Ullrich Fellmeth, Stuttgart:
Nein, es ist keine Begeisterung oder Euphorie bei mir ausgebrochen an jenem Fernsehabend, als sich unter dem Andrang der Massen die Mauer öffnete. Wohl aber eine gewisse Ergriffenheit gegenüber den in meinen inneren Bildern vorrätigen Schicksalen vieler Beteiligter und vor allem Erleichterung, dass es so friedlich, wie kaum vorstellbar, verlaufen ist. Als die politische Frage dann mindestens mal für diesen Abend geklärt war wurde es mir irgendwann auch zu viel und ich habe mir Marius Müller Westernhagen aufgelegt, vor allem „Freiheit“.
Seltsam, dass dieser Song später in einer Live-Version zu einer Art Hymne der Wiedervereinigung wurde, denn mein bevorzugter Textteil hieß:
Freiheit, Freiheit, Ist die einzige, die fehlt.
Der Mensch ist leider nicht naiv. Der Mensch ist leider primitiv.
Freiheit, Freiheit, wurde wieder abbestellt.
Ich habe mich dann sehr lange sehr fern von den „neuen“ Bundesländern gehalten, entgegen der hektischen Betriebsamkeit vieler diakonischer Schwestern und Brüder. Ja, Berlin ist aufgelebt und auch Städte wie Eisenach, Halle, Erfurt und Weimar habe ich gerne besucht, an der Wiege der Reformation und der SPD, umweht vom Mantel europäischer Geschichte der Geisteswissenschaften.
Aber ansonsten habe ich lieber Abstand gehalten von diesem so oft als rückwärts gewandt, negativ aufgedreht und ewig benachteiligt beschriebenen Osten des wieder vereinten deutschen Reichs.
Meine Wende kam erst vor wenigen Jahren, eingeleitet durch einen kleinen familiären Schock. Nach dem Sohn wollte partout auch unsere Tochter nach Leipzig ziehen zum Studium, wo ihr doch alle großen Universitäten in Westen offenstanden.
Und doch: aus Abwehr und dann Annäherung ist eine Liebe geworden zu Menschen, Orten und eben diesen Widersprüchen als Teil UNSERER Geschichte und Zukunft. In den Wohngemeinschaften und bei Treffen mit vielen spannenden, begabten und sympathischen jungen Leuten mit ostdeutscher Herkunft verändert sich oft die Stimmung, wenn es um die eigenen Eltern und um die Großeltern-Generation geht. Allein die Patchwork-Varianten stellen alles in den Schatten, was wir im Westen so im Laufe der Zeit kultiviert haben. Für mich als Vater und auch den Familientherapeuten eine Herausforderung: die vielen geplatzten Träume und Hoffnungen, die Ungleichzeitigkeiten politischer Veränderungen und persönlicher Krisen, die Achterbahnfahrten zwischen Neuorientierung und Rückfällen, Aufstieg und Fall.
Haben wir alles auch, jedoch nicht in dieser Dimension und nicht vor diesem staats- und gesellschaftspolitischen Hintergrund, doppelt betrogen: vom „neuen Menschen“ im freiheitlichen Sozialismus, der dann doch eher als repressiver Staat mit kleinbürgerlicher Blockwartmentalität daher kam, und den entfesselten Produktionsverhältnissen eine lähmende Planwirtschaft entgegen stellte. Und danach die große Freiheit, die sich als KDW-Gutscheinheft ohne Nachhaltigkeit entpuppte und bei allen demokratischen Errungenschaften, die letzten Reste von Solidarität zugunsten einer Ellenbogenmentalität unter ungleichen Bedingungen beiseite wischte.
Heute hat sich bei mir eine gewisse Nachdenklichkeit eingestellt, ja auch etwas Scham, dem so lange aus dem Weg gegangen zu sein und doch vor allem Freude an meiner eigenen Wiedervereinigung. Wir unterstützen unsere erwachsenen Kinder und deren Bewegungen für Autonomie, Solidarische Wohnprojekte (SOWO Leipzig), Neue Ökonomie, Klimaschutz, „Ende Gelände“, gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit. Und ich habe beste Freund*innen in der DGSF gewonnen aus Leipzig und Dresden in der gemeinsamen Leidenschaft und Zuversicht, gerade auch mit systemischen Konstrukten und Haltungen, mit unseren Potentialen und Ressourcen zur Transformation beizutragen von der individualistischen EGO- zur solidarischen ÖKO-Gesellschaft.