ein anderer kluger Mensch hat mir gesagt, dass sogar New York, eine Stadt mit besonders vielen diversen und bunten Menschen, in gewisser Weise eine Blase ist. Es ist nämlich eine Blase von Leuten, die dort, wo sie herkommen, jeweils der „bunteste Hund“ im Ort waren, die es gewöhnt sind, in ihrer Umwelt die jeweils Verrücktesten, Ehrgeizigsten, Krassesten, Besondersten zu sein. Die sind es nämlich, die dann nach New York ziehen, (in Deutschland: nach Berlin), und dort treffen sie sich dann und steigern sich aneinander nochmal hoch in ihrer Bunter-Hund-Heit, und deshalb ist das Leben dort so überdreht und anstrengend. Ich kenne New York nicht, aber es klang einleuchtend.

Wenn das so ist, wo ist man dann eigentlich nicht in einer Blase? Ich finde: am ehesten in Freizeitorganisationen, also dort, wo Menschen mit einem Teil ihrer selbst sind, der nicht „sie“ in ihrer Existenz, in ihrem Kern definiert, in ihrer ganzen Lebensweise oder Selbstdefinition. Für mich ist das zum Beispiel meine Samba-Band. Dort treffen sich Leute, die gern sehr laute Rhythmen auf sehr großen Trommeln spielen, aber ansonsten so gut wie gar nichts gemeinsam haben. Sie kommen aus allen Altersgruppen, allen Berufsgruppen, allen Milieus, (nicht unbedingt allen politischen Überzeugungsgruppen, muss ich zugeben). Das ist keine Blase, das ist eine entschiedene Nicht-Blase, und es ist eine Gruppe, die mir entschieden gut tut. Man kann dort viel lernen darüber, wie andere Menschen die Welt sehen, und man kann sehen, wie man selbst mit seinen Ansichten ankommt bei Leuten, die nicht apriori eh schon so denken wie man selbst. Und manchmal freut man sich dann, wenn man dort einen Menschen trifft, der auch so tickt wie man selbst, der dieselbe Sprache spricht, zum Beispiel die Systemikersprache. Das ist dann eine besondere Freude und nicht der selbstverständlich anzunehmende Normalzustand. 

Ein zweiter Raum, wo man Menschen außerhalb der eigenen Blase treffen kann, ist übrigens die Familie, im Sinn der erweiterten Familie. Auch dort gibt es in den meisten Fällen Menschen, die ganz anders ticken und ganz andere Leben leben als man selbst. Das Vergnügen ist dort allerdings meist gemischter, weil nicht nur die Heimeligkeit der Blase fehlt, sondern auch noch der selbstgewählte Verbindungspunkt der Neigungsgruppe, mal abgesehen davon, dass es emotionale Altlasten geben kann. Ich jedenfalls sehne mich dann doch schnell wieder in meine Blasen zurück, wo niemand einen Unterschied macht und ich in beruhigender, wohliger Unterschiedslosigkeit aufgehen kann. 

Wer will, kann insofern die Familientreffen aus weihnachtlichen und sonstigen Anlässen nicht nur als Fest der Gemeinsamkeit, sondern auch als Fest der Unterschiede begehen.

1. Dezember 2023
von Tom Levold
3 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 01. Wolfgang Loth

Liebes systemagazin-Publikum,

wie in den vergangenen Jahren gibt es im systemagazin einen Adventskalender, der mit Beiträgen aus Ihrer Mitte bestückt ist. Dieses Jahr wurde dazu eingeladen, Gedanken, Geschichten, Bilder usw. zum Thema „Unterschiede, die einen Unterschied machen“ als Kalendertürchen einzureichen. Den Start macht heute Wolfgang Loth. Ich wünsche Ihnen allen eine hoffentlich gesunde und friedliche Adventszeit.
Herzliche Grüße, Tom Levold (Herausgeber systemagazin)

Wolfgang Loth, Niederzissen: Batesons Walden


Eines Tages kam unerwartet Besuch. Heraklit stand vor der Tür. Bateson freute sich, zeigte Heraklit seine Hütte und das umgebende Land: „Mein Kontext!“. Heraklit zögerte einen Moment, dann fast beiläufig: „Wie wäre es mit kontexten, Gregorios?“. Bateson nickte: „Ich weiß, alles fließt…“. „Wenn das alles wäre“, brummte Heraklit, „als ob das die Information wäre! Ich habe doch immer wieder gesagt…“. Bateson unterbrach ihn, „Was soll’s! Kein Grund, gleich den Blues zu kriegen. C’est la vie“. Heraklit stimmte zu: „Ja, besser, dann lieber Rhythm and Blues“. Und dann beinahe heiter, der Gedanke schien ihm zu gefallen: „Das wär’s doch, Gregorios, der Rhythmus macht den Unterschied, Rhythmós, das Fließen…!“. Die beiden verschwanden in der Hütte, nur noch undeutlich war etwas zu hören von einem Bit, manche glaubten auch, Malcolm gehört zu haben, aber sicher war sich da keiner. Mehr ist im Übrigen von dieser Begegnung nicht überliefert.

27. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Vom Nutzen systemischen Denkens für die Supervision

Kurt Buchinger

Heute wäre der österreichische systemische Organisationsberater, Supervisor, Gruppenanalytiker und Psychoanalytiker Kurt Buchinger (1943-2017) 80 Jahre alt geworden. An der Universität Kassel hatte er eine Professur für Supervision und Organisationsberatung, an der Entwicklung einer spezifischen systemischen Perspektive auf Supervision hatte er einen bedeutsamen Anteil. Gemeinsam mit Susanne Ehmer formulierte er einige Gedanken zum Nutzen systemischen Gedenkens für die Supervision, die 2004 in der Verbandszeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Supervision DGSv Aktuell erschienen. Darin heißt es: „Wenn wir in der Folge von systemischen Konzepten sprechen, so beziehen wir uns weniger auf die Schulen systemischer Beratung mit ihrem ausgearbeiteten Repertoire an Methoden. Wir beziehen uns vielmehr auf einen grundlegenden Zugang zu sozialen Sachverhalten, auf eine Haltung, welche die Konzeption, Wahrnehmung, Beobachtung sozialer Systeme und die Kommunikation über sie bestimmt.

Es geht uns also um systemisches Denken in seinem eminenten Praxisbezug. Wir glauben, dass man sich als Therapeut, Berater, Supervisor – ganz besonders als Supervisor – in der Auswahl der Methoden auch dann weiterhin frei fühlen kann, wenn man systemtheoretisch denkt und dieses Denken die Grundlage professionellen Handelns in den genannten Beratungsformen darstellt. Mehr noch, wir glauben, dass die Freiheit in der Auswahl der Methoden, die ja gerade für die Supervision charakteristisch ist, durch systemisches Denken erhöht wird. Systemisches Denken limitiert den Profi einer der genannten Beratungsformen nicht auf den Einsatz von Interventionen, die sich in Abgrenzung von anderen Schulen als systemische bezeichnen. Ganz im Gegenteil.

In diesem Sinne glauben wir, dass systemtheoretisches Denken der Supervision nicht nur nützlich ist, sondern ihr mehr als jede andere Denkrichtung entspricht. Denn es ist ein Denken in Zusammenhängen, das besser als jede andere theoretische Ausrichtung der Komplexität des Gegenstandes der Supervision gerecht wird.“

Der Text ist hier auch im Netz zu finden…

26. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – Reminder

Liebes systemagazin-Publikum,

ein kleiner Reminder: Am kommenden Freitag startet der systemagazin-Adventskalender und auch wenn schon einige schöne Beiträge eingetrudelt sind, möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal herzlich einladen, mit einem kleinen Beitrag dafür zu sorgen, dass der Kalender wie in den vergangenen Jahren voll wird. Worum es in diesem Jahr geht, lesen Sie hier…

19. November 2023
von Tom Levold
1 Kommentar

Um Himmels Willen, Margaret!

Margaret Mead (16.12.1901-15.11.1978)

Lina Nagel ist Autorin des Buches „Kybernetik, Kommunikation und Konflikt“, in dem es um „Gregory Bateson und (s)eine kybernetische Konflikttheorie“ geht. Im Magazin des Carl-Auer-Verlags erscheint seit kurzem ein neuer Podcast von ihr über die Theorie und Geschichte der Kybernetik mit dem Titel „Cybernetics of Cybernetics“. In der zweiten Folge, die am 15. November erschienen ist, geht es um die Frühgeschichte der kybernetischen Bewegung in den 1940er Jahren, an der Gregory Bateson und seine erste Frau, Margaret Mead, aktiv beteiligt waren. Margaret Mead war die einzige weibliche Teilnehmerin an den Macy-Konferenzen, die für den transdisziplinären Diskurs der Kybernetik von größter Bedeutung waren. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie eine der bekanntesten und einflussreichsten Wissenschaftlerinnen in den USA.

Bateson und Mead waren von 1936 bis 1950 miteinander verheiratet und trennten sich 1947, blieben aber in einem wohlwollenden Kontakt. Interessanterweise fällt die Veröffentlichung dieser Podcast-Episode zufällig mit dem 45. Todestag von Margaret Mead zusammen, die am 15.11.1978 im Alter von 76 Jahren in New York gestorben ist. Nagel zitiert als Quelle ein ebenso unterhaltsames wie lesenswertes (Streit-)Gespräch zwischen Mead und Bateson, das von Stewart Brand moderiert und im Juni 1976 in der Zeitschrift CoEvolutionary Quarterly veröffentlicht wurde. Zwei Jahre vor Meads und vier Jahre vor Batesons Tod (1980) rekapitulieren beide ihre Erinnerungen an die ersten Macy-Konferenzen, ihre damaligen Kollegen und streiten über ihre Konzepte von Forschung und (u.a.) den Einsatz von Stativen in der ethnografischen fotografischen Dokumentation.

In Brands Einleitung zum Gesprächstranskript heißt es: „Margaret is now 75 [74!], Gregory 72. They meet seldom though always affectionately. Gregory has a son John, 23, by his second wife, and a daughter Nora, 9, by Lois Bateson his present wife. This meeting with Margaret took place at Gregory’s home near Santa Cruz, California, in March of this year [1976].“ Der vollständige Text ist im Internet hier zu finden…

14. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Kristina-Hahn-Preis 2024

2024 vergibt die Systemische Gesellschaft e.V. (SG) zum zweiten Mal den Kristina-
Hahn-Preis. In Erinnerung an das langjährige Vorstandsmitglied Kristina
Hahn, die 2020 verstorben ist. Der mit 9.000 € dotierte Preis soll sozialen Unternehmen,
Organisationen oder Initiativen für ihre Umsetzung innovativer Projekte in der Sozialen
Arbeit verliehen werden. In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf innovativen Projekten zur
Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter. Die SG bittet um Bewerbungen für den Preis bis zum 15.4.2024, wobei die eingereichten Projektpräsentationen einige der folgenden Schwerpunkte
berücksichtigen sollten:


a) Sie sind modellhaft in ihrer Bedeutung für besonders gut gelungene systemische und
lösungsorientierte Konzepte der Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter.
b) Es geht um grundlegende Prinzipien wie gesellschaftlichem Zusammenhalt und den
Schutz der Menschenrechte. Es werden systemische Methoden entwickelt und
erprobt, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene niedrigschwellig dabei
unterstützen sollen, ihre gesellschaftlichen Teilhabe- und Mitbestimmungsrechte
wahrzunehmen.
c) Sie entwickeln neue systemische Ansätze für die präventiv-pädagogische Arbeit mit
Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie fördern das Erkennen und
Wahrnehmen von Gestaltungsmöglichkeiten bis hin zum Entdecken und Umsetzen
vielfältiger Formen der Zivilcourage.
d) Sie geben Impulse für die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen und
unterstützen das Engagement der Menschen für Demokratie.
e) Die entwickelten systemischen Methoden und Materialien sollen in der
pädagogischen Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sowie in anderen Regelstrukturen
eingesetzt werden können.

Bei Vorliegen mehrerer gleichwertiger Projekte kann das Preisgeld geteilt werden.
Alle eingereichten Projektideen werden auf der Website der Systemischen Gesellschaft
e.V. in einer Kurzfassung veröffentlicht. Herausragende Projekte können sich nach
Absprache in Fachgesprächen Online vorstellen und auf diese Weise mit Experten und
Interessenten in die Diskussion gehen und Anregungen für die eigene Praxis anbieten.

Die Preisverleihung wird im Rahmen der Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft e.V.
am 21./22. Juni 2024 in Berlin stattfinden.

Fristende für die Einreichung der Projektbeschreibungen ist der 15.04.2024. Die
Projektbeschreibungen werden vom Vorstand der Systemischen Gesellschaft geprüft,
der dann das preiswürdige Projekt bestimmt. Es wird um eine aussagekräftige,
präzise Projektbeschreibung gebeten, die nicht mehr als fünf DIN-A4-Seiten umfassen sollte.

Die Projektbeschreibung soll per E-Mail an die Geschäftsführung der SG unter gf@systemische-gesellschaft.de gesandt werden.

12. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Einladung zum systemagazin-Adventskalender 2023: Unterschiede, die einen Unterschied machen

Liebes systemagazin-Publikum,

in knapp drei Wochen ist es Dezember und wie in den vergangenen Jahren möchte ich Sie auch dieses Mal wieder einladen, sich mit einem kleinen Beitrag am diesjährigen Adventskalender im systemagazin zu beteiligen, der nun schon eine langjährige Tradition hat.

Dieses Jahr möchte ich den Kalender dem Thema „Unterschiede“ widmen, einem Thema, das ja im systemischen Feld eine bedeutsame Rolle spielt.  

Gregory Bateson, einer der wichtigsten Pioniere systemischen Denkens, definierte eine Information bzw. eine Idee als einen „Unterschied, der einen Unterschied macht“. Darunter verstand er ein rein geistiges Phänomen, denn für ihn existierten die Unterschiede nicht in der physikalischen Welt: „Die Erklärungswelt der Substanz kann keine Unterschiede und keine Ideen anführen, sondern nur Kräfte und Einflüsse. Und umgekehrt führt die Welt der Form und der Kommunikation keine Dinge, Kräfte oder Einflüsse an, sondern nur Unterschiede und Ideen. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, ist eine Idee“ (Ökologie des Geistes, Suhrkamp 1981, stw 571, S. 353).

Unsere sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen und Diskurse sind von Unterschieden geprägt, die sich in vielen gesellschaftlichen und politischen Felden in den vergangenen Jahren zunehmend polarisiert haben. An die Stelle von Argumenten treten immer mehr ideologische und propagandistische Geltungsansprüche – die gesellschaftliche Kommunikation wird in atemberaubendem Tempo emotionalisiert und moralisch aufgeladen. Diese Unterschiede verlieren aber ihren Informationsgehalt, weil sie keinen Raum für neue Ideen anbieten, sondern nur die Wiederholung und Bestärkung der jeweiligen Positionen markieren. 

Systemische Veränderungspraxis läuft im Gegensatz dazu auf die Generierung von Unterschieden hinaus, die in der Lage sind, konstruktive Veränderungen anzustoßen. Unterschiedsbildung im Sinne von Gregory Bateson hieße hier nicht Polarisierung, sondern Differenzierung und Kontextualisierung. Unterschiede, die nicht nur trennen, sondern auch verbinden können. Sind die Unterschiede zu klein, lösen sie keine Veränderungsimpulse aus, sind sie zu groß, können sie von den betreffenden Systemen nicht verarbeitet und integriert werden.

Ich möchte Sie einladen, Ihre eigenen Reflexionen zu diesem Thema für ein Kalendertürchen zur Verfügung zu stellen. Mich interessiert, welche guten Erfahrungen Sie mit Unterschieden, die einen Unterschied machten, in ganz konkreten Situationen gemacht haben bzw. welche Sie sich für die gegenwärtigen dominanten Konfliktfelder wünschen oder vorstellen könnten. Das können Geschichten und Anekdoten aus Ihrer beruflichen oder privaten Lebenspraxis sein, inhaltliche Reflexionen zum Thema oder Beispiele, die Ihnen aus der Geschichte oder der Kunst und Literatur dazu einfallen. Sie können aber auch einfach ein Bild einsenden, dass Ihre Vorstellungen vom Thema symbolisieren kann, oder ein lesens- und erinnerungswertes Zitat zum Thema beisteuern.

Wie immer bleibt die Form also Ihnen ganz überlassen. Analysen, Pamphlete, zirkuläres Hypothetisieren, reflektierende Dialoge, Horoskope, Briefe aus der Zukunft in die Vergangenheit, Geschichten, Weissagungen, Satire, persönliche Bekenntnisse – alles hat seinen Platz, und der ist im Internet nicht begrenzt. Kleine Bedingung: Ihr Text sollte etwas mit der gestellten Frage zu tun haben 🙂 

Ich hoffe, dass ich Ihnen Lust gemacht habe, ein Türchen zu gestalten und freue mich schon jetzt auf Ihre Zusendungen an:

levold@systemagazin.com.

Ich hoffe, dass wir wie in den vergangenen Jahren den Kalender füllen können. Jedenfalls wird für alle Platz im Kalender sein (auch wenn es mehr als 24 Beiträge werden sollten).

Herzliche Grüße

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

8. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Beratungen im Dorf der Unbeugsamen

Vom 14. bis 16. September diesen Jahres fand in Wiesbaden die wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) statt, die unter dem Titel „Karussell der Kulturen – systemisch-interkulturelle Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ stand. Barbara Kuchler hat einen sehr informativen Tagungsbericht verfasst, der auch denjenigen, die nicht an der Tagung teilnehmen konnten, eine gute inhaltliche Einordnung ermöglicht.

Barbara Kuchler, München: Beratungen im Dorf der Unbeugsamen: Bericht von der DGSF-Jahrestagung 2023

Barbara Kuchler

Ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen hat in irgendeiner Weise eine Migrationsgeschichte, und im Übrigen auch ein zunehmender Anteil der systemischen Praktiker, wenn auch noch deutlich weniger als ein Viertel. Angesichts dessen ist es zeitgemäß, dass die diesjährige Tagung der DGSF sich mit dem Thema Kultur und interkultureller Austausch beschäftigte. Anregend und durchaus nicht in allem einig waren die Vorträge, Workshops und Diskussionsbeiträge, die unter dem Titel „Karussell der Kulturen“ in Wiesbaden geboten wurden.  

Um den Begriff der Kultur macht man dabei besser einen weiten Bogen. Es gibt zweihundertfünfzig verschiedene Kulturbegriffe, konnte man lernen, was einerseits abschreckend ist, andererseits aber auch praktisch, denn es gilt dann: „Woran immer Sie bei diesem Begriff denken, es ist richtig“ (Kirsten Nazarkiewicz). Aber auch wenn man nicht sagen kann, was Kultur eigentlich ist: Dass Kulturen öfter zusammenstoßen und dass die Koexistenz verschiedener Kulturen nicht immer einfach ist, kann jeder täglich erleben. Dabei ist „Kultur“ manchmal auch ein Tarnbegriff für „Rasse“ (ein Begriff, der in Deutschland gar nicht geht), oder alternativ „Ethnizität“ (ein möglicher, aber nicht immer leichtgängiger Begriff) (Astride Velho). Die Tagung beschäftigte sich auch mit Fragen in dieser zweiten Richtung, also Fragen von Rassismus und Diskriminierung, die ja in gewissem Maß quer zur Kulturdimension liegen – denn nicht jeder, der rassistisch diskriminiert wird, hat zwangsläufig auch einen anderen Kulturhintergrund, und nicht jeder, der kulturell anders sozialisiert ist, ist ethnisch oder sonst äußerlich erkennbar. 

Weiterlesen →

6. November 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Niklas Luhmann und Alexander Kluge

Heute vor 25 Jahren starb Niklas Luhmann im Alter von nur 70 Jahren. Ein wunderbares Interview, dass Alexander Kluge mit ihm in seinem Format dctp im Jahre 1994 geführt hat, ist wirklich ansehenswert und bringt Luhmann noch einmal auf eine besondere Art und Weise nahe. Viel Spaß beim Zusehen…