systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

15. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Einheit ohne Humor ist witzlos

Rudolf Klein, Merzig:

Einheit ohne Humor ist witzlos (frei nach F.B. Simon)

Als ich vom diesjährigen Motto des Adventskalenders las, dachte ich: „Das kenne ich doch irgendwoher.“ Und dann fiel mir ein, dass Tom vor genau 10 Jahren schon einmal dazu aufgerufen hatte, den Mauerfall thematisch zum Gegenstand des Adventskalenders zu machen. Ich las meinen damaligen, eher ernsthaften Text und dachte, dass ich nach 10 Jahren nicht viel mehr Neues schreiben und dies der erste Adventskalender sein würde, zu dem ich aus Mangel an Einfällen nichts beitragen könne.
Hinzu kam, dass ich keine Lust hatte, einen bierernsten Text zu schreiben. Die Vorweihnachtszeit und damit auch ein Adventskalender haben für mich eher etwas Leichtes, Lockeres, Beschwingtes. Warum nicht auch mal zum Thema Mauerfall und Einheit? Es wollte mir aber einfach nicht gelingen.

Ich fragte mich zum Beispiel, ob es in einem so komplexen Vorgang wie dem Zusammenwachsen zweier Staaten nicht vielleicht um noch langsamere Langsamkeit, um noch geduldigere Geduld gehen sollte statt um Beschleunigung oder das Lamentieren über die zu geringe Geschwindigkeit des Prozesses. Damit ausreichend Zeit und Muße für die Frage übrig bleibt, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede existieren, wie sich diese entwickelt und erhalten haben, wie wir sie verstehen könnten und ob sie bestehen bleiben, sich stärker herauskristallisieren sollten oder eben nicht. Damit die „sanfte Revolution“ Zeit zur Entwicklung hat und nicht vorschnell als beendet erklärt wird. Denn wenn sie zu Ende wäre, was wäre dann „der Anfang“? Kürzlich las ich den Satz: „Eine gute Revolution ist nicht unter 800 Jahren zu haben.“ (Kluge 2017, S. 139).

Vielleicht sollte auch der Begriff „Einheit“ und die damit zusammenhängenden Assoziationen nicht so selbst-verständlich hingenommen werden. Was soll das eigentlich sein, „die“ Einheit? Woran merkt man, wenn sie erreicht ist? An einer Unterschiedslosigkeit etwa? Ich hoffe nicht.

Ich möchte vorhandene Konfliktfelder nicht ausblenden und kann nur ungläubig meinen Kopf über meine langjährige Haltung schütteln, die DDR als das interessantere System eingeschätzt und über menschenverachtende Stasi-Bespitzelungen hinweggesehen zu haben.

Ich möchte aber auch nicht in die Position verfallen, Einheit mit (Verteilungs-) Gerechtigkeit oder Gleichheit zu verwechseln und diese auch noch für herstellbar, machbar, kontrollierbar, gar produzierbar zu halten. Das wäre eine Hoffnung (oder: Aberglaube), die einem Machbarkeitswahn verfallen ist und notwendig Enttäuschungen gebiert.

Und es beschleicht mich noch ein ungewöhnlicher Gedanke. Vielleicht wird Einheit erst erlebt werden können, wenn vergessen wurde, dass es zwei Staaten gab. Erinnerung führt halt dazu, immer und immer wieder den Unterschied herauszukristallisieren, zu vergleichen und Differenzen zu bewerten. Oder anders formuliert: Eine Erinnerungskultur führt nicht nur zu Jubel – sie hat auch einen Preis. 

Doch halt! Jetzt fallen mir doch tatsächlich Witze ein. Vielleicht täte etwas Lockerheit gut und sicher wäre der eine oder andere dieser Witze nicht schlecht. Aber wie das mit Witzen so ist – ob man über sie lachen kann, hängt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil davon ab, wie hoch der Verbissenheitsquotient hinsichtlich der Thematik Einheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einzuordnen ist. Ich lasse es lieber mit den Witzen.
Zum Glück drängt sich eine andere Geschichte auf. Weniger verfänglich – jedoch möglicherweise verwirrender:

Ein Zen-Meister und ein Meister im Bogenschießen verabreden sich zum gemeinsamen Bogenschießen. Sie platzieren die Zielscheibe an den Rand einer Klippe. Unmittelbar dahinter fällt der Felsen ca. 100 Meter tief ins Meer. Der Meister des Bogenschießens macht den Anfang. Er legt seinen Pfeil ein, spannt die Sehne bis sie seine Wange berührt, und am höchsten Punkt seiner Konzentration lässt er den Pfeil los. Dieser schießt los und trifft genau in die Mitte der Zielscheibe. Ein meisterhafter Schuss.
Dann nimmt der Zen-Meister seinen Pfeil und fädelt ihn in seinen Bogen. Er spannt die Sehne bis sie seine Wange berührt. Am höchsten Punkt seiner inneren Sammlung lässt er den Pfeil los. Der Pfeil fliegt los, hoch über die Zielscheibe hinweg, verfehlt diese um mehrere Meter und landet schließlich weit im Meer. Der Zen-Meister schaut, lächelt und sagt: „Volltreffer!“.

Literatur:
F. von Schirach u. A. Kluge: Die Herzlichkeit der Vernunft. München (Luchterhand)

14. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Wie die Zeit vergeht…

Tanja Kuhnert, Köln

Wie die Zeit vergeht.

Bei Maueröffnung war ich 14 Jahre alt. Ich erinnere mich noch daran, dass ich es gar nicht glauben konnte, war doch die DDR das Land, in dem meine Tante lebte und die zu besuchen immer irgendwie besonders war…

Der Weg war weit: Damals. Mit dem Auto fuhr man von der Eifel bis zum Bezirk Leipzig manchmal bis zu acht Stunden. Je nach Witterung (wir fuhren oft zu Silvester „rüber“), je nach Verkehrssituation, der Schlange an der Grenze (werden wir kontrolliert oder nicht?), je nach Straßenzustand hinter der Grenze …

Der Grenzübertritt war immer aufregend: Einmal hatten meine Eltern meinen Kinderausweis vergessen und befürchteten, dass wir die 8 Stunden wieder zurückfahren müssten, ohne Besuch bei meiner Tante. Aber wir gerieten an einen Grenzsoldaten, der uns wohl gesonnen war: Ich musste mit ihm allein als 8-jähriges Kind in ein Grenzerhäuschen, wo er mir samt neuem Foto einen neuen Ausweis ausstellte.

Die Reise zur Familie meiner Tante war immer spannend. Ich spürte als Kind und Teenager, der noch keine richtige Ahnung davon hatte, warum es BRD und DDR gab, dass irgendetwas ganz anders war, gleichzeitig aber auch nicht.

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13. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – „Vorwärts und nicht vergessen“

Tina Lachner, Hattingen:

Der Fall der Mauer war für mich ein prägendes Ereignis. Etwas Persönliches soll es also nun werden im Adventskalender:

Wenige Jahre vor der Wende war ich mit meinen Eltern im Urlaub im Wendland (dem dünnbesiedelten niedersächsischen „Zonenrandgebiet“). An einem Abend standen wir dann da direkt an der Elbe, auf der anderen Seite des Flusses war die DDR. Meine Eltern erzählten mir, dass da auch Deutschland sei, aber in einem anderen Staat, und dass die Menschen da nicht heraus dürfen, ja sogar die Grenzen mit Schießbefehl bewacht werden. Ich war erschüttert, weil das doch so ungerecht war.

In den Osterferien 1989 war ich dann mit meinen Eltern in West-Berlin ein paar Tage im Urlaub – wow, Urlaub im Hotel und eine so große Stadt … Aber wir haben keinen Tagesausflug in den Osten der Stadt gemacht. Die Erniedrigungen beim Grenzübertritt wollten meine Eltern mir nicht antun. Doch die Zugfahrt durch die DDR hinterließ ein paar Eindrücke, als der ganze Zug an der Grenze kontrolliert wurde. Und dann fiel die Mauer – und die Erfahrung eines Grenzübertritts konnte es nicht mehr geben.

Ich war fast 15 Jahre alt, sah am 9. November 1989 die Nachrichten im Fernsehen und weiß noch, dass ich ziemlich gerührt war. Da hatten die DDR-Bürger seit Monaten demonstriert, einige hatten große Ungewissheit in Kauf genommen, als sie in der deutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten. Und dann war es geschehen – ohne militärisches Eingreifen, irgendwie einfach so! Naja, ganz so einfach war es ja doch nicht, wie wir wissen …

Irgendwas prägte mich so sehr, dass ich im Studium der Erwachsenenbildung meine Diplomarbeit über die Erinnerungsarbeit zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung geschrieben habe. Das war (erst) 10 Jahre nach dem Mauerfall.

Auseinandersetzung mit jüngerer deutscher Geschichte hieß vielfach Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (dessen Thema ich in keinster Weise klein reden möchte!), aber wieso war und ist die deutsch-deutsche Geschichte so wenig Thema im öffentlichen Diskurs – und wenn, dann nur an Gedenktagen?

Wann kommt denn das Systemische? Damals im Studium überzeugte mich die Haltung meines Professors der Erwachsenenbildung, der allerdings diesen ganzen systemtheoretischen und konstruktivistischen „Kram“ geradezu verteufelte, weil es Beliebigkeit gut hieß und seinem Verständnis von erfahrungsorientierter politischer Erwachsenenbildung und der Kritischen Theorie widersprach. Doch haben mich auch systemische Beratung und Organisationsentwicklung wie auch Systemtheorie schon damals interessiert und irgendwie fasziniert. Da schlugen zwei Herzen in meiner Brust. Denn wie konnte ich das eine, also die Kritische Theorie und das andere, also die Systemtheorie schätzen, wenn es sich doch irgendwie so ausschloss?

Heute möchte ich systemisches Arbeiten so verstanden wissen, dass man sich auch im Systemischen an Werten orientieren und Position beziehen kann und muss. Konstruktivistisches Denken muss nicht gleichbedeutend damit sein, dass man in Beliebigkeit verharrt. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich unter anderem für den Diskurs zum Umgang mit „den Rechten“, den Herr Herwig-Lempp vor einigen Jahren angestoßen hat.

Was bleibt und was kommt? „Vorwärts und nicht vergessen…“

Wie bekommt man systemische Haltung inkl. Neutralität oder Allparteilichtkeit mit politischer Orientierung in Anlehnung eine „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) überein? Das Nachdenken darüber ist wichtig – und manchmal ist gerade das wichtig: keine einfache Antwort parat haben und immer wieder die eigene Haltung hinterfragen, also die systemische wie auch die politische.

12. Dezember 2019
von Tom Levold
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In 35 % der Paarfamilien mit Kind unter 3 Jahren arbeiteten 2018 beide Eltern / Aber: Bei 54 % der Elternpaare war der Vater Alleinverdiener

WIESBADEN – In immer mehr Familien mit kleinem Kind arbeiten beide Elternteile: Im Jahr 2018 waren in 35 % der Paarfamilien mit einem Kind unter 3 Jahren beide Eltern erwerbstätig. 2008 waren es noch 29 % gewesen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hängt die Erwerbsbeteiligung der Eltern stark vom Alter des jüngsten Kindes ab. Mit einem Kind unter 1 Jahr arbeiteten 2018 in gut 7 % der Fälle Vater und Mutter. War das Kind 2 Jahre alt, gingen bereits in 60 % der Familien beide Elternteile einer Arbeit nach.

Mit einem jüngsten Kind dieses Alters ergeben sich im Zeitvergleich auch die stärksten Zuwachsraten: 2008 waren nur in gut 44 % der Paarfamilien mit zweijährigem Kind beide Eltern erwerbstätig. 

Bei zwei erwerbstätigen Eltern herrscht Modell „Vater in Vollzeit, Mutter in Teilzeit“ vor 

Paarfamilien mit zwei erwerbstätigen Elternteilen wählten am häufigsten ein Modell, bei dem der Vater in Vollzeit und die Mutter in Teilzeit arbeiten. 24 % der Paare mit einem Kind unter 3 Jahren entschieden sich 2018 dafür. Mit zunehmenden Alter des jüngsten Kindes gewinnt diese Erwerbsaufteilung an Bedeutung: Mit einem Kind unter 1 Jahr arbeiteten nur 4 % der Paare nach der Aufteilung „Vater in Vollzeit, Mutter in Teilzeit“. Mit einem 2 Jahre alten Kind waren es bereits 42 %. Dagegen waren in nur 9 % der Paarfamilien mit einem Kind unter 3 Jahren beide Eltern vollzeiterwerbstätig (mit jüngstem Kind unter 1 Jahr: 3 %; mit jüngstem Kind unter 2 Jahren: 6 %) 

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12. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Fragmente aus einer Wendezeit

Dörte Foertsch, Berlin:

Aus meiner heutigen Sicht scheint mir der „Osten“, also die damalige DDR als sie es noch gab, näher gewesen zu sein als in den Jahren nach dem 9. November 1989. Heute, 30 Jahre später, gibt es immer noch Fremdheitsgefühle, sie sind aber sporadisch geworden und manchmal plötzlich, besonders wenn Menschen von früher erzählen und wie es damals so war.

Seit 1976 lebe ich in Berlin-West, das ist auch heute noch so. Ich habe anfangs in der Nähe der Mauer in Kreuzberg gewohnt und an manchen Stellen drüber schauen können. Der Osten war ja nah, der Alex immer zu sehen – außer wenn es neblig war. Oft bin ich am Tränenpalast über die Grenze oder auch an der Oberbaumbrücke oder an der Sonnenalle, jetzt wohne ich wieder dort. Manchmal fällt es mir noch ein, wie und wo das war, manchmal ist das vergessen. Warschau oder Prag waren nicht weiter weg als Hamburg oder Köln. In welcher Richtung die Grenze zu überschreiten war, es war immer mit gewissen Ängsten verbunden, wie lange wird es dauern, werden wir gefilzt, was werden sie finden was die Reise verhindern wird, meine Reisepässe von damals sind voll mit Stempeln der verschiedenen Grenzübergänge.

An der FU gab es den Studiengang „Kritische Psychologie“, eine politische und gesellschaftliche Sicht auf die Psychologie in Abgrenzung zu naturwissenschaftlichen Konzepten, verbunden mit einer manchmal verklärenden Sicht auf den Sozialismus in der UDSSR und der DDR. Das Thema Ökologie in der DDR wurde komplett ausgeklammert, obwohl ich die verpesteten Städte Cottbus, Schwedt und Eisenhüttenstadt besucht hatte. Die Theaterkarten und Bücher in Ostberlin waren eben billig, aber man wurde auch schwer bewacht, wenn man an der Friedrichstrasse in den Osten wollte, die Silhouette der bewaffneten Vopos an der gläsernen Bahnhofsfront werde ich nicht vergessen.

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11. Dezember 2019
von Tom Levold
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Jede fünfte Frau zwischen 45 und 49 Jahren war 2018 kinderlos

WIESBADEN (11.12.2919) – Immer mehr Frauen in Deutschland bekommen ihr erstes Kind im vierten Lebensjahrzehnt. 2018 waren die Mütter von 48 % der insgesamt 366 000 Erstgeborenen zwischen 30 und 39 Jahren alt. Bei 3 % der ersten Kinder war die Mutter älter als 40 Jahre. Das Durchschnittsalter der Frauen bei der ersten Geburt betrug 30 Jahre. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) auf Basis des Mikrozensus weiter mitteilt, bleibt etwa ein Fünftel aller Frauen eines Jahrgangs am Ende der als gebärfähige Phase geltenden Altersspanne zwischen 15 und 49 Jahren ohne leibliches Kind.

Die sogenannte endgültige Kinderlosenquote (Anteil der kinderlosen Frauen an allen Frauen zwischen 45 und 49 Jahren) stieg zwischen 2008 und 2018 von 17 % auf 21 %. Die ersten Geburten der Frauen ab 50 Jahren – 2018 waren es 67 Babys – haben keinen Einfluss auf die endgültige Kinderlosenquote.

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11. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – The world’s too small for walls

Cornelia Hennecke, Berlin:

Für mich ist der 9. November von Jahr zu Jahr ein denkwürdiger Tag.
Nahezu automatisch stellt sich – mal kürzer, mal länger – ein Moment besonderer Aufmerksamkeit ein. Fühlt sich dann wie ein ‚Spalt-in-der-Zeit’ an, in dem sich Erinnerung, Bilanz und Gegenwart zu einer besonderen Melange von Gedanken, Empfindungen und Gefühlen mischen. Und – wie das oft mit wiederholt beobachteten Phänomenen ist – gesellt sich zu der Melange auch eine Portion Neugier, wie sich meine Geschichte zu diesem Ereignis wohl in diesem Jahr formt, welche Gedanken und Stimmungen sich irgendwie neu anfühlen und was sich wiederholt.

In diesem Jahr vermehrten sich diese Momente noch dadurch, dass unsere Praxis seit 1997 direkt an der Gethsemanekirche liegt, einem der ‚historischen Orte’ in Berlin, wenn man sich für die Geschehnisse im Herbst 1989 interessiert. Zu der kontinuierlichen Friedensarbeit, die dort – auch für Vorübergehende erkennbar – seit vielen Jahren geleistet wird, gesellten sich in diesem Jahr Lichtinstallationen, Übertragungswagen und jede Menge Veranstaltungen – es schien etwas mit besonderer Bedeutung belegt zu werden.

Zu den sich von Jahr zu Jahr wieder einstellenden Empfindungen gehört für mich zuerst einmal Dankbarkeit: dankbar, diese Zeit miterlebt zu haben, dankbar für das Mehr und grundlegend Andere an Freiheit, die vielen Freundschaften, Begegnungen und Möglichkeiten infolge des Mauerfalls und all die Transformationserfahrungen, die mit dieser Nacht begannen.
(Am 9.11.1989 selbst war das für mich recht unspektakulär: ich hatte bis 20.00 Uhr Spätdienst in der Ambulanz des Griesinger-Krankenhauses in Berlin, fuhr danach noch kurz bei meinen Eltern am Rand von Berlin vorbei und hörte im Radio die Worte von Schabowski. Meinen ersten ‚Westbesuch’ gab es dann am 11.November, wo wir von der Bornholmer Brücke durch den Wedding bis zur Strasse des 17. Juni gelaufen sind und erstmals vor dem Brandenburger Tor von der anderen Seite standen).

Es sind vor allem diese Transformationserfahrungen seit nunmehr 30 Jahren, die ich einzigartig finde und zu denen auch immer wieder neue Aspekte, Überlegungen, Fragen etc. kommen. Die trage ich mit mir wie einen ‚Wissenskörper’, der sich selbst immer wieder erneuert, um wach zu bleiben und nicht nur aufzubewahren – sehr hilfreich auch, wenn ich in der Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien, Teams oder Organisationen gerade nach nützlichen und im besten Fall anschlussfähigen Beobachtungs- und Reflexionskategorien oder Hypothesen suche, welche die Prozesse voran bringen könnten.

Die Erfahrung des friedlich-revolutionären Aufbruchs 1988/ 89 bis zur Volkskammerwahl im März 1990 zählt wohl für viele Ostdeutsche zu der tatsächlich revolutionären Zeit. Diese Erfahrung bleibt den meisten der damals in Westdeutschland lebenden Menschen bis heute verschlossen. Viele störte das wohl im besten Sinne nicht oder sie machten sich auf, ‚blühende Landschaften’ mit geübtem Nutzensblick, einfach aus Idealismus oder andern Gründen im Osten mitzugestalten. Das Wahlergebnis der DDR Bürger im März 1990 sorgte dann mit allem Wohl und Wehe für ein demokratisch legitimiertes Vorgehen der Anschluss- und Beitrittsdynamik innerhalb des (eigentlich neuen) Landes und führte zur Einheit Deutschlands auf der rechtstaatlichen Basis der Bundesrepublik. Wir alle kennen tausend Geschichten und es kommen immer neue Informationen und Um- und Neubewertungen hinzu, wie und was genau dann in den letzten 30 Jahre passierte.

Am 9. November 2019 fütterte ich mein Bedürfnis der Erinnerung und des Rückblicks’ mit einem abendlichen Spaziergang zur Bornholmer Brücke in Berlin. Am ‚Platz des 9. November 1989’ war eine heitere Stimmung. Einige Alte erzählten vielen Jungen, die es wissen wollten, wie das damals war – so wird Wissen wohl über die Generationen am besten weiter gegeben, dachte ich. Die Generationen mischten sich und es war witzig, als mehr und mehr Leute am Straßenrand begannen, die Autos zu begrüßen, die vom Prenzlauer Berg in den Wedding unterwegs waren – gerade mal ein Trabant und ein Wartburg waren darunter in 2 Stunden.

Auf dem Rückweg war ich nach all der Erinnerung dann wieder mehr mit der Gegenwart beschäftigt. Das, was mich 2019 umtreibt, hat deutlich mehr mit Gegenwart und Zukunft zu tun. Dazu gehören viele Überlegungen und Gespräche mit Freunden und Kollegen zu den Polarisierungen und Spaltungen in unserem Land, was sie bedeuten könnten, auch wodurch sie genährt werden. Mit – das mag nun bestimmt an Berlin und meiner ostdeutschen Herkunft liegen – einem besonderen Fokus auf ostdeutsche Entwicklungen. Was ereignet sich hier gerade? Was bedeuten die Phänomene, die sich hier beobachten lassen? Welche Themen verbinden sich damit … im Osten? … im Westen? Wobei hilft die Unterscheidung Ost / West hier überhaupt? Wozu ein scheinbar sich wieder verfestigender Gebrauch dieser Unterscheidung?

Manchmal springen in Gesprächen noch wie automatisch Muster an, die ich schon aus den 90ern kenne, die ich damals aber noch nicht gut an der Leine führen oder gar beobachten konnte. Beispiel: Eine Kollegin aus Köln, mit der mich viele Jahre guter Zusammenarbeit verbinden, fragte mich Anfang diesen Jahres: „Was ist nur bei Euch da im Osten los?“ Ups … denke ich … was will sie? … was meint sie? … und antworte erstmal vorsichtshalber: „Ja, weiß auch nicht.“ … Was meinst Du?“ – es wurde dann später ein interessanter Austausch.

Zum ‚Phänomen AfD’ führt der Zuwachs der Wählerschaft dieser Partei im Westen dabei inzwischen schneller in ein gleichermaßen in Ost und West empfundene ‚Grummel-Gefühl’: Was machen, wenn sich z.B. im Briefkasten eine Postwurf-Zeitung der AfD befindet, die gespickt ist mit extrem rechtsradikalen Begriffen und Beschreibungen? Bei denen wir sofort denken: das geht zu weit – solchen radikalen Kommunikationen jenseits der Rechtsstaatlichkeit müssen wir viel offensiver entgegentreten als wir das gerade tun!!! Ich erlebe allgemein zuwenig an Konsequenz zu solchen Kommunikationsangeboten … und auch zuwenig an Konsequenz bei mir, wenn ich die Zeitung dann doch einfach in den Müll schmeiße und zum Tagesgeschäft übergehe … so ähnlich opportunistisch habe ich mich unter Diktaturbedingungen auch oft empfunden und verhalten … einige Andere waren da ganz eindeutig mutiger als ich!

Ein Teil in mir weigert sich auch, mit diesen und anderen Fragen nur in den eigenen ‚deutschen Spiegel’ zu schauen – ich empfand es sehr wohltuend und erweiternd im Sommer 2019 auf dem Heldenplatz in Wien eine Installation zu den vielen ‚Tönungen’ zum Ende des Kalten Krieges in den einzelnen ehemaligen Ostblockländern anzuschauen. Wäre es an der Zeit, den seit 1989 für uns alle in Ost und West laufenden Transformationsprozess in Europa genauer anzuschauen?

Wie könnte es aussehen, uns in unseren Arbeitswelten zu diesen Themen stärker einzumischen? Wir mögen doch den Satz so ganz gern, dass gerade Systemik zu den Fragen der Zeit etwas beizutragen hat. Es ist an der Zeit …
Konkret fällt mir gerade Folgendes ein:

  • die Erfahrungen, Ideen und Fragen, die Ines Geipel in ihrem Buch „Umkämpfte Zone – Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Klett Cotta 2019) beschreibt und aufwirft lassen mich noch wacher für Themen mehrgenerationaler Zusammenhänge und den Umgang mit Tabuisierungen in Therapien und Supervisionen sitzen;
  • das FORUM DES IF WEINHEIM UND JAHRESTAGUNG DER SYSTEMISCHEN GESELLSCHAFT 2020 „UND SO WOLLEN WIR LEBEN?!“ wird eine gute Gelegenheit sein, Diskurse über den Tellerrand hinaus fortzusetzen; ein Come_In Gesprächsabend in Berlin wird diese Themen in 2020 aufgreifen.

Ich wünsche allen Lesern und Kollegen eine besinnliche Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel. Mögen möglichst viele Menschen in diesen Tagen in Frieden sein, Freunde um sich haben und das Brot teilen …

10. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Retrospektive(n) und Perspektive(n) im Advent 2019 – zum „30. Jahrestag der Maueröffnung“: 09.11.1989, Spätdienst!

Peter Ebel, Berlin:

Am Donnerstag, 9. November 1989, am 13. August und 15. Juni 1961.

Am 9. November 1989 referierte Günter Schabowski, Mitglied im Zentralkomitee der SED, vor Journalist*innen im Presseamt beim Ministerrat, dass man sich entschlossen habe, „heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Der Italiener Riccardo Ehrman hatte nach dem von der DDR-Führung ausgearbeiteten neuen DDR Reisegesetz-Entwurf gefragt, weitere Journalistinnen fragten, ab wann die neue Regelung in Kraft trete. Schabowski sagte: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Seit dem 13. August 1961 war West-Berlin eingemauert. Zwei Monate zuvor, am 15. Juni 1961, hatte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, vor Journalist*innen im Haus der Ministerien in Berlin gesagt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“.

Am Donnerstag, 9. November 1989 hatten „wir“ Spätdienst im Westen.

Nach Kriegsdienstverweigerung, Zivildienstpflicht, sozialwissenschaftlichem Studium mit den Schwerpunkten „Kritische Psychologie“ und „Klinische Psychologie“ , einem Studienaufenthalt in Italien, war ich für den psychosozialen Dienst der Kinder- und Jugendlichendialyse einer westdeutschen Klinik verantwortlich. Eine außerhalb der Regelleistung von Spenden finanzierte Stelle mit reduziertem Stundenkontingent. Eine 15-jährige chronisch nierenkranke Patientin hatte gemeinsam mit ihrer Familie ihr Heimatdorf in einem Mitgliedstaat des Warschauer Paktes in Süd-Ost-Europa verlassen, um zu überleben. Sie wartete auf eine Nierenspende, organisiert über Eurotransplant in Leiden, Holland. An diesem Donnerstagabend hatte ich zusätzlich Spätdienst in einer stationären Einrichtung der Jugendsozialarbeit. Die Klientel waren Jugendliche aus Ost-Europa, ausgereist mit ihren Familien deutscher Herkunft aus der Sowjetunion und Polen, die sich auf ihre Integration in das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland vorbereiteten. Ein Kontext vielfältiger Biographien junger Menschen, sie wirkten hoch belastet und hatten sich „trotz allem“ ihre Freundschaft zur Welt offenbar bewahrt.

Am Donnerstag, 9. November 1989 hatte Oberstleutnant Jäger Spätdienst im Osten.

Wir Kolleg*innen hörten aus dem Nebenraum unseres Dienstzimmers bruchstückhaft: „Die Mauer ist offen!“ Einige Jugendliche des Hauses kommentierten jubelnd die Ereignisse in Berlin, die Hans-Joachim Friedrichs in den TAGESTHEMEN erklärt hatte. DDR-Bürger*innen standen an der Staatsgrenze und der Stress der Grenzsoldaten war derart groß geworden, dass Oberstleutnant Harald Jäger an der Bornholmer Brücke um etwa 23.30 Uhr als Erster nachgab und die Menschen an der Grenze in den Westen strömen ließ. Was oft unerwähnt bleibt: Zwischen 1949 und 1989 übersiedelten ca. 550.000 Menschen aus der Bundesrepublik in die DDR, 330.000 blieben (Stöver 2019). Wir sahen Fernsehbilder aus West-Berliner Perspektive, sahen Menschen, die sich freuten, sich umarmten, weinten, Menschen vor und auf der Mauer, auf der Bornholmer Brücke, auf dem Kurfürstendamm. Die jugendlichen Beobachter*innen fragten berührt: „Was passiert JETZT?“

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9. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Über die Verwandlung der Empörung

Arist von Schlippe, Osnabrück:

Zu Besuch in einer ostdeutschen Großstadt, wir sitzen im Taxi und wollen vom Bahnhof zum Hotel. Es dauert, ein langer Stau hält uns auf. Der Taxifahrer schimpft: „Die Baustelle ist hier schon so lange und nichts passiert, die Planung ist jetzt, dass das hier noch sieben Jahre so weitergehen soll. Was machen die da eigentlich?“ und es geht weiter: mit der Regierung, die nichts „gebacken“ kriegt, was die alles rumgeschlampt haben, da braucht man gar nicht auf den Berliner Flughafen zu gucken, das sei doch überall so. Ich stimme vage zu, Projekte großer Komplexität sind ja wirklich schwierig zu steuern… Da kommt ein neuer Zungenschlag ins Gespräch: „Und die Afrikaner, die kommen alle hierher und machen Urlaub! Auf unsere Kosten!“ – „Nun ja, die meisten sind ja Flüchtlinge“, werfe ich ein. „Von wegen, die wollen es sich hier doch nur gutgehen lassen, 400.000 kommen jedes Jahr und wir tun nichts dagegen! Und die lachen sich ins Fäustchen…“ Ich spüre kurz die Versuchung, über Fakten zu diskutieren, es sind doch nicht 400.000 sondern nur die Hälfte, aber dann erinnere ich mich an ein Buch, das ich vor Kurzem las (1): Wenn man sich in einer solchen Debatte auf die Ebene von Argumentation begibt, hat man schon verloren („Lügenpresse, Falschinformation, Sie haben ja keine Ahnung, wie es wirklich ist…“). Außerdem redet er schon weiter: „Und, Sie werden schon sehen, bald haben wir auch noch Schwarze in der Regierung!“ Kein Gedanke daran, hier mit dem Witz zu kontern, dass die Partei mit der schwarzen Farbe doch schon längst im Amt ist, im Gegenteil, mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich merke Wut und Empörung in mir aufsteigen, überlege, ob ich ultimativ fordere, dass er anhält und wir den Wagen verlassen. Aber dann stehen wir mit den schweren Koffern mitten in einer Stadt in einer hoffnungslos verstopften Straße. Der Pragmatismus siegt.

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8. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Ost und West – Nicht so ein richtiges Weihnachtsmärchen

Peter Fuchs, Bad Sassendorf:

Die einst frenetisch gefeierte Vereinigung Deutschlands ist nun historisch geworden, das heißt auch: Sie scheint abgetan zu sein, gar ‚aus- oder abgestanden‘ oder schlicht langweilig. Klar: Wie immer gibt es ein jährliches Gedenken, ein ‚In dulci jubilo‘. Aber eine richtige Fröhlichkeit oder ein ‚Des sollt ihr alle froh sein …‘ stellt sich dabei nicht so recht ein. In den Vordergrund rückt die Frage: ‚Ubi sunt gaudia?‘ Wo sind die Freuden geblieben? Wann kam ein ‚Ein Irrsal ( … ) in die Mondscheingärten einer einst heiligen Liebe‘?

Nüchterne Antworten sind schwer zu finden. Das Genre des Pathos verbietet sich von selbst – anders als in der selig süßen Weihnachtszeit, die zuweilen im Register der Sentimentalität spielt. Aber auch die Trockenheit des guten Geistes (zum Beispiel im Blick auf die Ost/West-Differenz) führt gelegentlich ins Fassungslose, wie Erich Kästners ‚Sachliche Romanze‘ exemplarisch anhand der ‚Liebe‘ zeigt:

„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.“

Bei mir war es so, dass ich drei Jahre nach dem furiosen Start der Vereinigung nach Neubrandenburg kam und bald Grund hatte, die Differenz West-/Ostdeutschland für ‚monströs‘ zu halten. Sie wurde im Alltäglichen betrieben, war ständig gegenwärtig. Man konnte ihr nicht ausweichen – weder psychisch noch sozial. Schlimmer noch: Die Beobachtung dieser Differenz, so sachlich sie sein mochte, war selbst beteiligt an dem, was es zu beobachten gab, und daran änderte sich meinem Empfinden nach nichts: Die Differenz, von der die Rede ist, betrieb und betreibt sich selbst und nahm die Form der ‚Selektivitätverstärkung‘ an, also die eines Prozesses, der nur mühsam ausgebremst werden kann.

In solchen Fällen mag es sinnvoll sein, jene Unterscheidung lamentofrei auf ihre Beschaffenheit hin zu prüfen. Zunächst ist ja erstaunlich, dass die Differenz alles andere als scharf ist. Sie lässt sich nicht als Antagonismus begreifen, nicht als trennscharfe Zweiseitenform. Anders ausgedrückt: Sie bezeichnet eine Dimension. Man kann locker sagen: weniger westlich, mehr westlich – und auf der anderen Seite wird dasselbe Spiel gespielt. Die Unterscheidung hat eine Gleitform und ist deswegen sozial fungibel, das heißt: vielfältig ausnutzbar für welche Zwecke auch immer. Und: Diese Differenz ähnelt anderen Konstruktionen wie Rechts/links, wie Oben/Unten etc. Sie bezeichnen nichts anderes als ‚bewegliche Gesichtspunkte‘, zu der Skalen gehören, auf der sich Schieberegler finden.

Ein weiterer und damit zusammenhängender Grund dafür, warum die Unterscheidung West/Ost so vage, so unsicher, so unangreifbar scheint, ist ein kurioser Re-entry, der Wiedereintritt der Differenz auf beiden Seiten der Differenz. Im Westen lässt sich Westen/Osten einsetzen, im Osten die von Osten/Westen. Die Re-entries im Westen, im Osten können ein Präferenz-Management so bewirken, dass Vorzugsrichtungen (Vorlieben) auf beiden Seiten der Ausgangsdifferenz verfestigungsfähig generiert werden, dies dann sogar in der Form reziproker Beobachtungen anhand der Re-entries, die relativ bestandsfeste Kausalitäten konstruieren – oft als Erzählungen, die auf wissenschaftliche Einwände nicht reagieren.

Kann man etwas tun? Utopisch gesehen, ja, man könnte. Ein probates Mittel wäre es, einfach die Differenz zu löschen, zu tilgen oder, besser noch: zu vergessen – nachhaltig. The very choice could be rejected. Die Unterscheidung würde so in die Regionen der Austauschbarkeit getrieben. Mir ist das zugestoßen nach zwei Jahren in Neubrandenburg, Wie immer schrieb ich ein Buch, hier über die Leitdifferenz Ost/West und ihre Folgen. Danach sah ich die Dinge anders. Die Konsequenz war, dass ich auf einmal nur noch Leute sah. Mehr brauchte es wirklich nicht.

Zu Weihnachten darf man sich etwas wünschen. Ich bestehe schon lange darauf, dass ich keine Kleinigkeiten möchte. Ohne ‚Großigkeiten‘ ist mir Weihnachten verdorben.

Ich brauche nicht zu sagen, was ich mir die nächsten Jahre wünsche, Weihnachten hin, Weihnachten her.

I wish you a Merry Christmas
Peter Fuchs

7. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Auf vielleicht nie vorwärts … Wahnsinn! – Schluss jetzt*

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Auf die Mauer, auf die Lauer,
und ein lang ersehnter Schauer
der Freude schöner Götterfunken
einander selig zugewunken
… Sorry, geht das wohl ein Stück genauer?!

Vielleicht: Ich liebe Euch doch alle
ging nicht mehr, der Fall der Falle –
und Liebe verbannte die Usurpation,
doch was heißt das schon
auf Dauer – war das genauer?

Nie im Leben! Ach, wirklich nicht?!
Wie genau dürfte es sein denn, wie hell das Licht,
wie präzise der Fokus, was darf es kosten an Geduld
an Ungewissheit, Enttäuschung, Schuld?
Ach komm‘ mir nicht damit, auch nicht als Gedicht!

Vorwärts immer – das Pfeifen im Walde,
rückwärts nimmer – warte, auch balde …,
balde auch Du, … ärger Dich nicht, Blindekuh!
Sieben Brücken, schnür‘ Dir die Schuh,
ernähre Dich redlich auf der Halde.

Wahnsinn! – Wird nicht genauer, im Bann der Bilder
wird’s durcheinander und immer wilder.
Der Götterfunken ist verrauscht,
jetzt werden Slogans aufgebauscht,
am Hebel die Meister aller Schilder.

Schluss jetzt, … ein Lied auf die Schönheit der Dystopie,
sie schützt und verbirgt eine Utopie,
und Walther singt ûf eime steine,
früher war’s Mauer, jetzt ist es keine
mehr – nur noch East Side Gallery!

* Hieronymus Heveluk nachempfunden, dessen Geschichte immer weniger greifbar wird. Er entwickelt sich zu einem Phänomen, dessen Realitätsgehalt sich immer mehr der Phantasie annähert. Zurzeit konzentrieren sich die Gesellschafter der Heveluk-Vereinigung (HeV) darauf, die noch vorliegenden Fragmente seines Werks vor kommerzieller Ausbeutung zu schützen.

6. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau

Martin Rufer, Bern:

Mauern schützen und Mauern helfen, Eigenes zu gestalten, zu entwickeln und zu bewahren. Gartenmauern, Klostermauern, eiserne oder samtene Vorhänge setzen Grenzen und halten draussen, was nicht nach drinnen gehören soll. Sie wecken Neugierde und Phantasien, kurbeln Neid oder Wut an, was dahinter, in den für uns draussen fremden Welten vor sich geht, uns aber eben doch auch betreffen könnte.

So helfen Mauern denen drinnen, geborgen an einem für sie sicheren Ort ihre Identität zu finden, diese zu pflegen und zu schützen, wenn oft auch um den Preis, nur noch die eigene Suppe zu kochen und sich einzuigeln. Wir aber, als aufgeklärte, gut vernetzte Kinder der „Transparenzgesellschaft“ (Bjung Chu Han), rühmen und üben uns inklusiv in Globalität, Mobilität, Multikulturalität, Interdisziplinarität, belächeln oder verurteilen, was trennt, abgrenzt und uns ausschliesst. Das Überschreiten und Überwinden von Grenzen, wo keine mehr sind und darum zusammenfinden soll, was zusammengehört, gilt als das Mantra der Postmoderne.

In diesem Klima der Offenheit aber sitzen nun wie ein Stachel im Fleisch nicht nur die Greta aus dem hohen Norden, sondern omnipräsent die #MeToo Bewegung, sowie kulturelle, politische, religiöse oder sexuelle Minderheiten, die uns mit feiner oder lauter Stimme zur (Klima-)Verantwortung rufen, missbrauchtes Vertrauen anklagen oder mit Autonomieansprüchen wieder territoriale Mauern setzen wollen, wo Grenzen (des Wachstums) nicht respektiert werden. So entwickelt sich, wenn vorläufig auch ohne betonierte Mauern oder eiserne Vorhänge eine zu tiefst gespaltene Gesellschaft (wie z.B. in den USA am Beispiel „für oder gegen Trump“), in der Welten einander immer fremder werden, den Dialog nicht mehr finden (wollen), abgekoppelt für ihr Recht oder ihre Ordnung aufrüsten und zunehmend mit härteren Bandagen „kommunizieren“.

Dass dies Alles aus systemsicher Perspektive sich als autopoietischer oder synergetischer Prozess beschreiben und erzählen lässt, ist das eine. Dass wir uns aber schönen Narrativen und gut evaluierten Konzepten zum Trotz auch als Systemiker mit den Grenzen der Machbarkeit konfrontiert sehen, vor den politischen Machtsystemen kapitulieren und uns desillusioniert draussen – an den Rändern des Geschehens – bewegen oder drinnen – in der geheizten, eigenen Stube – aufhalten und gut eingerichtet haben, ist das andere.

Was also bleibt dem Schuster anderes als seine Leisten!?

Dankbar darüber, dass sich die Systemische Therapie nach dem kassenärztlichen Mauerfall nun auch in Deutschland als Teil des Mainstreams verstehen darf und der kostspielige Kampf sich, im wahrsten Sinne des Wortes, auch auszahlen wird. Aber: nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau. Was für uns Systemiker heißen könnte: Wo und wie zeigt sich nun das Eigene, das Andere, das immer Hoch-Gehaltene, das nun auch bewahrt gepflegt werden will? Soll und kann, ja muss es sich, gegen Übergriffe, Vereinnahmungen – die „Mauern und den Honig im Kopf“ – abgrenzen? Und wenn ja, wie und gegen wen „draußen“ sollen die eigenen Reihen „drinnen“ geschlossen werden?

Eine Advents- oder gar Weihnachtsgeschichte? Nein, aber vielleicht sind wir, gefangen in der kleinen (Gesundheits-) und grossen (Gesellschafts-)Politik als Beobachter 1. und 2. Ordnung, sozusagen auf „Beobachtung 3. Ordnung“ angewiesen, eine, die uns in dieser „Heiligen Zeit“ darauf besinnen lässt, dass trotz Konsumrausch, Weihnachtsmärkten oder Wellnessurlaub weit weg von alledem etwas gibt, das das nicht in unsern Händen liegt und sich darum auch schlecht (er)fassen lässt.

Darum zum Schluss doch noch eine Weihnachtsgeschichte, zudem eine ganz persönliche: Ohne Mauerfall hätten wir uns, meine Frau und ich, vor 30 Jahren und kurz nach Weihnachten, wohl kaum kennengelernt, und wir wären heute – als Multikultifamilie in mehrfacher Hinsicht – um eine hautnahe Erfahrung ärmer, dass es sich lohnt, Grenzen zu respektieren, zu schützen, um dann diese in vertrauensvoller Verbundenheit auch immer wieder aufzulösen.

5. Dezember 2019
von Tom Levold
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Jürgen Kriz wird 75!

Jürgen Kriz

Heut gibt es wieder einen runden Geburtstag zu feiern: systemagazin gratuliert Jürgen Kriz ganz herzlich zum 75. Geburtstag.

Jürgen Kriz hat in den vergangenen vier Jahrzehnten unermüdlich für die wissenschaftliche Anerkennung sowohl des systemischen Ansatzes als auch der humanistischen Psychotherapieverfahren gefochten, sowohl als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie als auch durch zahllose Publikationen, Vorträge und andere Aktivitäten. Dabei hat er sich aber nie den – fachpolitisch wie auch wissenschaftlich zweifelhaften – Kriterien des Beirates für „Wissenschaftlichkeit“ gebeugt, sondern vielmehr die Grundlagen dieses Wissenschaftsverständnisses immer wieder aus einer wissenschaftlich und methodisch fundierten Perspektive kritisiert und dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Damit hat er gerade für die eigenständige wissenschaftliche Begründung des Systemischen Ansatzes einen ganz besonderen Dienst geleistet.
Er gehört daher zu den nicht allzu häufig zu findenden Wissenschaftlern, die nicht nur in Forschung und Lehre, Theoriebildung und Methodenreflexion herausragen, sondern immer auch damit verbundene politische Verantwortung gespürt und übernommen haben. Für sein Werk wurde ihm im November der Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung verliehen, einer schweizerischen Stiftung, die jährlich einen Wissenschaftspreis an Verfasser von wissenschaftlichen Arbeiten im Fachgebiet «anthropologische und humanistische Psychologie» vergibt, jeweils zu einem bestimmten Jahresthema. Als Thema dieses Jahres wurde Verantwortung ausgewählt – welcher Begriff kann besser das Werk und die Haltung von Jürgen Kriz zum Ausdruck bringen? Verantwortung für die eigenen Positionen zu übernehmen, diese in der inhaltlichen Auseinandersetzung zu schärfen, aber sich jederzeit darüber im Klaren zu sein, dass auch wissenschaftliche Positionen Wirklichkeiten erzeugen, die Konsequenzen für das eigene Leben und das Leben anderer haben: Diese Haltung hat Jürgen Kriz immer überzeugend und unbestechlich vermittelt.
Zu seiner persönlichen Geschichte und seinem langen und vielfältigen wissenschaftlichen Wirken wäre viel zu sagen. Im nächsten Heft des Kontext erscheint Ende des Monats ein langes Gespräch, das ich mit ihm schon vor einiger Zeit über sein Leben führen konnte, und das anlässlich seines Geburtstages schon heute im systemagazin gelesen werden kann.

Lieber Jürgen,
zum Geburtstag wünsche ich dir gemeinsam mit vielen anderen KollegInnen alles Gute – bleib so gesund und energiegeladen wie wir dich kennen: Deine kritische Stimme wird auch in Zukunft – vielleicht mehr denn je – im systemischen Feld gebraucht werden.
In herzlicher Verbundenheit und mit Dank für Deine Freundschaft und unseren vielen Begegnungen
Tom

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