systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

28. Juni 2023
von Tom Levold
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3,8 % weniger Ehescheidungen im Jahr 2022

WIESBADEN – Im Jahr 2022 wurden in Deutschland durch richterlichen Beschluss rund 137 400 Ehen geschieden. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, sank die Zahl der Scheidungen gegenüber dem Vorjahr um knapp 5 400 oder 3,8 %, nachdem sie im Vorjahr um 0,7 % zurückgegangen war. Damit ist die Zahl der Scheidungen mit Ausnahme des Jahres 2019 seit 2012 kontinuierlich gesunken. „Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Zahl der Scheidungen sind auch im Jahr 2022 weiterhin nicht erkennbar“, sagt Bettina Sommer, Expertin für Demografie beim Statistischen Bundesamt. Allerdings stieg die Zahl der Eheschließungen im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um rund 33 000 oder 9,2 % auf rund 391 000, nachdem sie im Jahr 2021 auf einen Tiefststand gefallen war. „Bei der Zahl der Eheschließungen ist von einer Normalisierung nach den coronabedingten Einschränkungen in den beiden Vorjahren und zum Teil auch von einem Nachholeffekt auszugehen. Eine Reihe heiratswilliger Paare dürfte ihre Hochzeit auf die Zeit nach der Pandemie verschoben haben“, so Sommer weiter.

115 800 Kinder aus geschiedenen Ehen im Jahr 2022

Etwas mehr als die Hälfte (50,7 % bzw. rund 69 600) der im Jahr 2022 geschiedenen Ehepaare hatte minderjährige Kinder. Von diesen hatten wiederum 49,1 % ein Kind, 39,7 % zwei und 11,2 % drei oder mehr Kinder. Insgesamt waren im Jahr 2022 mehr als 115 800 Minderjährige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.

Die meisten der geschiedenen Ehen (80,1 %) wurden nach einer vorherigen Trennungszeit von einem Jahr geschieden. Scheidungen nach dreijähriger Trennung machten einen Anteil von 18,9 % aus. In diesen Fällen wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist. In 1,0 % der Fälle waren die Regelungen zur Scheidung vor einjähriger Trennung oder Scheidungen nach ausländischem Recht maßgebend.

Mehr geschiedene Langzeitehen als noch vor 25 Jahren

Etwa 24 300 oder 17,7 % aller geschiedenen Paare waren bereits mindestens im 25. Jahr verheiratet. Im Durchschnitt waren die im Jahr 2022 geschiedenen Ehepaare 15 Jahre und einen Monat verheiratet. Im Jahr 1997, also 25 Jahre zuvor, waren Ehen bereits nach durchschnittlich zwölf Jahren und vier Monaten geschieden worden. Mitverantwortlich hierfür war der vergleichsweise niedrige Anteil geschiedener Langzeitehen: 1997 wurden nur 19 100 oder 10,2 % der geschiedenen Paare im Jahr ihrer Silberhochzeit oder danach geschieden.

Bei 89,5 % der Ehescheidungen wurde der Scheidungsantrag mit Zustimmung des Ehegatten oder der Ehegattin gestellt. Bei 6,6 % wurde der Antrag von beiden Ehepartnern zusammen eingereicht. Bei den anderen 3,9 % stimmten der Ehegatte oder die Ehegattin dem gestellten Antrag nicht zu.

Im Jahr 2022 ließen sich rund 1 100 gleichgeschlechtliche Paare scheiden. Dies waren etwa 100 oder 10 % gleichgeschlechtliche Paare mehr als im Jahr 2021. Die „Ehe für alle“ war in Deutschland im Oktober 2017 eingeführt worden. Gleichgeschlechtliche Paare, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können diese nicht durch Scheidung, sondern durch Aufhebung beenden. Seit Oktober 2017 können keine Lebenspartnerschaften mehr eingetragen werden. 2022 wurden mit rund 800 Aufhebungen von Lebenspartnerschaften etwa 200 oder 22,0 % weniger erfasst als im Vorjahr. Damit ist die Zahl das dritte Jahr in Folge gesunken. Hier findet zunehmend eine Verschiebung von den Aufhebungen zu den Scheidungen statt.

Weitere Informationen:

Basisdaten und Zeitreihen zu rechtskräftigen Ehescheidungen sind über die Tabellen 12631 in der Datenbank GENESIS-Online abrufbar. Daten und Zeitreihen zu Eheschließungen bieten die Tabellen 12611. (Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 252 vom 28. Juni 2023)

22. Juni 2023
von Tom Levold
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Narrative Praxis

Im vergangenen Jahr ist ein umfangreiches, fast 500 Seiten starkes „Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen, das sich mit der Nutzbarmachung des Narrativen Ansatzes in diesen Handlungsfeldern theoretisch und praxisbezogen auseinandersetzt. Wolfgang Loth, dem systemagazin heute zum 72. Geburtstag gratuliert, hat sich in einer ebenfalls umfangreichen Rezension diesen Band vorgenommen und spricht folgende Empfehlung aus: „Insgesamt kann ich die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfehlen. Die hier versammelten Beiträge vermitteln eindrücklich und glaubwürdig, wie Narrative Praxis wohltuend wirken kann. Insbesondere die Beiträge, die sich Zeit und Raum dafür nahmen, diesem Geschehen konkret nachzuspüren, machen das deutlich. Aber auch die eher theoretisch gehaltenen Beiträge lassen überwiegend diesen Spirit erkennen. Ich wünsche diesem Buch, dass es aufmerksam gelesen wird und dass die Leserinnen und Leser es als ein reichhaltiges Vademecum nutzen können. Und dass sie die Ermutigungen, die dieses Buch mit auf den Weg gibt, in ihrer Wirksamkeit erfahren können. Mein Eindruck ist: Das trägt“.

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Das sagt sich so leicht: narrativ. Und der Gebrauch dieses Wortes nimmt seit einigen Jahren deutlich zu, wie das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (dwds) anzeigt.[1] Zu seiner Bedeutung heißt es da: »erzählend, von einem Erzähler nach bestimmten Regeln mündlich oder schriftlich vermittelt; etw. in erzählerischer Weise, in Form einer Geschichte darstellend, präsentierend«. Vermutlich bleibt davon erst einmal das Erzählen hängen, das Darbieten einer Geschichte. Doch dürfte es banal sein, das dann mit irgendeiner Form professioneller Praxis in Verbindung zu bringen. In jeder Praxis wird geredet, ob mit Worten oder schweigend. Das kann es also nicht sein. Daher halte ich in diesem Fall das eingeschobene »nach bestimmten Regeln« für maßgeblich. Erst sie sorgen dafür, dass der Begriff »Narrative Praxis« zu einem unterscheidbaren Handlungszusammenhang wird, zu einer spezifischen Form von Kommunikation. Davon handelt das hier vorgestellte Buch. Gleich wird davon genauer die Rede sein.

Vielleicht ist es noch interessant, der Entstehungsgeschichte des Wortes narrativ nachzuspüren. In der Regel bleibt es beim Verweis auf das lateinische narrare. Das bliebe mit »erzählen« übersetzt womöglich an der Oberfläche eines »aufzählenden« Vorgangs.[2]Spannender wird es nachzuvollziehen, dass narrare »von dem Adjektiv *gnāro- (lateinisch gnarus …) ›wissend‹ abgeleitet ist«,[3] was wieder eine Verbindung zu »ignorieren« andeutet, »abgeleitet von lateinisch: ignorare … = »nicht wissen«, »nicht wollen«; zu: ignarus … = unerfahren, unwissend«, was wiederum das Gegenteil aufscheinen lässt: »gnarus … = kundig; zu: noscere … = erkennen«.[4] Was als Futter für spleenige Sprachfreaks erscheinen könnte, führt, wie ich es sehe, mitten hinein in das Herz dessen, was Narrative Praxis ausmacht. Das Herzstück: Eine Praxis, in der die Beteiligten (alle der Beteiligten, Ratsuchende und Professionelle) erfahren wollen, wie sie sich mithilfe ihrer ihnen zur Verfügung stehenden Geschichten kundig machen über sich, über sich in der Welt, in der Beziehung zu sich und zu den anderen, wie sie sich vergewissern, dass sie sind. Und das ist erst einmal noch unbestimmt. Denn das bisherige »Wissen« dazu, kann sowohl einen optimistischen, sich etwas zutrauenden und handlungsfähigen Blick begründen, als auch das Gegenteil, in dem Niederlagen, Ungerechtigkeiten, Machtlosigkeit und ähnliche Erfahrungen dominieren. Hier könnte dann die Idee der »bestimmten Regeln« weiterhelfen (s. o.), die das Nachspüren, Aufsteigenlassen, Formulieren und Mitteilen von wohltuenderen Wendungen unterstützen. Ein Gespür kann entstehen für neue Mitwirklichkeiten, die mehr bedeuten als das Übernehmen von Zuschreibungen. Mitwirklichkeiten beinhalten das selbst-bewusste Teilhaben am Gestalten von lebensfreundlichen Kontexten.

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15. Juni 2023
von Tom Levold
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Corina Ahlers wird 65!

Heute feiert Corina Ahlers ihren 65. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Gebürtig in Tenerife, studierte, lebt und arbeitet sie seit 1976 in Wien. Als Lehrende für systemische Familientherapie war sie MItbegründerin der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und Studien (ÖAS), die sie auch im europäischen Familientherapieverband (EFTA) und im österreichischen Psychotherapiebeirat vertreten hat. Von 1986 – 2005 war sie als Systemische Familientherapeutin am Institut für Ehe- und Familientherapie tätig, von 2003 – 2006 als 1. Vorsitzende der ÖAS. So vielfältig wie ihre berufliche Laufbahn sind ihre inhaltlichen Interessen und ihre zahlreichen Veröffentlichungen zu Themen der systemischen Theorie und Praxis, mit denen sie das systemische Feld nachhaltig erweitert hat. Sie könnten hier nicht erschöpfend vorgestellt werden. Besonders erwähnen möchte ich daher ihre Beiträge zur Didaktik der Ausbildung von TherapeutInnen, die allzu oft unterreflektiert bleibt. So hat sie über den Einsatz des Rollenspiels in Ausbildungskontext ein sehr lesenswertes Buch geschrieben.

Ein aktueller Text von ihr befasst sich mit der Nutzbarmachung von Transkripten psychotherapeutischer Sitzungen für die Ausbildung von TherapeutInnen, der an dieser Stelle sehr empfohlen werden kann. Im Einleitungstext heißt es: “Die Analyse von vollständigen Transkripten psychotherapeutischer Sitzungen durch auszubildende und angehende systemische Psychotherapeut*innen erfolgt selten und ist wenig erprobt. Ausbildner*innen arbeiten heute vor allem mit Videos oder Audios oder in der Anwesenheit von Klient*innen, Studierende und Lehrende verfolgen im Nebenraum über Einwegspiegel oder an Monitoren den Verlauf der Sitzungen. Bücher und Fachartikel bringen Fallvignetten, um die psychotherapeutische Methode am Fall zu explizieren oder theoretische Sichtweisen (Paradigmen) fallempirisch zu unterstützen. Unbeachtet bleiben in den Fallvignetten hingegen Sequenzen, die als unbedeutend oder besonders schwierig gelten. Dies ist insofern nicht einfach hinzunehmen, als es bei den Studierenden den Eindruck erwecken kann, dass psychotherapeutische Sitzungen immer ereignisreich verlaufen und stets kathartische Höhepunkte oder heilende Momente oder Konklusionen hervorbringen, was der langjährigen psychotherapeutischen Erfahrung nicht entspricht. Therapiesitzungen können zuweilen auch scheinbar „ereignislos“ bisweilen sogar als „unangenehm“ empfunden werden. Dass „Ereignisse“ und „Prozesse“ zwar präsent, aber oft verborgen sind und dies mittels einer von Zeitdruck befreiten tiefenhermeneutischen Textanalyse an exemplarischen Fällen gelernt werden kann, ist ein Lehr- und Lernziel der Arbeit an Transkripten. Ein didaktischer Schritt in diesem Lernprozess ist es, „Schlüsselszenen“ an ihrem metaphorischen Reichtum oder an der Verbalisierung einer signifikanten Veränderung in Wahrnehmung und Erleben von Klientinnen bzw. Therapeutinnen zu erkennen. Dies ist in der von Handlungs- und Zeitdruck befreiten Arbeit am Transkript eher möglich als in der Beobachtung der laufenden psychotherapeutischen Sitzung“. Der vollständige Text ist als open-source-Artikel hier frei zu lesen.

Liebe Corina, auf dass wir auch in Zukunft von deine vielen klugen Ideen profitieren und lernen können. Ad multos Annos!

24. Mai 2023
von Tom Levold
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Die dunkle Seite von New Work

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift OSC – Organisationsberatung, Supervision, Coaching ist dem Thema New Work gewidmet. Herausgeber Thomas Bachmann hat für das Editorial ChatGPT nach den Herausforderungen und Risiken von New Work befragt und einige Antworten bekommen. Hierzu schreibt er: „Versteht man ChatGPT als ein Phänomen unserer Zeit, an dem sich ausdrückt, welche rasanten Veränderungen gerade im Gange sind, welche extremen Widersprüche und Ungleichheiten erzeugt werden und wie ausgeliefert Politik und Institutionen demgegenüber scheinen, lässt sich auch das Phänomen „Neue Arbeit“ anders einordnen. Dabei erscheint die New Work-Bewegung in diesem Zusammenhang als geradezu harmloses Phänomen. Sieht man jedoch genauer hin, zeigt sich, dass all diese Veränderungen und Umbrüche miteinander in Zusammenhang stehen und als Manifestationen von globalen gesellschaftlichen Grundströmungen verstanden werden können, denen sich niemand entziehen kann. Das Zukunftsinstitut benennt zwölf Megatrends (Konnektivität, Globalisierung, Gesundheit, New Work, Silver Society, Sicherheit, Mobilität, Gender Shift, Individualisierung, Neo-Ökologie, Urbanisierung und Wissenskultur), die auf unsere Gesellschaften wirken (Zukunftsinstitut 2023). Die Neue Arbeit wird darin als einer von zwölf Trends definiert. Wie bei allen Entwicklungen und den damit verbundenen Veränderungen entstehen neben Chancen natürlich auch Risiken. Empowerment, Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmtheit, Sinn usw. sind wohltuende Vokabeln und wecken Hoffnung auf eine bessere Arbeitswelt und lassen oft übersehen, dass es natürlich auch eine dunkle Seite dieser Entwicklungen gibt: Entgrenzung, Erschöpfung, Geschwindigkeit, Hyperformalisierung, Ungleichheit, Übergriffigkeit, Oberflächlichkeit seien als Schlagworte genannt, die in den folgenden Artikeln genauer unter die Lupe genommen werden. In diesem Heft wollen wir daher New Work kritisch beleuchten – und zwar theoretisch und praktisch – sowie ein paar überfällige Einordnungen in diesem Feld unternehmen“.

Die bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier – ebenso wie die Inhaltsangaben von Heft 1/23, das sich mit der Digitalisierung in der Beratung, also mit online- und KI-unterstützen Beratungsformaten auseinandersetzt. Auch der Jahrgang 2022 ist vollständig erfasst. Da ein großer Teil der Texte mittlerweile als Open Access-Texte zugänglich sind, sind alle entsprechenden Artikel verlinkt, so dass Sie gleich auf das Original zugreifen können.

26. April 2023
von Tom Levold
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Dialog in Differenz

Evelyn Niel-Dolzer

Evelyn Niel-Dolzer (Foto: la:st) ist Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien, die dieser Tage ihr 40-jähriges Jubiläum mit einer spannenden Tagung zum Thema Wozu haben Psychotherapeut*innen Gefühle? gefeiert hat (herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle zum Jubiläum!). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie und Systemtheorie, Intersubjektivität und der Dialog zwischen gegenwärtigen psychoanalytischen und systemtherapeutischen Schulen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Lehranstalt, den Systemischen Notizen (2023/01: S. 62-71), präsentiert sie ihre lesens- und nachdenkenswerten Gedanken zu diesen Themenkomplexen. systemagazin freut sich, diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Systemischen Notizen und der Autorin seinen Leserinnen und Lesern nahe bringen zu können.

Evelyn Niel-Dolzer: Dialog in Differenz. (Der Lehranstalt zum 40. Geburtstag)

Am Ende des Flußarms ist die Hand aus Sand,
die alles, was durch den Fluß geht, aufschreibt.
René Char

„Ist 40 Jahre sehr alt?“, fragte mich mein Sohn vor sechzehn Jahren – da war er sechs und wir feierten meinen vierzigsten Geburtstag.
„Kommt ganz drauf an …“, habe ich ihm geantwortet.
Und weil sechsjährige Kinder originell denken und sich im Dialog überwiegend noch außerhalb konventioneller Sprachspiele und frei vom etablierten Jargon bewegen, sagte er daraufhin nicht „Stimmt, es kommt darauf an, wie alt man sich fühlt“, sondern kombinierte nachdenklich, „… stimmt! Es kommt darauf an, ob man schon bis vierzig zählen kann!“
„Ja genau!“, habe nun ich mich wiederum auf seine so verblüffende wie scharfsinnige Argumentation eingelassen und mich mit ihm an einer in diesem Moment zwischen uns aufkommenden Erfahrung gefreut: Einer stillen gemeinsamen Einsicht, in der wir intuitiv begriffen, wie untrennbar Logik und Erkenntnisgewinn in der subjektiven Lebens- und Erfahrungswelt ihrer Urheber*innen verankert sind. Und wie neue Zusammenhänge entstehen, wenn Antworten aufeinander nicht stereotyp aufgerufen, sondern in einem Gespräch spontan gegeben werden, in einem sich einstellenden Augenblick tiefer Verbundenheit und wechselseitiger emotionaler Zugewandtheit.

Genau diese Faszination – das Erahnen eines Zaubers, der im Miteinander-Sprechen möglich werden kann – war es auch, die mich vor nunmehr über dreißig Jahren in die Welt der Systemtheorie geführt hat: Ausgangspunkt meiner Reise waren damals, in den späten 1980er-Jahren, die konstruktivistische Erkenntnistheorie, die sehr persönliche Suche nach Antworten auf die Frage, ob ungedeihlichen Lebensumständen lebensfrohe und lebensbejahende Entwicklungen und Beziehungen entspringen können, und ein gewisser Widerspruchsgeist gegen den reduktionistischen Diskurs der akademisch-behavioristischen Lehre von der Psyche des Menschen.[1]

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4. April 2023
von Tom Levold
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Deconstruction and Therapy (Michael White – 1948 – 2008)

Michael White

Heute vor 15 Jahren ist Michael White, einer der wichtigen Wegbereitern des Narrativen Ansatzes in der Psychotherapie, im Alter von 59 Jahren gestorben. 1991 veröffentlichte er den Artikel „Deconstruction and therapy“ im Dulwich Centre Newsletter (Vol.3. pg. 21-40), der Gedanken enthielt, die White im April 1991 auf dem Heidelberger Kongress „Das Ende der großen Entwürfe“ sowie auf der Generating Possiblilities Through Therapeutic Conversations Conference in Tulsa, Oklahoma in Juni 1991 vorgestellt hatte. In einer schönen Vorbemerkung schreibt er: „Um einige Leser nicht zu enttäuschen, sollte ich, bevor ich mit meiner Diskussion über Dekonstruktion und Therapie fortfahre, darauf hinweisen, dass es in diesem Aufsatz nicht um die Dekonstruktion des Wissens und der Praktiken spezifischer und etablierter Therapiemodelle oder um die Dekonstruktion einer bestimmten Therapie-„Bewegung“ geht. Vielmehr habe ich mich dafür entschieden, bestimmte Therapiepraktiken in den von der Dekonstruktion vorgegebenen Rahmen zu stellen. Da ich mich in meinem Berufsleben in erster Linie mit dem beschäftige, was im therapeutischen Kontext geschieht, werde ich zu Beginn dieses Beitrags einige Therapiegeschichten vorstellen. Ich möchte betonen, dass diese Geschichten aus Platzgründen geschönt sind. Sie stellen den ungeordneten Prozess der Therapie – das Auf und Ab jenes Abenteuers, das wir als Therapie bezeichnen – nur unzureichend dar. Daher spiegelt sich in diesen Berichten eine Einfachheit wider, die in der Arbeit selbst nicht zu finden ist“ (Übers. mit Deepl).

Der vollständige Text ist hier zu lesen…

8. März 2023
von Tom Levold
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Lebenskunst in Ethik und Therapie 

Peter Müssen hat Psychologie, Philosophie und Theologie studiert und führt eine systemische Praxis in Köln. Bekannt im systemischen Feld wurde er vor allem durch seine langjährige Vorstandstätigkeit in der Systemischen Gesellschaft (SG) und der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB). Heute feiert er seinen 65. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen.

Zu diesem Anlass gibt es heute – mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber – einen theoretisch anspruchsvollen Artikel von Peter Müssen aus dem Jahre 1995 zu lesen, der in der Zeitschrift systeme 1/1995 erschienen ist: „Variatio delectat“. Lebenskunst in Ethik und Therapie am Beispiel von Michel Foucault und Steve de Shazer und in dem es darum geht, die Ethik als Lebenskunst im Sinne Michel Foucaults zu verstehen und als konzeptuellen Hintergrund des Lösungsorientierten Ansatzes Steve de Shazers zu nutzen.

Im Abstract heißt es: „Philosophische Ethik und Therapie werden als mögliche Formen einer Lebenskunst dargestellt, deren Ziel es ist, dem Menschen zu einer individuellen Antwort auf die Frage zu helfen, die ihm die Offenheit und prinzipielle Unbestimmtheit seiner Existenz stellt. Der Weg dazu führt über die Kunst des Andersdenkens und Anderslebens, durch die der freiheitliche Horizont der Möglichkeiten über dem Terrain fixierter Definitionen und Konstellationen eröffnet wird“. Und im Schlusswort: „Der Ethik als Lebenskunst im Sinne Foucaults geht es um die Befähigung des Menschen zu einer selbstverantwortlichen Arbeit an einer Stilistik der eigenen Existenz. Der Weg dazu beginnt im Experiment des Andersdenkens und Anderslebens, das aus den habituellen und inkorporierten Selbstvollzugsdispositionen herausführt und den Horizont der Möglichkeiten neu eröffnet. Archäologie und Genealogie entlarven deshalb determinierende Definitionsprozesse durch den Aufweis ihrer geschichtlichen Relativität: Die ,Wahrheit’ des Menschen kann nicht allgemeingültig fixiert und normiert werden; sie ist bleibende Aufgabe des ethischen Subjekts, der es sich durch die Ausübung von Künsten der Existenz stellt. Diese Ermächtigung des Subjekts zur autonomen Kreation einer Ästhetik der eigenen Existenz ist auch das Ziel lösungsorientierter Kurzzeittherapie nach de Shazer. Sie versucht mit ihren Methoden des Fragens den Raum der Möglichkeiten für die Klienten und Klientinnen wieder zu eröffnen und verzichtet dabei auf jeden Versuch einer aus eigenen ,Epistemen’ generierten, diagnostisch ,fundierten’ Präskription von Lösungen. Ihr Ziel ist vielmehr, die Klienten und Klientinnen durch Andersdenken und Andershandeln zu einer Lösung zu führen und sich dabei von ihnen als Experten und Expertinnen führen zu lassen.“

Zum vollständigen Text geht es hier entlang…

1. März 2023
von Tom Levold
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IQWIG: Auch bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich positive Effekte Systemischer Therapie in mehreren Anwendungsbereichen

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWIG hat gestern folgende Pressemitteilung herausgegeben:

„Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Nutzen und Schaden der Systemischen Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung bewertet.

In folgenden Anwendungsbereichen zeigten sich dabei Vorteile der Systemischen Therapie gegenüber den jeweiligen Vergleichsbehandlungen: Angststörungen und Zwangsstörungen, Essstörungen, hyperkinetische Störungen sowie psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen. Bei gemischten Störungen erwies sie sich als vergleichbar mit einer Richtlinientherapie. Für den Anwendungsbereich affektive Störungen sieht das IQWiG hingegen einen Nachteil gegenüber anderen Therapieoptionen.

Für Erwachsene ist die Systemische Therapie bereits Kassenleistung

Die Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung von psychischen Störungen. Leitgedanke der Systemischen Therapie ist, dass soziale Beziehungen – vor allem innerhalb der Familie – eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen spielen.

Anders als die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie zählt die Systemische Therapie bislang in Deutschland nicht zu jenen psychotherapeutischen Verfahren, die als ambulante Leistung in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt und erstattet werden. Die Systemische Therapie zur Behandlung von Erwachsenen wurde hingegen 2019 in die dafür maßgebliche Psychotherapie-Richtlinie des G-BA aufgenommen und zählt somit zu den sogenannten Richtlinientherapien.

Vor diesem Hintergrund hat der G-BA das IQWiG im August 2021 mit der Nutzenbewertung der Systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung beauftragt.

Positive Effekte in fünf Anwendungsbereichen

Die IQWiG-Bewertung „Systemische Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen“ basiert auf der Auswertung von 42 randomisierten kontrollierten Studien. Gegenüber dem Vorbericht kamen damit fünf ausgewertete Studien hinzu. Die meisten dieser Studien lassen sich sieben Anwendungsbereichen zuordnen. Die anderen Studien hat das IQWiG in einem eigenen zusätzlichen Bereich namens „gemischte Störungen“ betrachtet.

Die Systemische Therapie wurde in den ausgewerteten Studien nicht nur mit anderen Psychotherapieverfahren und Medikamenten verglichen, sondern auch mit sonstigen unterstützenden Maßnahmen.

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24. Februar 2023
von Tom Levold
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Relationales Sein – Annäherung an das Dialogische Momentum therapeutischer Zusammenarbeit

Im Juli 2021 ist an dieser Stelle ein Rezensionsaufsatz von Wolfgang Loth über das Buch Die Psychologie des Zusammenseins von Kenneth J. Gergen erschienen, im November letzten Jahres ergänzt durch ein Interview mit Ken Gergen, das Thorsten Padberg (der Übersetzer des Buches), Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda geführt haben. Ein aktueller Text von Klaus G. Deissler (in Ko-Autorenschaft mit Ingo A. Wolf und Ahmet Kaya) setzt sich ebenfalls mit diesem Buch auseinander, wobei er sich dabei auch kritisch mit den Begrifflichkeiten der deutschen Übersetzung befasst. Darüber hinaus bietet der Text (longread!) eine sehr ausführliche Inhaltsangabe des englischen Originals, das nicht vollständig ins Deutsche übersetzt wurde.

Klaus G. Deissler, Ingo A. Wolf, Ahmet Kaya, Marburg:

Communicamus ergo sum.[1]
Ken Gergen

Vorbemerkung

Ein befreundeter Kollege[2] hat mich (kd) gebeten, eine Rezension über das neu in deutsch erschienene Buch von Ken Gergen[3] zu schreiben. Da ich die Arbeiten von Gergen ganz gut aus den englischsprachigen Originalen kenne, das zu rezensierende Buch aber noch nicht gelesen hatte, habe ich dem nach einer gewissen Bedenkzeit schließlich zugestimmt. Bedenken hatte ich, weil ich die bisherige Rezeption von Gergens Arbeiten im deutschen Sprachraum – insbesondere auch im systemischen Feld – teils für fehlgeleitet empfunden habe und ich begriff, dass Gergens Anliegen nicht ganz verstanden wurden. 

Dies liegt meines Erachtens auch daran, dass die Begriffe, die Gergen verwendet, teils unpräzise ins Deutsche übersetzt wurden. So wird sein Begriff des «social constructionism» zum Teil als «sozialer Konstruktivismus» übersetzt – wogegen sich Gergen selbst bereits gewehrt hat, weil Konstruktivismus und Konstruktionismus nicht identisch sind. Also dachte ich – als ich das Buch von Gergen schließlich in der Hand hatte – schau ich mal nach, wie es in dem neuen Buch von Gergen übersetzt wurde – und siehe da, dieser Begriff kommt in dem neuen Buch von Gergen fast nicht vor. Aber da, wo der englische Begriff «social constructionism» von Gergen benutzt wurde, wurde er fast durchgängig als «sozialer Konstruktivismus» ins Deutsche übersetzt. 

Das war eine kleine Enttäuschung, aber so war es nun mal.

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14. Februar 2023
von Tom Levold
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Health as a Social System. Luhmann’s Theory Applied to Health SystemsHealth as a Social System

Im Transkript-Verlag ist im Januar 2023 das Buch von João Costa: Luhmann’s Theory Applied to Health Systems. Luhmann’s Theory Applied to Health Systems. An Introduction erschienen. João Costa ist Spezialist für öffentliche Gesundheit und Gesundheitsökonom, hat an der London School of Hygiene and Tropical Medicine promoviert und verfügt über rund 40 Jahre Berufserfahrung in Entwicklungsprojekten, die auf die Stärkung der Gesundheitssysteme in mehreren Ländern abzielen. Seine beruflichen und vertraglichen Beziehungen umfassten Verbindungen zu akademischen Einrichtungen, Beratungsunternehmen, internationalen Entwicklungsbanken, internationalen Entwicklungsagenturen und anderen. Derzeit ist er als unabhängiger Berater tätig. Im Vorwort seines Buches heißt es:

„This book has two aims: first, to introduce Niklas Luhmann’s Social Systems Theory to students and researchers of health systems interested in health services provision as a social system; second, to encourage the use of Luhmann’s theory in health systems research. During his productive life, Luhmann covered the social systems of media, law, politics, economy, art, education, religion and others. However, he did not apply his theory to health as comprehensively as he did for the other systems. This book therefore is an attempt to apply his concepts more extensively to health services provision and show the analytical possibilities the theory opens.
In the international health arena, Health Systems Strengthening (HSS) and Health Systems Thinking (HST) have acquired prominence, influencing agendas of international organizations and academic institutions in the last two decades. However, the theoretical underpinning is sketchy, borrowing concepts and tools from diverse fields of knowledge, without a unifying vision of what a health system is. Although it has received some attention, Luhmann’s theory is largely unknown among health researchers, and the resources the theory provides for solving identified weaknesses remain untapped. The Social Systems Theory constitutes an integrated theoretical body with consistent articulation of a number of constructs; therefore it has more to offer than just collections of unrelated theories and narrow frameworks.
Luhmann’s theory is complex and has a plethora of concepts. It was developed over the course of around 30 years. This book has been conceived to introduce a comprehensive summary of the theory for those who are coming into contact with Luhmann’s work for the first time or have only superficial information about it. Therefore, the text tries to be as reader-friendly as is possible for such a conceptually rich theory. Nevertheless, the book also introduces references to advanced topics for those interested in delving deeper into the theory.“

Ein mögliches Manko des Buches könnte darin bestehen, dass darin aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse des Autors nur englisch- und spanischsprachige Literatur verarbeitet werden konnte. Zwar gibt es hinreichend englische Übersetzungen von Luhmanns Werken, aber die deutschsprachige systemtheoretische Literatur zum Gesundheitssystem wird hier nicht reflektiert. Dennoch kann man sich ein Bild von den zentralen Gedanken Luhmanns zum Gesundheitswesen machen.

Die Print-Version des Buches kostet 30,- €, als Open-Access-Buch kann es aber kostenlos als PDF von der Verlagsseite heruntergeladen werden.

10. Februar 2023
von Tom Levold
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Kultur und Migration X

Man kann das aktuelle Heft der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung in gewisser Weise als Jubiläumsheft ansehen. nachdem Herausgeberin Cornelia Tsirigotis 2012 beschlossen hatte, angesichts der bis dahin eher seltenen Beschäftigung mit Kultur und Migration in der systemischen Publikationslandschaft diesen Fragen einen regelmäßigen Platz einzuräumen, legt sie mit der aktuellen Ausgabe bereits das 10. Schwerpunktheft zu diesem Thema vor: Gratulation. Im Editorial schreibt sie: „Die Entwicklung in den vergangenen 10 Jahre hat gezeigt, dass der Diskurs in diesem Themenfeld nicht nur durch die Beschäftigung mit geflüchteten Menschen und unbegleiteten Kindern und Jugendlichen an Breite zugenommen hat. Ein Thema jedoch ist in der ZSTB in den 10 Jahren nicht aufgetaucht: Rassismus.“ Neben drei Artikeln (und einigen Rezensionen) hierzu gibt es noch einen Text über Gruppenarbeit mit ukrainischen Flüchtlingen und einen weiteren Text über Psychosoziale Arbeit mit ÜbersetzerInnen zu lesen. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…