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Relationales Sein – Annäherung an das Dialogische Momentum therapeutischer Zusammenarbeit

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Im Juli 2021 ist an dieser Stelle ein Rezensionsaufsatz von Wolfgang Loth über das Buch Die Psychologie des Zusammenseins von Kenneth J. Gergen erschienen, im November letzten Jahres ergänzt durch ein Interview mit Ken Gergen, das Thorsten Padberg (der Übersetzer des Buches), Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda geführt haben. Ein aktueller Text von Klaus G. Deissler (in Ko-Autorenschaft mit Ingo A. Wolf und Ahmet Kaya) setzt sich ebenfalls mit diesem Buch auseinander, wobei er sich dabei auch kritisch mit den Begrifflichkeiten der deutschen Übersetzung befasst. Darüber hinaus bietet der Text (longread!) eine sehr ausführliche Inhaltsangabe des englischen Originals, das nicht vollständig ins Deutsche übersetzt wurde.

Klaus G. Deissler, Ingo A. Wolf, Ahmet Kaya, Marburg:

Communicamus ergo sum.[1]
Ken Gergen

Vorbemerkung

Ein befreundeter Kollege[2] hat mich (kd) gebeten, eine Rezension über das neu in deutsch erschienene Buch von Ken Gergen[3] zu schreiben. Da ich die Arbeiten von Gergen ganz gut aus den englischsprachigen Originalen kenne, das zu rezensierende Buch aber noch nicht gelesen hatte, habe ich dem nach einer gewissen Bedenkzeit schließlich zugestimmt. Bedenken hatte ich, weil ich die bisherige Rezeption von Gergens Arbeiten im deutschen Sprachraum – insbesondere auch im systemischen Feld – teils für fehlgeleitet empfunden habe und ich begriff, dass Gergens Anliegen nicht ganz verstanden wurden. 

Dies liegt meines Erachtens auch daran, dass die Begriffe, die Gergen verwendet, teils unpräzise ins Deutsche übersetzt wurden. So wird sein Begriff des «social constructionism» zum Teil als «sozialer Konstruktivismus» übersetzt – wogegen sich Gergen selbst bereits gewehrt hat, weil Konstruktivismus und Konstruktionismus nicht identisch sind. Also dachte ich – als ich das Buch von Gergen schließlich in der Hand hatte – schau ich mal nach, wie es in dem neuen Buch von Gergen übersetzt wurde – und siehe da, dieser Begriff kommt in dem neuen Buch von Gergen fast nicht vor. Aber da, wo der englische Begriff «social constructionism» von Gergen benutzt wurde, wurde er fast durchgängig als «sozialer Konstruktivismus» ins Deutsche übersetzt. 

Das war eine kleine Enttäuschung, aber so war es nun mal.

Kleiner Exkurs: Konstruktionismus

Umso erstaunter war ich, dass Gergen sich selbst in seinem Buch auf eine Auseinandersetzung mit Ernst von Glasersfeld bezog, der seinen «radikalen Konstruktivismus» vertrat, während Ken Gergen ihm die Thesen seines «social constructionism» entgegenhielt. Und genau an dieser Stelle der deutschen Übersetzung hat der Übersetzer «Konstruktivismus» und «Konstruktionismus» korrekt auseinander gehalten und damit – aus meiner Sicht – präzise übersetzt. Was hatte das zu bedeuten, dass er es hier präzise übersetzte und an anderen Stellen nicht?

Inzwischen hatte ich mir selbst sowohl die englische Hardcover-Version als auch die englisch-sprachige Ebook-Ausgabe des Buches von Ken Gergen besorgt und da mir beim Lesen der deutschen Übersetzung die Aufgabe, eine Rezension zu verfassen, immer anspruchsvoller zu werden schien, habe ich meine beiden Kollegen – Ahmet Kaya, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Dr. Ingo Wolf, Psychologischer Psychotherapeut i.A.[4] – gebeten, mich in dem Projekt zu unterstützen. Und tatsächlich – was als Rezensionsprojekt begann, wandelte sich in ein Projekt, in dem viele Richtungen sich öffneten und der Ausgang des Unternehmens offen war. Meine beiden Kollegen haben das Rezensionsprojekt mit Ideen und Fragen angereichert, so dass aus dem Rezensionsprojekt auch eine Auseinandersetzung um die Orientierung der Systemischen Therapie und ihre Aus- und Weiterbildungskontexte, innerhalb derer wir alle drei unterwegs sind, wurde.

So stellten sich uns auch Fragen, die den Titel des Buches betrafen – aber setzen wir zunächst unseren kleinen Exkurs fort.

Die jüngere Generation systemischer Therapeut:innen wird sich kaum noch an die Auseinandersetzungen und den Beitrag von Gregory Bateson zur Systemischen Therapie  erinnern – oder vielleicht sogar froh sein, dass diese Zeiten vorbei sind. Die These Batesons «Die Beziehung geht vor» ist fast in Vergessenheit geraten – sie war eine der wichtigsten Thesen Batesons. Und dass der Begriff systemisch von Batesons stammt, interessiert heute kaum noch jemand. Hingegen feiert der Psychologismus auch in der Systemischen Therapie seine Siege, indem das Systemische, die Beziehungen im aktuellen Mehrpersonensystem – Therapeut:innen eingeschlossen – zugunsten der verinnerlichten Beziehungsmuster im Individuum der Klient:innen vernachlässigt werden. Genau diese Tendenz hatte bereits Bateson kritisiert und Gergen wird nicht müde, auf den psychologischen Reduktionismus zu verweisen, wenn das aktuell Relationale vernachlässigt wird.

Nun ist die Übersetzung eines Buches von Ken Gergen erschienen, das genau an der These «Die Beziehung geht vor» anknüpft. Und obwohl es den Englischen Titel «Relational Being – Beyond Self and Community» auf deutsch also «Relationales Sein – jenseits von Selbst und Gemeinschaft» heißt, wird uns die Übersetzung des Buches unter dem Titel «Die Psychologie des Zusammenseins» angeboten. Relationales Sein als Zusammensein zu übersetzen ist sicher eine Möglichkeit, aber wieso erscheint diese Übersetzung nur im Buchtitel, während im gesamten Buch fast ausschließlich von Relationalem Dasein die Rede ist?

Anders gesagt, kann man das ganze Buch Gergens als Kritik am Psychologismus bzw. an individualpsychologischen Beschreibungsweisen verstehen. Wenn dem so ist, macht aber gerade der deutsche Titel des Buches nämlich «Die Psychologie des Zusammenseins» weniger Sinn, da er nahelegt, Ken Gergen wolle eine neue Psychologie entwerfen, was er aus unserer Sicht gerade nicht will – er kritisiert individualpsychologische  Beschreibungsformen und stellt stattdessen die Beziehung an erste Stelle: Denn schließlich werden in sprachlichen Beziehungsprozessen[5] erst Begriffe wie Psychologie und Individuum erzeugt. (kd)

Kontextuelles

Diese Rezension zu schreiben, stellt für uns also eine anspruchsvolle Arbeit dar, die wir unverzüglich in die Tat umsetzen wollten. Wir wurden jedoch durch verschiedene Umstände, die wir gleich im Text erläutern werden, dazu veranlasst, uns zunächst mit ein paar kontextuellen Bedingungen der deutschen Version des genannten Buches auseinanderzusetzen. 

Geschweige dessen möchten wir einen Punkt vorwegnehmen: Das von Ken Gergen vorgelegte Buch ist ein wichtiges und für Praktiker – insbesondere die der Systemischen Therapie – nützliches Werk. Es zu übersetzen, war sicher eine herausfordernde und sehr zeitaufwändige Aufgabe. Anders gesagt: dem Übersetzer des vorliegenden Buches – Thorsten Padberg – gebührt große Anerkennung, dass er sich dieser Mammutaufgabe gestellt und sie erfolgreich abgeschlossen hat.

Allerdings gibt es die erwähnten kontextuellen Punkte, die wir im Folgenden vorweg zu bedenken geben möchten. 

Der erste unmittelbare Punkt, der bei der deutschen Übersetzung ins Auge fällt, ist, dass Gergens Buch im dgvt[6]-Verlag – dem Verlag der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie – erschienen ist. Das sollte man positiv werten, wenn man bedenkt, dass Gergen dem Behaviorismus eher kritisch gegenüber steht und er mit der Veröffentlichung eine Stimme in einem ihm fremden verhaltenstherapeutischen Verlagskontext erhält. Dies ist umso mehr hervorzuheben als Padberg selbst verschiedene wichtige Positionen im Bereich der Verhaltenstherapie bekleidet: Sei es als psychotherapeutischer Praktiker, sei es als Vorstandsmitglied einer Verhaltenstherapeutischen Vereinigung, sei es als Mitglied des dgvt-Verlags. Er öffnet damit dem Sozialen Konstruktionismus[7],[8] eine Tür im verhaltenstherapeutischen Bereich.

Gleichzeitig scheint er sich der «Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus» sehr nahe zu fühlen. Denn quasi im selben Atemzug, in dem er im dgvt-Verlag Gergens Buch als Übersetzung veröffentlichte, hat er in einem Sammelband die Arbeiten dieser Arbeitsgruppe» ebenfalls im dgvt-Verlag herausgegeben[9]. Unabhängig von den folgenden Erwägungen sind beide Publikationen für sich genommen bereits anerkennenswert und verdienstvoll. 

Allerdings wirkt die Übersetzung von Gergens Buch dadurch etwas mehrdeutig  kontextualisiert bzw. in der Klarheit seiner Aussagen hinterfragbar, dass die äußere Aufmachung beider Bücher quasi Spiegelbilder der Hase-Ente-Illusion auf dem Deckblatt des jeweils anderen Buches darstellen[10],[11],[12]. Da Padberg die beiden Bücher unseres Wissens nicht explizit zueinander in Beziehung setzt, stellt sich die Frage, ob das jeweils eine Buch das jeweils andere durch die folgende Illustration kontextualisieren bzw. in Beziehung setzen soll:

Dieser doppelte Kunstgriff wirkt durch seinen vieldeutigen und illusionären Charme verführerisch und lädt gleichzeitig dazu ein, verwirrt zu sein. Und man kann sich fragen, ob Padberg nicht selbst Opfer dieses kreativen Vorgehens wird, wenn er möglicherweise genau dadurch Gefahr läuft, ein paar Punkte durcheinander zu bringen. 

Die entstandene Verwirrung, die wir meinen festgestellt zu haben, möchten wir versuchen aufzulösen, indem wir sie hinterfragen. 

Insbesondere stellt sich uns folgende Frage: Könnte der Übersetzer nicht dadurch zur Verwirrung beitragen, dass er Ken Gergens Begriff des «sozialen Konstruktionismus» mit dem deutschen Begriff «sozialer Konstruktivismus» – so wie er von der Bochumer Arbeitsgruppe benutzt wird – gleichsetzt bzw. Gergens Begriff des Konstruktionismus unter dem Begriff Konstruktivismus subsumiert und nicht weiter unterscheidet? Jedenfalls begründet er weder, dass er es tut und warum er es tut. So scheint er unausgesprochen eher durch die Hase-Ente-Illusion auf eine spiegelbildliche Gleichstellung anzuspielen und ihrem Charme zu erliegen, indem er den Konstruktionismus dem Konstruktivismus quasi einverleibt bzw. den Konstruktionismus dem Konstruktivismus unterordnet.

Nach unserem Verständnis könnte die Gleichsetzung von Konstruktionismus und Konstruktivismus zusätzlich von der klanglichen Ähnlichkeit und seiner Schreibweise her begünstigt werden. Diese Gleichsetzung wäre ideengeschichtlich jedoch irreführend und zumindest ungenau: Im psychologischen Feld leitet sich der Begriff Konstruktivismus insbesondere von Ernst von Glasersfelds «Radikalem Konstruktivismus»[13] ab. Dieser verlagert den Konstruktionsprozess eher ins Individuum – das Individuum konstruiert sein eigenes Universum[14] – letztlich mit seinem kognitiven Apparat. Damit ist der so verstandene Konstruktivismus nahe bei den klassischen Ideen des individual- bzw. neuropsychologischen Denkens, denn so verstanden beschreibt der um die soziale Komponente erweiterte Konstruktivismus eher einen zusammengesetzten Prozess aus vielen verschiedenen individuellen Konstruktionsprozessen. 

Primär sind dabei die individualpsychologischen Prozesse; sie entstammen damit einer individualpsychologisch-erkenntnistheoretischen Position. Der Soziale Konstruktivismus wird zu einem Ganzen, indem er sich aus individuellen Konstruktionsprozessen zusammensetzt – das Soziale und damit Beziehungen werden abgeleitet – sie sind damit sekundär. 

In der vorliegenden Übersetzung widmet sich Gergen diesem Thema mit seinen Fallstricken auf Seite 275. Während Gergen im englischen Original zwischen seiner «social constructionist position» und der «cognitive constructivist position» von Ernst von Glasersfeld unterscheidet (Gergen, 2009, S.196; a.a.O.) unterscheidet die Übersetzung zwischen der «sozial-konstruktivistischen Sicht» Gergens und der «kognitiv-konstruktivistischen Sicht» von Glasersfelds.

Anders ausgedrückt: Ken Gergen stellt das kognitiv-konstruktivistische Denken mit Hilfe seiner radikal-relationalen Position auf den Kopf. Der Soziale Konstruktionismus – so wie Ken Gergen ihn versteht – legt also den Vorrang auf Beziehungen bzw. auf das Soziale: So sind Soziale Konstruktionsprozesse Beziehungsprozesse – bzw. das, was konstruiert wird, ist in erster Linie ein Produkt von Beziehungen. – Somit werden auch die Ideen von Individuen, Kognition oder auch Konstruktionismus und Konstruktivismus als Beziehungsprodukte innerhalb von Beziehungen erzeugt. 

Ken Gergen hat es 1994 in seinem Buch «Realities and Relationships» wie folgt pointiert ausgedrückt: «Communicamus ergo sum», wir kommunizieren also bin ich.

Damit schließt er an das Batesonsche Systemische Denken an, das ebenfalls der Beziehung Vorrang zuweist. Auch in Batesons Verständnis haben alle Wirklichkeitskonstruktionen ihre Wurzeln «…in dem, was zwischen Personen vor sich geht und nicht in irgendeinem Innerhalb einer Person, was es auch sein mag… die Beziehung geht vor, sie geht voraus»[15]. Wir wiederholen diesen Punkt an dieser Stelle, da er uns insbesondere im systemtherapeutischen Feld verloren gegangen zu sein scheint.

«Im Anfang ist[16] die Beziehung»

Indem man also das Buch von Gergen in die Hand nimmt, befindet man sich unvermittelt in Beziehung – aber zu wem oder was? … zum Autor des Buches sollte man annehmen, uns aber hat sich die Beziehung zum Übersetzer aufgedrängt. Als wollte er Gergens «Im Anfang ist* die Beziehung»[17],[18]unausgesprochen verwirklichen, drängt er sich selbst in die Beziehung zum Leser, indem er – für eine Übersetzung aus einer Fremdsprache bemerkenswert – sein eigenes Übersetzer-Vorwort dem Buch Gergens voranstellt. Dabei tappt er unversehens in eine von ihm selbst konstruierte erkenntnistheoretische Beziehungsfalle: Zwar spielt Gergen mit der von Martin Buber übernommenen Formulierung auf das Bibelzitat «Am Anfang war* das Wort» an – und als Deutschsprachige/r könnte man sich auch an Goethes «Am Anfang war* die Tat» erinnert fühlen. Padbergs Übersetzung von «In the beginning is the relationship» mit «Am Anfang war* die Beziehung» kann man mit Wohlwollen als Produkt der Beziehungsfalle einer postfaktischen Voreingenommenheit zuordnen: Das «war» bezieht sich dabei auf das Vergangene, das Postfaktische – das, was in der Vergangenheit gemacht wurde. Aber das meint Gergen gerade nicht, wenn er Buber zitiert und sagt «Im Anfang ist die Beziehung». Durch seine feinsinnig und kunstvoll gewählte linguistische Ausdrucksweise holt Gergen mit Bubers Zitat nämlich die Gegenwart in die Formulierung hinein und seine Haltung erweist sich damit – wie von ihm beabsichtigt – als radikal-relational und -gegenwärtig. 

Uns stellt sich somit die Frage, ob der Übersetzer dies bewusst umgehen wollte, weil ihm der feine Unterschied nicht wichtig genug erschien. Vielleicht wollte er sich aber auch der Lesart der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus loyal anschließen, um damit die Position von Gergen in allen Feinsinnigkeiten in den Unterschieden zum Sozialen Konstruktivismus nicht zu deutlich werden zu lassen.

Genau aus diesem Grund könnte Padberg an diesem und einigen entscheidenden anderen Punkten an Gergens Absichten vorbei übersetzt bzw. sie weniger ernst genommen haben.

Im Zuge dieser Überlegung möchten wir nicht verhehlen, dass wir ein paar weitere Übersetzungsformen festgestellt haben, die einen ähnlichen Zusammenhang beleuchten, uns eher fragwürdig erscheinen und bei der positiven Rezeption der Übersetzung ein paar Fragezeichen setzen: Z.B. wurde der Originaltitel nicht ins Deutsche übersetzt als «Relationales Sein. Jenseits von Selbst und Gemeinschaft»[19]. Wir finden es fragwürdig, dass einem englischsprachigen Buch von 2009 in seiner Übersetzung von 2021 ein deutscher Titel gegeben wird, der sich vieldeutiger deutscher Übersetzungsformen des englischen «being» bedient. So wird im Titel «relational being» mit «Zusammensein» im restlichen Buch nicht nur aber überwiegend mit «relationalem Dasein» übersetzt. 

«Relational Being. Beyond Self and Community» als «Die Psychologie des Zusammenseins» zu übersetzen, mag zwar den Wunsch erfüllen, damit für das Buch über die Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus einen quasi spiegelbildlich/komplementären Titel zu finden, nämlich für den Titel «Die Psychologie des Alltags». 

Eine «Psychologie des Zusammenseins» würde aber unseres Erachtens das «Relationale Sein» auf den Kopf stellen: Ken Gergen wollte keine neue Psychologie begründen, sondern relationales Sein als primäre aktive Prozesse der Beziehungsgestaltung beschreiben, die erst sekundär und unter anderem individuelles Sein hervorbringt – das individuelle Sein ist also als ein Produkt des Relationalen Seins zu verstehen – und nicht umgekehrt. Gergen äußert diesen Zusammenhang entsprechend am Ende seines Buches:  «Deshalb arbeiten wir auf eine neue Aufklärung hin, in der die Verehrung des Selbst durch die Achtung vor der Beziehung ersetzt wird» (S.423).

In ähnlichem Sinne ist es für uns denkwürdig, dass der Übersetzer in seiner Fußnote (S.37) abwägt, ob man innerhalb des Buches Gergens «being» mit Sein oder Dasein übersetzen sollte, da diese Frage in unserem Verständnis den Kontext auffächert, in welchem die Antwort gegeben werden soll. Unseres Erachtens wird durch Gergens «relational being» weniger das Bedeutungsfeld von Begriffen wie Dasein oder Sosein und noch weniger auf einen deutschen philosophischen Hintergrund angespielt, sondern der Zusammenhang mit dem englischen Begriff «human being» (Mensch-Sein) ist relevant. Gergen versucht das «relational being» vom individuellen «human being» zu unterscheiden und damit das Relationale Sein in den Vordergrund zu rücken. 

In neueren sozialkonstruktionistischen Veröffentlichungen wird diese Begrifflichkeit darüber hinaus noch weiterentwickelt durch das mehr prozesshafte «relational becoming» – das Relationale Werden (John Shotter, 2016[20]).

Wenn man «relational being» mit «relationalem Dasein» übersetzt, verabschiedet sich unseres Erachtens sowohl die Konnotation vom Relationalen Sein als auch die vom Relationalen Werden aus dem Bedeutungskontext.

Eingedenk dieser Punkte stellt sich uns die Frage, ob unvoreingenommene Leser:innen durch die kleinen aber entscheidenden Eigenheiten der deutschen Übersetzung nicht in eine Richtung gelenkt werden könnten, die zwar der Sinngebung Padbergs und möglicherweise auch der des Sozialen Konstruktivismus der Bochumer Arbeitsgruppe folgen. Eher missverständlich scheinen sie aus unserer Sicht die Absichten Gergens und die des Sozialen Konstruktionismus zu verwirklichen.

Zwischenbemerkung

Für manche:n Leser:in mögen diese Ausführungen haarspalterisch oder gar überflüssig erscheinen. Dass dem nicht so ist, möchten wir zeigen, indem wir mit den folgenden Ausführungen einen kurzen Ausflug in unser Therapieverständnis machen. 

Wir gehen davon aus, dass erst eine Anerkennung der radikal-relationalen und -gegenwärtigen therapeutischen Prozesse Möglichkeiten eröffnet, die sich insbesondere in der Psychotherapie verstanden als Beziehungsformen zwischen Klient:innen und Therapeut:innen nutzen lassen. 

Diese Beziehungsformen realisieren sich in dem, was wir als gleichberechtigte Dialogische Zusammenarbeit zwischen Therapeut:innen und Klient:innen bezeichnen[21]. Das Relationale als primärer Prozess hat in der Dialogischen Zusammenarbeit der psychotherapeutischen Alltagspraxis seine Entsprechung und ermöglicht ihren präfaktischen Nutzen[22] – der Nutzen, der sich in der fortgesetzten Gegenwart realisiert und darüber hinausweist.

Am Anfang war* die Diagnose

Im Widerspruch zur Buberschen und von Gergen übernommenen dialogischen Erkenntnis «Im Anfang ist die Beziehung» steht die medizinische These «Vor die Behandlung hat der liebe Gott die Diagnose gestellt». Dieser antike – mehr oder weniger unausgesprochene und bis heute geltende – Grundsatz der medizinischen Behandlung hat den Anspruch einer Fundamentalwahrheit: Er hat den Charakter einer nicht hinterfragbaren Letztbegründung (vgl. Richter, 2013)[23]. Das heißt, wir haben es mit einer Wahrheit zu tun, die von einer übergeordneten Instanz[24] formuliert bzw. geschaffen wurde. Diese bestimmt die Reihenfolge, in der medizinisches Handeln zu erfolgen hat: Erst die Diagnose, dann die Behandlung. Das, was von einer nicht-hinterfragbaren Instanz in der Vergangenheit erschaffen wurde, bestimmt also Gegenwart und Zukunft. So gesehen realisieren sich hier die beiden Thesen «Im Anfang war das Wort» (Bibel) bzw. «Im Anfang war die Tat» (Goethe). Beide Thesen formulieren etwas in der Vergangenheit Generiertes. Weniger offensichtlich ist der weitere Anspruch, den diese Sätze unausgesprochen transportieren: Sie wurden vergangenheitsbezogen formuliert und sollen aber über die Gegenwart hinaus gelten – vielleicht auch für die Ewigkeit. 

Dies ist der postfaktische Anspruch, dass das in der Vergangenheit Geschaffene das gegenwärtige und zukünftige Handeln bestimmt – bei der Diagnose ist es die Be-Handlung. Mit Bezug auf die Diagnose beinhaltet diese Formulierung jedoch nicht nur einen postfaktischen Determinismus, nämlich dass die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft bestimmt. In besonderer Weise wird auch ein individualpsychologischer Pathologismus impliziert, der zwei entscheidende Bestandteile hat:

  1. Die Diagnose ist wahr – sie ist in der Vergangenheit entstanden, wird in der Gegenwart festgestellt und bewahrheitet sich in der Zukunft.
  • Die Diagnose ist ihres aktuellen zwischenmenschlichen Kontextes entkleidet, da sie als individualpsychologische Wahrheit formuliert wurde.

Auf diese Weise werden auch psychopathologische Diagnosen in der kassenrechtlichen Psychotherapie gehandhabt: Vor der Behandlung muss eine Diagnose erzeugt werden, damit sie abgerechnet werden kann. Einmal festgestellt berechtigt sie zur Abrechnung der anstehenden ‹Behandlung der Diagnose› gegenüber den Krankenkassen. Dadurch wird die Fortschreibung der Diagnose notwendig – sie bewahrheitet sich durch die Ökonomie des sich wiederholenden Abrechnungsprozesses, in der die Diagnose fortgeschrieben wird. Die Diagnose wird somit zum primären Objekt der Behandlung – und die gegenwärtige Beziehung zwischen Klient:in und Therapeut:in muss zugunsten der Diagnose zurück gestellt oder gar vernachlässigt werden. 

Die Diagnose bestimmt, was in der Therapie geschieht. Das heißt, die therapeutische Beziehung wird vernachlässigt und bestimmt nicht, welche Diagnose generiert wird.

Alles, was beobachtet, gesagt und getan wird, vollzieht sich in kommunikativen Kontexten

«Maturanas … konstruktivistischer Satz «Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt» lautet …konstruktionistisch umformuliert: Alles, was von Individuen beobachtet wird, wird aus gemeinsamen Gesprächen heraus beobachtet. … Die Beobachtung ist immer Teil kommunikativer Prozesse, die insbesondere auch Gesprächsprozesse sind»[25]

Die kommunikativen bzw. kontextuellen Prozesse sind vorrangig gegenüber dem, was in der individuellen Teilhabe an diesen Prozessen geschieht. Der Satz, «ich beobachte, wie mein Nachbar sein Haus repariert», ist nicht losgelöst vom zwischenmenschlichen Kontext, in dem er gesagt wird, zu verstehen. Es macht einen Unterschied, ob er in einem Telefonat mit einem Freund gesagt oder ob dieser Satz in einem Dokumentarfilm über Hausbau geäußert wird. 

Dialogisches Momentum

Interessanterweise wird auch von den Vertretern der Vorschrift «Diagnose vor Behandlung» häufig die «therapeutische Beziehung» als das beschrieben, was letztlich wirkt. Sie wird jedoch nicht näher veranschaulicht und meist als etwas Undefinierbares, Mystifiziertes, vielleicht sogar Göttliches in der Schwebe gehalten.

Wenn man die therapeutische Beziehung jedoch konkretisiert, sie als gleichberechtigte Dialogische Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Therapeut:innen beschreibt und der Qualität dieser Zusammenarbeit einen bevorzugten Platz einräumt, erhält die Formulierung «Im Anfang ist die Beziehung» einen herausragenden Stellenwert. Dieser relationalen und damit kommunikativ geteilten Erkenntnis folgend, wird die Diagnose des Individuums zweitrangig und die therapeutische Beziehung rückt ins Zentrum. Die therapeutische Beziehungsgestaltung kann dann als ein fortgesetzter (relationaler) Prozess des gemeinsamen Neubeginnens verstanden werden. Dieser Prozess realisiert sich durch die sich fortsetzende Dialogische Zusammenarbeit.

Diese Trias,

die zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung (1), 

die sich durch die Dialogische Zusammenarbeit (2) 

im fortgesetzten (relationalen) Neubeginn (3) umsetzt – 

ermöglicht die erfolgreiche Gestaltung der psychotherapeutischen Zusammenarbeit. Sie ist das, was man auch das Momentum der Dialogischen Zusammenarbeit bezeichnen oder kurz Dialogisches Momentumnennen kann[26].

Demgemäß sollte die Erforschung des Dialogischen Momentums[27] ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Dabei sollten die therapeutischen Prozesse erkundet werden, die sich zwischen Klient:innen und Therapeut:innen abspielen – insbesondere solche, die begünstigend und aber auch solche die eher hinderlich wirken. Thematisch steht dann insbesondere die Frage im Vordergrund, wie man zu einer hochwertigen Qualität der therapeutischen Zusammenarbeit gelangen kann? Kurz gefasst: Wie gelingt Psychotherapie?

Anhang

Im nächsten Abschnitt möchten wir den inhaltlichen Fokus auf die Zusammenfassung der einzelnen Abschnitte und Kapitel des Buches von Gergen legen – wir beziehen dabei auch die englische Version ein, das einige Kapitel enthält, die in der deutschen Ausgabe nicht berücksichtigt wurden. Interessierte Leser können in diesem Anhang kleine Zusammenfassungen der Kapitel des Buches von Gergen finden. Keinesfalls ersetzt das Lesen dieser Zusammenfassungen die Lektüre des Buches.

Hinweis: Wir nutzen im folgendem Text teilweise unsere eigenen Übersetzungen von Begriffen, wenn wir sie passender finden als die der deutschen Buch-Übersetzung.

Teil 1 – Vom begrenzten zum Relationalen Sein[28]

In Teil 1 der insgesamt 4 Hauptteile des Buches hinterfragt Gergen zunächst klassische wissenschaftliche Grundlagen und Begriffe. Die Form des Schreibens, die er wählt, soll sich nach Gergen so entwickeln, dass sie «der relationalen These näher steht». Im Zentrum der Arbeit stehe eine «Perspektive auf Beziehungen, in der diese nicht dadurch definiert sind, dass zwei oder mehr Menschen zusammentreffen». Vielmehr möchte Gergen dazu einladen, das «Individuum selbst als Nebenprodukt von Beziehungen anzusehen» und Beziehungen in Sprache zu beschreiben. Hierzu experimentiert Gergen mit linguistischen Formen, die mit den «üblichen Konventionen des Schreibens» spielt: «Wenn ich über das Individuum schreibe – über die Person, über mich selbst, über mein Ich, über Sie – und so weiter, werde ich die Worte auf die übliche Weise verwenden. Jedoch werde ich darüber nicht vergessen, dass sie für die Produkte von Beziehungen einstehen». Die Zielrichtung Gergens lautet: «Auf zu einer neuen Aufklärung!», die «über das Vermächtnis der Aufklärung hinausgehen» soll. Er «werde versuchen, menschliches Handeln so zu beschreiben, dass die Prämisse, jedes Individuum sei in sich abgeschlossen, durch ein Bild der Bezogenheit ersetzt wird». Es gehe stets um «einen Prozess der Koordination». Aus dieser Sicht ergebe sich, «dass faktisch jegliche sinnvolle Handlung aus dem fortlaufenden Prozess der Bezogenheit entsteht, aufrechterhalten und/oder beendet wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es kein isoliertes Selbst oder vollkommen private Erfahrung. Wir leben vielmehr in einer Welt der Ko-Konstitution» (S.25).

Die Teile gliedern sich in Unterkapitel, dazu gehören «Das begrenzte Sein», «Am Anfang ist die Beziehung», «Das relationale Selbst» und «Der Körper als Beziehung: Emotion, Lust und Schmerz», die vielstimmig dargestellt werden und sich dem Hauptthema annähern. Gergen arbeitet sich von allgemeinen und grundlegenden Voraussetzungen weiter bis zur Darstellung und entsprechender Umsetzung relationaler Ideen in die Praxis.

Kapitel 1: Das begrenzte Sein[29]

Gergen möchte im ersten Kapitel «Grenzen überwinden»: Hierzu kritisiert er den «Westen» (S.46), dem er vorhält, dass er «das Gefühl, ein eigenständiges Ich zu besitzen» für «naturgegeben» zu halten, als etwas, «das einfach so ist». Er hinterfragt, welche Folgen das für unser Zusammenleben hat: «Was steht zwischen diesen Kommata, von denen jedes Einzelne dafür sorgt, dass wir sie alle als individuelle Personen betrachten (Mutter, Vater, Schwester)?» Gergen spricht direkt den Leser an und stellt dabei fest: «Einen Teil davon (des Innenlebens) transportieren Deine Worte und Gesten nach außen, der Rest bleibt im Verborgenen…» (S.46). Die individualistische Tradition, die die Annahme vertrete, dass Menschen eigenständige Wesen seien, stelle laut Gergen eine Bedrohung für die gesamte Welt dar (S.47). Er mahnt, dass wir uns diese Selbstgewissheit nicht länger leisten können. Die Hauptaufgabe des Buche sei es, eine Alternative zur Tradition des isolierten Seins aufzuzeigen. Dabei stehe das «relationale Sein» für eine Welt, die nicht in Individuen, sondern in Beziehungen gründet und dadurch am Ende die «überkommende Grenzen, die uns voneinander trennen, überwindet». Je verbreiteter die Idee des «relationalen Seins» sei, desto größer werde das Angebot an neuen Handlungsmöglichkeiten, neuen Formen des Zusammenlebens. Gergen kritisiert, dass die «Begrenztheit unseres Selbst» einem Gefängnis gleichkomme und dass die «traditionelle Sicht auf das begrenzte Individuum», uns als selbst geschaffene Konstruktion diene (S.47).

Im Abschnitt «Das misshandelte Selbst[30]» geht Gergen auf kulturgeschichtliche Aspekte des Selbst ein (S.48).Vor dem 16. Jahrhundert sei die unsterbliche Seele das ausschlaggebende Kennzeichen des Selbst. Später sei laut Gergen die Seele durch den bewussten Verstand ersetzt worden. Gergen stellt im Abschnitt «Vollkommene Isolation» (S.48) fest, dass wenn wir uns als grundlegend voneinander getrennt begreifen, Alleinsein der Naturzustand sei (S.49) und ergänzt mit Statistiken zum Alleinsein in den USA: «Fast die Hälfte aller Erwachsenen in den Vereinigten Staaten lebt inzwischen alleine». Außerdem werde das Alleinsein in verschiedenen Studien mit persönlichem Defizit, erhöhtem Blutdruck, Depression und Selbstmordgefahr assoziiert (S.50). Er resümiert: «Was wäre, wenn wir das, was wir Gedanken, Fantasie oder Leidenschaft nennen, als etwas auffassen, das aus Beziehungen entsteht?» und beantwortet die Frage selbst: «Wir würden dadurch zu einer neuerlichen Würdigung des Selbst zusammen mit anderen einladen» (S.50).

Im Abschnitt «Ständige Bewertung» beginnt Gergen mit der Eingangsfrage: «Wenn ich allein dastehe, als der einzige Quell meiner Handlungen, was bedeutet es dann, zu scheitern?» (S. 51). Allgegenwärtige Bewertungen seien laut Gergen keine «inhärente  Notwendigkeit des Soziallebens», sie sei eine ganz spezifische Folge der Annahme, wir seien singuläre Wesen. Gergen erklärt anhand persönlicher Beispiele von eigenen Leistungs-, und Bewertungssituationen, dass «wenn wir die Welt nicht mit Begriffen voneinander getrennter Individuen beschreiben würden, in der jeder entsprechend seiner Fähigkeiten und Absichten handelt, würden Versagen und Schuld niemals einem EINZELNEN zugeschrieben» (S. 53).

Im Abschnitt «Das Streben nach Selbstwert kritisiert Gergen die traditionell verbreitete Denkweise der «Sorge um das Selbst» als «Teil der menschlichen Natur» (S.54) und zitiert Carl Rogers: «In einer Welt, in der unser Wert nur unter bestimmten Bedingungen Bestand hat, werden wir anfangen, uns selbst ebenfalls nur unter bestimmten Bedingungen zu achten». Gergen resümiert, dass «wenn wir aufhören würden, alles nach dem Maßstab singulärer Wesen zu bemessen, wäre das ein Schritt in Richtung Freiheit vom um sich greifenden Zwang zur Steigerung des Selbstwerts.

Im Abschnitt «Das selbst und die Anderen» zitiert Gergen den Autor Edward Sampson, der beschreibt, wie wir unser Selbstwertgefühl durch «Schulterklopf-Monologe» aufrechterhalten, d.h. Geschichten darüber erzählen, «wie gut wir sind, wie erfolgreich, wie anständig» und wie wir diesen Monologen versuchen Glaubwürdigkeit zu verleihen, dabei jedoch «andere benötigen, die weniger gut sind» (S.57). Gergen erklärt, dass es eine enge Verbindung zwischen unserer Annahme, wir seien «in uns geschlossen» und der Qualität unserer Beziehung zu anderen gebe.

Im Abschnitt «Misstrauen und Herablassung» beschreibt Gergen, dass wenn wir von voneinander abgegrenzten Wesen ausgehen, wir einander mit grundsätzlichem Misstrauen begegnen (S. 58). Dass Menschen von Natur aus darauf ausgerichtet seien, sich selbst zu belohnen, sei eine kulturelle Konstruktion. Die Annahme, wir seien voneinander unabhängige Wesen führe nicht nur zu Misstrauen gegenüber anderen, sondern lasse uns auch aktiv nach ihren Fehlern suchen. Sozialer Vergleich sei kein Bestandteil der menschlichen Natur, sondern eine bedauerliche Angewohnheit der «westlichen Kultur». Die Herausforderung für uns alle bestehe darin, die Mauern um unser Sein einzureißen. Im Abschnitt «Beziehungen als Beiwerk» erklärt Gergen, dass wenn das Selbst an erster Stelle stehe, Beziehungen für uns von sekundärer Bedeutung und damit «künstlich» seien. Wir würdenBeziehungen dann ambivalent gegenüberstehen. Wenn wir also Beziehungen als zweitrangig und künstlich ansehen, dann werden wir sie vor allem dann eingehen, wenn sie unserem persönlichen Nutzen oder Vergnügen dienen. Gergen kritisiert, dass die Sozialwissenschaften (seit dem 19. Jahrhundert) zu diesem Misstrauen gegenüber Beziehungen beigetragen haben: Das Individuum werde durch andere verdorben (der individuelle Verstand werde von der Masse zerstört; vgl. Milgrams: Autoritätsunterwerfung). 

Im Abschnitt «Die Kultur des isolierten Seins» beschreibt Gergen, dass die Ideologie des «begrenzten Seins» zur Vermarktung des Selbst und zum Verfall des moralischen Diskurses beigetragen habe. Wenn wir andere vor allem danach beurteilen würden, wie dienlich sie uns sein können, beginnen wir laut Gergen damit, unser gesamtes Leben durch die ökonomische Brille zu betrachten. Gergen geht davon aus, dass es für uns alle mehr zu gewinnen gäbe, wenn wir «unsere Beziehungen pflegen – zu anderen und zu unserer Umwelt». Er mahnt, dass wenn wir Menschen als rationale Marktteilnehmer betrachten, sich das Wesen unserer Beziehungen verändere (S.68).

Im Abschnitt «Die Last mit der Moral» reflektiert Gergen ethische Aspekte des Zusammenlebens und hinterfragt, wie wir zu einer «tragfähigen Form des Zusammenlebens kommen, wenn jeder das Recht auf Selbstbestimmung hat»? (S.69). Wenn die Tugenden des Einzelnen im Fokus stünden, werde laut Gergen das Gemeinwohl zur Nebensache. Die Tradition des «isolierten Seins» halte uns von moralischen Erwägungen ab und entfremde uns von den uns regulierenden Instanzen.

Im Abschnitt «Von der Tradition zur Transformation» benennt Gergen das Ziel seiner Arbeit wie folgt: «… es geht eher darum, unseren Traditionen durch einen kritischen Blick die Aura des Naturgegebenen zu nehmen» (S.73). Gergen möchte versuchen, einen «Weltentwurf anzubieten, der «Beziehungen Vorrang gegenüber voneinander abgegrenzten Einheiten» einräume. Wenn man Traditionen so auffasse, dass sie auf Beziehungen gründen, dann werden wir laut Gergen dadurch unsere Lebensweise verändern (S.74).

Kapitel 2: Am Anfang ist die Beziehung[31]

Im zweiten Kapitel «Am Anfang ist die Beziehung» spricht Gergen entgegen einer traditionellen Autoren-Leser-Beziehung direkt den Leser an und reflektiert dabei diese Liaison (S.75): «Nicht nur sind wir (Leser, Autor, Buch) miteinander verbunden, wir sind es auch mit einer vorausgegangenen Welt des Sprechens ohne erkennbare Grenzen. Und wenn Sie dieses Buch beiseitelegen und mit anderen reden, werden wir gemeinsam in die Zukunft gehen». Gergen möchte herausfinden, wie es wäre «wenn es keine Substantive gäbe? Wenn die einzige Sprache, die uns zur Beschreibung der Welt zur Verfügung stünde, der Tanz wäre? Die Welt sei in endloser Bewegung, nicht aus festen Gestalten» (S.77), sondern in stetiger Gestaltung. Das individuelle Selbst finde sich nicht in der Natur, sondern in der Sprache. Die Form, die er dabei wählt, sind kurze Anmerkungen und sein Versuch «die gemeinhin akzeptierten Grenzen zwischen Selbst und anderen zu verwischen und den Konstruktionscharakter des begrenzten Seins zu betonen». Damit möchte Gergen eine alternative Tradition einer Vorstellung von «unauflösbarer Verbundenheit als Bezogenheitsprozess» anbieten (S.77) und «menschliches Handeln durch die Brille des relationalen Zusammenwirkens betrachten.

Im Abschnitt «Ko-Aktion und Kreation» erklärt Gergen, dass die Bedeutung eines Wortes nicht in ihm selbst enthalten sei, sondern sich aus der Anordnung von Worten ableite «the fun is in the fusion» (S.78). Es gebe keine Handlung, die für sich allein betrachtet Bedeutung habe, sondern es einer Bestätigung bedürfe, einer Handlung von mindestens einer weiteren Person, die diesem Verhalten Bedeutung beimesse (S.80). Ko-Aktion bestehe aus mehr als nur Worten, sie gelte für den ganzen Bereich der körperlichen Koordination (Koordinationseinheiten). Faktisch sei jede sinnvolle Aktion eine Ko-Aktion (S.87). Ko-Aktion sei ein Vorgang der gegenseitigen Beschränkung. Der Vorgang der Koordination führe automatisch zu Regelhaftigkeit. Gergen versucht Ko-Aktion anhand eines Beispiels zu beschreiben: «Während ich mich mit Ihnen unterhalte, werben meine Worte bei Ihnen um Bedeutung. Jedoch gehören diese Worte nicht mir, sie sind Nebenprodukte einer relationalen Vorgeschichte» (S.89). Äußerungen und Handlungen besitzen laut Gergen ein «bahnendes Potential», eine Frage bestimme mit, was an Handlungsmöglichkeiten offen stehe.

Im Abschnitt «Vielfalt und Gestaltung» erklärt Gergen, dass jede traditionelle Form der Koordination ein bestimmtes Spiel darstelle (S. 91). Aus der Multiplikation von Einschränkungen entstehe endloser Wandel und das Gespräch mache den Menschen.

Im Abschnitt «Beziehungen im Fluss des Werdens und Vergehens» beschreibt Gergen Prozesse der gemeinsamen Ko-Aktion und Wandel in Form eines «relationalen Flusses…», in dem es sowohl einen andauernden Hang zur Beschränkung gibt als auch eine Offenheit gegenüber der ständigen Fortentwicklung von Bedeutung. Im Verlauf des relationalen Flusses erschaffen wir laut Gergen «ununterbrochen Neues aus der Vielfalt unserer Beziehungen» (S.97). Hilfreich seien Formen «generativen Prozesses», in denen sich im Laufe des Austauschs neue Möglichkeiten auftun (S.98).

Von der Kausalität zur Konfluenz (S.99). Bisher üblich sind Kausalerklärungen oder Annahmen zur Selbststeuerung zur Interpretation menschlichen Verhaltens. Beide halten das begrenzte Selbst und die Nicht-Berücksichtigung der Ko-Aktion aufrecht. Wirkursachen in mechanistischer Sicht menschlichen Verhaltens sind heute vorherrschend, während Gergens alternatives Erklärungsmuster ko-aktive Konfluenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das Konzept der Kausalerklärung ist ein ungerechtfertigtes und unnötiges Anhängsel. Kontrolliert der andere mich oder ich ihn? Sobald Kontrolle zur Debatte steht, wird Bedrohung zum Thema. In einer Welt von Ursache und Wirkung besteht ein jeder darauf, als die Ursache zu gelten. Die beiden Konzepte und die Debatte zwischen Determinismus (Ursache und Wirkung) und Voluntarismus (selbst gewählter freier Wille) bedingen sich gegenseitig und sind aufzugeben. Beide Konzepte spielen eine vergleichbare Rolle bei der Aufrechterhaltung der Ideologie des begrenzten Seins. Jedes Ding, darunter jeder Mensch, ist zuallererst und ewig ein Nexus von Beziehungen. Wir sind Teilnehmer:innen in einer Konfluenz von Beziehungen. Menschen halten oft auf kreative Weise an einer einmal getroffenen Bestimmung einer Situation fest (Schmücken beim Weihnachtsfest), selbst dann, wenn Personen, Objekte und Verhaltensweisen sich mit der Zeit ändern. Wir ersetzen Einflussnahme durch Konfluenz (Zusammenfluss). Zur Zukunftsverbesserung sollten wir uns auf die Schaffung relationaler Pfade konzentrieren. Wie können Konfluenzen so miteinander verbunden werden, dass der Pfad von der einen zur anderen in die richtige Richtung führt? Die zuverlässigste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist sie zu erfinden. Konfluenz ist im Grund eine Handlung, die nach unserer Bestätigung verlangt. Erst diese Bestätigung ermöglicht ihre Existenz. Jeder Versuch, eine Konfluenz zu bestimmen, entsteht aus einer bestimmten Beziehungstradition heraus. Konfluenz ist nicht begrenzbar.

Kapitel 3: Das relationale Selbst

Der Mensch muss wissen, wer er ist: Er muss in der Lage sein, sich selbst als Initiator und Objekt seiner Handlungen zu verstehen. Die wahre Erfüllung seiner menschlichen Bedürfnisse erfolgt über seine Entwicklung zu einer individuierten Person, die sich als Zentrum ihres eigenen Seins versteht (H. M. Ruitenbeck).

Das entfesselte Sein (S.114). Die Realität des Geistes ist zugleich die Realität des begrenzten Seins. Die wesentlichen Bestandteile des individuellen Innenlebens sind Geisteszustände. Der Ursprung des begrenzten Seins liegt jedoch nicht im Inneren des Verstandes der einzelnen Individuen, sondern in der Ko-Aktion. Erst aus einem relationalen Prozess heraus entsteht die Idee einer «inneren Welt». Gergen setzt auf einen Entwurf des Diskurses über den Geist, in dem die Verbundenheit die Vereinzelung als grundlegende Realität ersetzt.

Die Idee der Selbsterkenntnis (S.116). Das, was wir mit einer «inneren Welt» meinen, entspricht nicht der Außenwelt, von der wir Bilder anfertigen können (z.B. psychische Zustände). Nur wenige Vorstellungen sind so gewichtig und zugleich so schwer zu fassen wie die Idee des Selbst (Jerrold Siegel). Sigmund Freud meinte, dass unsere grundlegenden Bedürfnisse nicht im Bewusstsein zu finden sind. Ein großer Teil der Menschen glaubt, dass er denkt, während er lediglich seine Vorurteile ordnet (William James).

Der Auftritt der Expert:innen (S.119). Wie können Expert:innen (Psycholog:innen, Psychiater:innen) die Seele eines anderen erkunden? Die Disziplin der Hermeneutik sucht intensiv nach einer plausiblen Grundlage zur Beurteilung von Interpretationen. Psychologische Tests und Experteneinschätzungen nutzen äußerliche Anzeichen, um auf ein unsichtbare Inneres zu schließen. Bestimm’ mit der Stoppuhr, wie lang der Eindruck dauert (Ludwig Wittgenstein). Uns stehen keinerlei Mittel zur Verfügung, um zu bestimmen, was im Kopf anderer vorgeht, oder auch nur zu sagen, ob diese überhaupt eine «Psyche» besitzen.

Von der Psyche zur Bezogenheit (S.124). Mentale Begriffe sind reine Fiktion. Unser mentales Vokabular ist eigentlich ein relationales Vokabular. Es folgen vier Thesen: 
1. Der Diskurs über das Psychische entstammt menschlichen Beziehungen. Alle Begriffe für unser Innenleben entstehen aus Beziehungen (z.B. Lernen von Kindern). Es gibt kulturelle Unterschiede bei Begriffen von psychischen Grundelementen. 
2. Der Diskurs über das Psychische erhält seine Aufgabe im Dienste der Beziehungen. Worte haben eine soziale Beziehungsfunktion und einen pragmatischen Wert und damit Konsequenzen. Äußerungen sind Einladungen an den anderen. Sprache nutzen wir nicht immer strategisch. Jemand kann nicht seinen Absichten gemäß handeln, wenn er diese eigenen Motive nicht erkennen kann (wie bereits oben festgestellt bei Ko-Aktion und Kreation).
3. Der Diskurs über das Psychische ist ein aktiver Teil einer Beziehung. Ohne die erforderliche Abstimmung zwischen Worten und Handlungen gerät das Beziehungsleben schnell aus dem Takt (z.B. zu einer Farce, Beleidigung oder Unsinn). Die Gesamtheit der koordinierten Verhaltensweisen ist relationale Performanz (als Verhalten mit anderen und für andere). Denken und Fahren sind beides kommunikative Handlungen. 
4. Diskursives Handeln ist in Traditionen der Ko-Aktion eingebettet. Die Bedeutung einer Performanz entsteht aus der Koordination in der Beziehung. Wir sind an bestimmte Konventionen der Koordination gebunden und sich über sie hinwegzusetzen, bedeutet das Ende der Verständlichkeit. Die relationale Performanz hat ihren Platz innerhalb einer Konfluenz, die ihr Legitimität verleiht.

Die Psyche als Tätigkeit in einer Beziehung (S.131). Verstand, Intention, Erfahrung, Erinnerung und Kreativität sind als relationale Vorgänge zu verstehen. Gergen beschreibt also, dass das, was wir als Denken, Erfahrung und Kreativität bezeichnen, Tätigkeiten in Beziehung sind («actions in relationship»).

Der Verstand als Beziehungsakt. Verstand bzw. Denken kann als soziale Performanz aufgefasst werden. Den wichtigsten Teil kognitiver Arbeit vollziehen wir als gut vernetzte Teilnehmer kultureller Systeme (Merlin Donald). Die Bewertung von vernünftigem Denken ist abhängig von der gewählten sozialen Bezugsgruppe, also von sozialen Konventionen. «Nichts findet sich im Geist, was nicht zuvor in der Gesellschaft war» (Lev Vygotski). Gergen erklärt also, dass es «immer ein imaginiertes Publikum für unseren privaten Gedankenspiele» gebe und «was wir im Stillen tun, …nicht in einer stillen Welt, die Verstand genannt wird» passiere. Wir würden damit am «Gesellschaftsleben» teilnehmen, «nur vor leeren Rängen» (S.135).

Handlungsfähigkeit: Intention wird zur Aktion. Die Bedeutung der Konzepte «Seele» und «freier Wille» wird aus aristotelischer und christlicher Tradition verstanden, später wurden sie säkularisiert. Mit Absichtsäußerungen wird kein Bericht über inneren Geisteszustand abgegeben. Es gibt unklare multiple Absichten einer Handlung (z.B. ein Mann, der mit einem Auto fährt, oder der sich rechtfertigt). Es muss nicht notwendigerweise einen «Täter hinter der Tat» geben (Judith Butler). Der Diskurs der Intention im Alltagsleben und die intentionale Sprache werden diskutiert. Meine Absichten zu benennen ist nichts anders als die Performanz zu betiteln, an der ich teilnehme (z.B. Unterricht). Wir erkennen unsere Absichten durch die Performanz, an der wir teilnehmen. Tätigkeiten werden als Vorgänge in Beziehungen angesehen.

Erfahrung und Erinnerung: eine Gemeinschaftsleistung. Unsere Erfahrung ist durch unsere Aufmerksamkeitslenkung bestimmt und diese durch Bezogenheit und Ko-Aktion. Aufmerksamkeitslenkung ist durch soziale Konventionen bestimmt. Die Wahrnehmung von Foulspiel bei einem Footballspiel hängt von der Mannschaftsverbundenheit ab. Jenseits aller Konventionen gibt es wenig, das unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Wir teilen in unserer Kultur bestimmte Aufmerksamkeitstendenzen, die eng mit unseren gemeinsamen Werten verbunden sind. Dadurch ist meine Erfahrung nur sehr begrenzt ausschließlich meine eigene. Erinnerung ist ein konstruierter sozialer Prozess. Soziale Konventionen regeln, was als ordentliches Gedächtnisprotokoll gilt und wann und wie die Gedächtnisleistung als angemessen gilt. Das gilt für eine individuelle Lebensgeschichte wie die Geschichte der Nationen oder die Evolution der menschlichen Rasse. Menschen erschaffen mittels Ko-Aktion stabile Versionen des Wahren, Rationalen und Guten. Innerhalb dieser Versionen kann es sehr strenge Kriterien dafür geben, was als korrekt gilt. Richtigkeit wird definiert aus einer bestimmten Tradition von Beziehungen. Wie wir über unsere Erfahrungen sprechen, dient nicht vorrangig dazu, die eigentliche Natur dieser Erfahrungen widerzuspiegeln, sondern sie so darzustellen, dass die eine oder andere Art der sozialen Ordnung erzeugt oder aufrechterhalten wird (John Shotter).

Kreativität als Gemeinschaftsleistung. Die Moderne sieht Kreativität als Individualleistung. Dies liegt größtenteils an unseren traditionellen Annahmen zum abgegrenzten Sein. Die relationalen Wurzeln von Kreativität nehmen wir gar nicht mehr wahr. Kreativität wird jedoch erst durch die Bezugnahme auf eine bestehende Tradition wahrgenommen. Eine Sichtweise als kreativ hängt von umfangreichen Verhandlungen ab. Eine Poesie gilt nur dann als innovativ, wenn sie sich nicht zu weit von dem entfernt, was darüber gesagt wird. Innovative Ideen entstehen aus gemeinsamem Denken, aus bedeutsamen Gesprächen und aus dem permanenten Ringen um neue Einsichten durch das denkende Gegenüber (Vera John-Steiner). Erst durch das Aufeinandertreffen verschiedener Traditionen entsteht Innovation. Innovation ist das Ergebnis von Bezogenheit. Soziale Unterstützung und Austausch über die gesamte Lebensspanne sind entscheidende Voraussetzungen für Kreativität. Rationales Denken, Absichten, Erfahrungen, Erinnerungen und Kreativität bringen wir nicht erst in Beziehungen ein. Sie entstehen aus Beziehungen.

Kapitel 4: Der Körper als Beziehung: Emotion, Lust und Schmerz

Wir führen Beziehungen, in denen wir Gegebenheiten wie «Liebe», «Ärger», «Freude» und «Schmerz» erzeugen, und aus denen diese ihre Relevanz für unser Leben beziehen. Ich kann etwas meinen Körper nennen, weil ich in einer bestimmten Beziehungstradition stehe. Die Emotionen sind wie das Denken, die Absichten und das Gedächtnis zuallererst Performanzen in Beziehungen. Gergen macht also deutlich, dass auch körperliche Prozesse eine relationale Basis haben (S.156): «Can we enter a new realm of understanding in which the emotions, pleasure, and pain are not manifestations of private bodies, but of relationship?»

Emotionen aus historischer und interkultureller Perspektive (S.157). Gergen reflektiert in diesem Abschnitt «Emotionen» aus historischer und interkultureller Perspektive und hinterfragt die Idee, dass Emotion einfach etwas sei, das im Kopf oder im Körper entstehe. Wie viele und welche Emotionen Menschen haben ist umstritten. Emotionen entstehen aus der Ko-Aktion. Emotionsbegriffe und Bezeichnungen von Ausdrücken von Emotionen unterscheiden sich in Kulturen. Emotionen sind menschliche Konstruktionen. Das Wort «Gefühl» wurde nicht vor dem 17. Jahrhundert erfunden. Unsere heutige emotionale Welt unterscheidet sich von der zu früheren Zeiten (z.B. Begriff Melancholie). Auch der Begriff der «Liebe» hat keine Universalität und wird von heutigen Gelehrten nicht als Grundemotion angesehen. Man kann nur schwer ein echtes Verständnis anderer Kulturen außerhalb der Grenzen des eigenen kulturellen Repertoires erlangen. Die Bedeutung von Verhalten in andern Kulturen zu interpretieren, heißt, sie dem eigenen Verständnishorizont einzupassen.

Der Tanz der Emotionen (S.162). Emotionen sind relationale Performanzen. Sie sind Handlungsformen, die ihre Bedeutung in Beziehungen und ihren Wert durch ihren sozialen Gebrauch erhalten. Wir machen also Gefühle eher, als das wir sie fühlen.

Jede emotionale Performanz ist eine gekonnte Leistung. Eine Handlung wird durch den Gebrauch von Worten als «emotional» eingestuft. Obwohl sich unsere Performanzen, z.B. Gefühle, spontan und ungeplant anfühlen, so sind sie doch kulturell gelernt. Gergen weist darauf hin, dass, wenn emotionale Ausdrücke und Haltungen innerhalb von kulturellen Traditionen kreiert werden, Emotionen als relationale Darbietungen («emotional perfomance»), betrachtet werden, können (S.162). Gergen verdeutlicht seinen Standpunkt nochmal: «Um glaubhaft Ärger zeigen zu können, braucht es ein ungeheures Ausmaß an kultureller Vorbildung», «wenn sich etwas ganz natürlich anfühlt, dann hat die Kultur dafür gesorgt» (S.164).

Die emotionale Performanz ist orts- und zeitgebunden. Ohne eine allgemeine Übereinstimmung bezüglich der Zeit und des Orts eines bestimmten Gefühlsausdrucks gäbe es keine Gefühle. Es gibt nur verkörperte Handlungen. Man kann prinzipiell nicht nach innen schauen, um Emotionen zu bestimmen. Emotionen im Alleinsein sind unvollständige Performanzen. Man führt für sich allein eine Aktivität durch, die eigentlich relational ist.

Die Performanz erhält durch Ko-Aktion ihren Wert. Durch unsere Akzeptanz bestätigen wir die Berechtigung eines Gefühls und ermöglichen dem Performer ein Gefühl der Authentizität. Der relationale Reigen setzt sich dann ungehindert fort. Die emotionale Performanz erhält erst dadurch ihren Wert, dass eine Beziehungsperson sie «abkauft» (oder sagt «Du tust doch nur so, bist nicht wahrhaftig.»).

Relationale Szenarien (S.167). Sie bestehen aus koordinierten Handlungen, die über einen gewissen Zeitraum hin vollzogen werden. So wird z.B. ein passender Ärger-Anlass kulturell ausgehandelt. Zu welchem Tanz wird man aufgefordert? Gibt es einen gerechtfertigten Grund, Ärger mit kultureller Konvention, Entschuldigung, Umdeutung oder Unmut zu beantworten? Es ist ein Prä-hoc-Irrtum, der Ärger habe die Antwort bedingt. Gibt es einen passenden Anlass für Ärger? Führen Entschuldigung (Annahme oder Ablehnung) oder Neustrukturierung (Annahme oder Ablehnung) oder Unmut (wachsender Ärger) fast mit Sicherheit zur Eskalation? Ein emotionaler Ausdruck ergibt nur innerhalb einer relationalen Sequenz Sinn. Er kann nur an bestimmten Punkten des jeweiligen Austauschs stattfinden und ohne bestätigende Handlungen anderer kann von Ausdruck von Gefühlen nicht die Rede sein. Emotionen sind also kein Eigentum eines Individuums und kein Bestandteil unsere biologischen Grundausstattung. Sie entstehen im Verlauf von Szenarien im Rahmen von Beziehungen. Diese Szenarien werden uns durch Traditionen überliefert und haben oft einen weit zurückliegenden Ursprung. Kreativität entsteht durch die Überschneidung mehrerer Traditionen. 

Wie man außer Kontrolle geratene Tänze beendet (S.172). Ungewollt wiederholende Muster beenden. Entscheidung für ein emotional kreatives Leben. 
1. Konstruiere die Realität neu: «Es ist nicht so, wie es aussieht.» Umdeutungen, Ergänzungen. 
2. Der Meta-Move: «Was tun wir hier eigentlich?» Einladungen zur Auflösung der Eskalation. 
3. Andere emotionale Register ziehen: «Ich bin verletzt.» Einladungen zur Abweichung von traditionellen Mustern. 
4. Es auf die Bühne bringen: «Lass es uns noch einmal probieren. Die ganz Welt als eine Bühne ansehen, um sich leichter von den Skripten zu lösen.

Sind Emotionen nicht biologisch (S.177)? Gergen erörtert die Frage der Bedeutung von Hirmprozessen bei Emotionen. Laut Evolutionsbiologie sind Emotionen tatsächlich im Gehirn verwurzelt. Die Biologie verrät uns nichts darüber, welche psychologischen Zustände, wenn überhaupt, mit biologischen Aktivitäten einhergehen. Wissenschaftliche Forschung durch Hirnscans lösen nicht das Problem bei der Identifikation mentaler Zustände wie z.B. Emotionen. Sie als Beweise für z.B. Depression zu deuten, bedeutet, die Perspektive einer bestimmten Tradition einzunehmen. Um zu einer Interpretation zu kommen wie z.B. ein bestimmtes Hirnscan-Ergebnis stelle eine bestimmte Emotion dar, muss das Vokabular bereits vorhanden sein, welches durch eine Beziehungsleistung zustande gekommen ist. Die Neurologie kann uns viel über ein Blinzeln erzählen, aber nichts über ein Zwinkern. Wir brauchen einen Körper, um «Beziehung» herzustellen. Jede sinnvolle Handlung erfordert Hirnsubstanz für ihre Ausführung, aber es ist nicht die Hirnsubstanz, die sie sinnvoll macht.

Die Freuden des Körpers: Die Gabe der Ko-Aktion (S.184). Lust vollzieht sich im Rahmen einer relationalen Geschichte. Genuss ist im sozialen Kontext zu verstehen und wird sozial erworben. Das Gehirn bestimmt nicht die Qualität unseres Genusses; es stellt lediglich die Grundlage für seine relationale Erschaffung bereit (S.187ff). Es gibt unendliche Möglichkeiten, Vergnügen zu kreieren. Die Aufgabe ist, Freude nicht zu suchen, sondern sie zu schaffen.

Schmerz: Der Endgegner (S.189). Wird Schmerz ist in allen Kulturen gleich und eindeutig «naturgegeben»empfunden? Steht Schmerz noch vor jede Bezogenheit? Es gibt in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Formen Schmerz auszudrücken. Es gibt historische Variationen im Schmerzerleben. Schmerz kann man auffassen als verkörperte Handlung in einer Tradition der Bezogenheit. Auch wenn wir Schmerzen zeigen, nehmen wir an einer von der Kultur geprägten Performanz teil. Es gibt nicht erst den Schmerz und dann folgt seine Interpretation. Die Tatsache des Schmerzes wird im Verlauf der Interpretation geschaffen. Die Geschichte einer ernsthaften Erkrankung kann man als Wiederherstellung, als Chaos mit Zustand der Aussichts- oder Hilflosigkeit und als Aufgabe mit einer Reise, in der man Sinn und Bedeutung findet, verstehen. So, kann man Schmerz als relationalenPerformer auffassen und Schmerztherapie mit Meditation und Yoga in Zusammenhang bringen.

Teil 2 – Relationales Sein im Alltagsleben 

In Teil 2 bezieht sich Gergen auf das Alltagsleben in Beziehungen. Für das englische Original «multi-being» wird dabei in der deutschen Übersetzung der Begriff «Personenpersonen» verwendet; wir finden ihn zwar kreativ aber etwas missverständlich. Unseres Erachtens wäre stattdessen im Geiste von Gergens Sozialem Konstruktionismus «vielfältiges Sein» die naheliegende Übersetzung. 

Kapitel 5: Vielfältiges Sein und die Abenteuer des Alltagslebens

Auch im weiteren Verlauf der deutschen Übersetzung dieses Kapitels sind immer wieder leichte Bedeutungsverschiebungen in der Übersetzung. So fragt Gergen in seiner individuellen kunstvollen Art des Schreibstils an einer Stelle im Original (S.193):

«I proceed with little reflection. Am I not participating in a tradition that aims to educate individuals to become clear an coherent in their thinking?», was in der deutschen Übersetzung von einer Frage in eine Antwort umgeändert lautet (S.200): «Ich tue das ohne darüber nachzudenken, stehe ich doch in einer Tradition, die darauf Wert legt, Menschen beizubringen, klar und widerspruchsfrei zu denken.» 

Vom Original von S. 202 (dt. S.211) fehlt in der deutschen Übersetzung die illustrierende Grafik des Originals vor Beschreibung der Gedanken und Gefühle eines 14-jährigen Jungen. Dadurch verändert sich die Bedeutung und das Verständnis dieses Abschnitts beim Leser. 

Oder Original (S.230) «Appreciative Exploration» ist übersetzt mit «Verständnisvoller Annäherung». Wer die anderen Werke von Gergen kennt, wird aber eher die Position vertreten, dass Gergen «Wertschätzende Erkundung» meint. Und solche leichten Bedeutungsverschiebungen finden sich vielfach auch in Teil 2 der deutschen Übersetzung des Buchs von Gergen. Am Ende des fünften Abschnitts fehlen in der deutschen Ausgabe Literaturangaben und Querverweise des Originals. Sie finden sich dafür am Ende im Literaturverzeichnis.

Mit vielfältigem Sein meint Gergen zunächst, dass das Wort «Ich» nicht den Ursprung von Handlungen indiziert, sondern eine relationale Errungenschaft durch vergangene gelebte Beziehungen. Hinter dem «Ich» aus Einheit, Zusammenhalt und Einigkeit liegt eine Welt voller Ressourcen und schwelender Konflikte, entstanden aus Beziehungen, die täglich an Umfang zunehmen. Wir tragen die Überreste einer großen Zahl von Beziehungen in uns und auch ihre Gegenseite, also ein vielfältiges Sein.

Gergen nimmt Bezug zu frühen Vorläufern wie der Tiefenpsychologie und sieht Übereinstimmungen zum Konzept des vielfältigen Seins. So wird jedes Mittel, das wir haben, um im Stillen unsere Impulse zu unterdrücken und Konflikte aufzulösen, durch die Teilnahme am sozialen Leben erworben. Jede Stimme des inneren Dialogs steht für eine «Stimme» aus vergangenen Beziehungen. Dies können Stimmen anderer sein oder eine Stimme, die man sich durch den Umgang mit anderen erworben hat. Bei inneren Konflikten werden bestimmte Stimmen sich als innerlich überzeugend erweisen und «gewinnen». Andere Stimmen unterliegen der Unterdrückung. Aus der relationalen Perspektive Gergens stehen unsere inneren Konflikte für die sozialen Konflikte, mit denen wir leben. Auf die gleiche Weise, in denen wir danach streben, soziale Konflikte zu reduzieren und miteinander zurechtzukommen, nutzen wir Unterdrückungsmechanismen, um in einer komplexen Welt sozialer Beziehungen zu überleben. Es ist ganz wesentlich, diesen inneren Stimmen zu folgen, um in einer Gesellschaft gut leben zu können. Nur bestimmten inneren Stimmen zu lauschen, kann lähmend sein. Während wir durch das komplexe Feld unserer Beziehungen navigieren, kann Flexibilität entscheidend sein. Wenn wir solchen Stimmen jedoch nicht zuhören, verweigern wir Bezogenheit. 

Weitere zeitgenössische Vorläufer sind nach Gergen das Zusammenleben mit anderen. Objektbeziehungstheorie, Therapeut-Klient-Beziehung, wirkmächtige Relikte früherer Beziehungen beider und innerer Dialog. Letztere können neben realen Personen auch Charaktere aus Medien und Historie oder ausgedachte Charaktere und Gottheiten sein. 

Gergens Idee des vielfältigen Seins spricht nicht dagegen, dass unser Verhalten jeden Tag verlässlich vorhersagbar ist. Wir haben aber kein «wahres Selbst» oder eine «Kernperson» tief in uns, die unser Verhalten steuert. Auch das vertraute Bewusstsein eines «Ich» ist der Inhalt einer relationalen Vorgeschichte. Als Resultat meiner Beziehungsgeschichte ist es mir möglich, mich zu einem bewussten «Ich» zu integrieren. 

Es geht um Szenarien des Zusammenlebens, d.h. um weit verbreitete Kommunikationsmuster, die von jedermann genutzt werden können und um kontextspezifische Szenarien (Klassenzimmer, Gerichtssaal). Mehrdeutige Situationen erschaffen hybride Szenarien, neuartige Formen der Koordination ihrer selbst. Unsere Persönlichkeit wird in zentraler Weise dadurch bestimmt, wie wir von anderen in Beziehungen positioniert werden. 

Im Weiteren geht es um Erhaltung und Verdrängung in Langzeitbeziehungen, die emotionale Bedeutsamkeit des Lügens als Infragestellung der geteilten Weltsicht und mögliche traumatische Wirkungen für das Opfer. Aus relationaler Sicht Gergens speist sich die Wut und das Bedauern, die oft auf Lügen folgen, aus der irrigen Annahme, es gäbe eine einzige Realität und kohärente Identitäten. Die Herausforderung besteht nicht darin, Konflikte aus unseren Beziehungen zu tilgen, sondern darin, ihre lähmenden Auswirkungen zu vermeiden. Die Kunst besteht nach Gergen in der Koordination. Verständnis entsteht durch die Synchronizität des Handelns, wechselseitige Affirmation und wertschätzende Erkundung. 

Kapitel 6: Bindungen, Barrikaden und darüber hinaus

Ferner geht es um den Hang zur Bindung, feste Bindungen, Verhandlungen über das Wahre und Gute, und die Schwierigkeit, heutzutage stabile Realitäten aufrechtzuerhalten (Stichworte: Kommunikationstechnologien, Zusammenhalt der Familie). Gergen erklärt das Narrativ, wie man vom Selbst zur Beziehung kommt. Genauso wie Ko-Aktion zur Entstehung des «Ich» beiträgt, braucht es Koordination, um das «Wir» zu verfestigen. Als Ergänzung der Bindung muss ihre Werthaltigkeit hinzu kommen. Gergen nennt als Beispiel die Schwierigkeiten großer Unternehmen mit Werthaltigkeit, mit der ständigen erfolgsorientierten Bewertung umzugehen. Familienmitglieder werden nur selten hinausgeworfen, wenn sie wenig leisten; deshalb wirkt Rhetorik «Familie» und «Team» unaufrichtig. Beziehungen als Internetbekanntschaften sind häufig zu wenig in das tägliche Leben eingebettet, um zu tragfähigen Beziehungen zu werden.

Im Weiteren geht es um Bindung und Begrenzung. Durch die Einigung auf den Namen der Beziehung stellen wir sicher, dass wir den informellen Regeln folgen, die mit dieser Beziehung (z.B. Freundschaft) verknüpft sind: Rechte, Pflichten, Erwartungen, abschätzige Bewertungen für andere außerhalb der Beziehung. Die Gleichschaltung, die für abgegrenzte Beziehungen erforderlich ist, erzeugt einen sicheren, verlässlichen und unterstützenden Rahmen. Es führt jedoch auch zu den inneren Reibungen in engen Beziehungen und eine Tendenz zur gegenseitigen Lähmung. Wir generieren zuverlässige Beziehungsmuster, die sich gegen Veränderungen sperren (Kaffee zum Frühstück). Es geht um Wahrheitsdiskurs, d.h. der Wahrheitsanspruch lässt die Binnenwirklichkeit, die in einer bestimmten Gruppe erzeugt wurde, als vertrauenswürdig erscheinen. Es gibt jedoch keinen privilegierten Wahrheitsdiskurs jenseits der Grenzen einer bestimmten Tradition. Deshalb gerät der Wahrheitsdiskurs in Bedrängnis, sobald er nicht länger nur im Rahmen einer lokalen Gemeinschaft oder Tradition benutzt wird, sondern auf globaler Ebene. Dies bereitet den Boden für Lähmung und Antagonismus. Es geht um Wurzeln der Abgrenzung, Ablehnung von anderen außerhalb und ihren Konsequenzen. Derselbe Bindungsprozess führt zu Wahrem, Klugen, Guten, Harmonie, Vertrauen, Befriedigung und Freude, aber auch zu Separation, Selbstzerstörung, Antagonismus und gegenseitiger Zerstörung. Die Perspektive des relationalen Seins unterstreicht die Wichtigkeit der großen Ressource «Dialog».

Zunächst nennt Gergen vier traditionelle grundsätzliche Herangehensweisen an den Dialog: Argumentation (bezwingende Rhetorik), Aushandlung (Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen), Verhandlung (eigene oder gemeinsame Nutzen-Maximierung) und Mediation (neutraler Dritter). Sie folgen allerdings alle dem Konzept des begrenzten, individualisierten Seins. Sie erhalten die bestehende Entfremdung aufrecht und damit letztlich auch den Konflikt. Erforderlich nach Meinung Gergens sind Beiträge zum «transformativen Dialog[32]». Dies sind Gesprächsformen, die darauf abzielen, verschiedene Bedeutungsräume zu verbinden, die Brüche in den für wahr gehaltenen Realitäten der Streitparteien aufzudecken, dem Potenzial des vielfältigen Seins Raum zu geben und, am allerwichtigsten, den Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, einen gemeinsamen Bedeutungsraum zu erschaffen. Statt auf dem Inhalt liegt der Fokus auf dem Prozess der relationalen Koordination. Es entstehen so neue Wirklichkeiten, Rationalitäten, Werte und Vorgehensweisen. Beispiele hierfür sind das «Public Conversations»-Projekt, narrative Mediation und die wiederherstellende Justiz. 

Ganz am Ende des sechsten Kapitels fehlen in der deutschen Übersetzung wiederum die kapitelbezogenen Literaturangaben und Verweise des Originals.

Teil 3 – Relationales Sein und Professionelle Praxis

Kapitel 7: Wissen als Ko-Kreation

In Teil 3 geht es um das «relationale Sein in der professionellen Praxis». Gergen schlägt für die professionelle Praxis eine relationale Neuausrichtung vor. Man spricht von Wissen, wenn der Verstand die Realität oder Wahrheit der Welt präzise widerspiegelt. Die Trennung des Wissenden vom Gewussten im begrenzten Sein bringt große philosophische Schwierigkeiten hervor. Wenn die Idee des begrenzten Seins jedoch schlicht eine Erfindung ist, dann sind die philosophischen Fragen zum Verhältnis von Geist und Welt vor allem Probleme dieses Diskurses. Es sind keine grundsätzlichen Fragen der menschlichen Existenz, sondern komplizierte Sprachspiele. Der Diskurs des Geistes wird nicht durch das bestimmt, «was es gibt». Vielmehr entsteht er aus der Ko-Aktion als Gemeinschaftsleistung. Wissen wird also bezeichnet als Ergebnis eines relationalen Prozesses. Durch die Ko-Aktion erzeugen Menschen eine reale Welt. Die großen Universitäten ziehen empirisches Wissen dem künstlerischen oder ästhetischen Wissen vor, nicht weil empirisches Wissen intrinsisch besser wäre, sondern weil es die Realität und die Werte bestimmter Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt reflektiert.

Die Untergliederung in verschiedene Disziplinen an Universitäten hat für Menschheit und Erde offensichtliche Vorteile, aber auch schädliche Konsequenzen. Nachteile sind tiefgreifender Antagonismus, Konkurrenz, Entfremdung und Aggression auf allen Ebenen des Wissenschaftsbetriebs. Wer aus der Tradition der Wissenschaftsdisziplin ausbricht, wird zum Outsider. Gergen fragt rhetorisch, wem das Wissen diene. Viele Forschungsgelder werden für Weltraumforschung und Teilchenbeschleuniger ausgegeben, während Armuts- und Verbrechensbekämpfung sowie Drogentherapien unterfinanziert sind. Die Entstehung von Disziplinen errichtet Barrieren zwischen den Wissenschaften und zur sie umgebenden Welt. Das Ergebnis ist Feindseligkeit, Ignoranz, schwindende Kreativität und immer kleinere Beiträge zum allgemeinen Wohlergehen. Aus relationaler Perspektive geht es darum, den freien Fluss der Bedeutungen wieder aufzufüllen und zu verbreitern. Die Vernetzung der Disziplinen, interdisziplinäre oder multidisziplinäre Programme wären besser, haben jedoch auch Nachteile. Interdisziplinarität erzeugt keine Gemeinschaft, in der Erfolge nachhaltig wirken können. Gergen favorisiert stattdessen entstehende Hybride. Gegründete Disziplinen neigen zur Abgrenzung und zum Selbsterhalt in Konkurrenz zu den anderen Disziplinen. 

Unzufriedenheit mit der eigenen Fachrichtung bei Wissenschaftlern und Ökonomisierung führen zur Hybridisierung der Disziplinen (z.B. Frauen- und Geschlechterforschung) und Auflösung der Grenzen. Neben den Vorteilen besteht auch die Gefahr der neuen Ausgrenzung. Aus relationaler Perspektive wäre dagegen ein offenes Forum ideal, gepaart mit institutioneller Durchlässigkeit ohne Dauerhaftigkeit einer neuen Disziplin. Dadurch können öffentliche Intellektuelle zurückkehren. Soll die Forschung der Öffentlichkeit nahe gebracht werden oder soll das Anliegen der Öffentlichkeit ins Zentrum der Wissenschaften rücken? Akademiker, die an die Öffentlichkeit gehen und auf diese Weise zum Gemeinwohl beitragen wollen, sollten von Fachkolleg:innen besser unterstützt werden.

Im weiteren Verlauf seines Buches kritisiert Gergen den Wissenschaftsbetrieb mit der Art des Schreibens und der Art der Bezogenheit. Wissenschaftler seien oft in einem Kokon der Isolation. Er kritisiert das von Entfremdung geprägte Klima der Angst bei wissenschaftlichen Zusammenkünften. Gergen schlägt ein Schreiben als ganzer Mensch vor und so erkennbar zu werden, z.B. durch teilnehmende Beobachtung, aus der Erfahrung mit Beschreibung von gefühlsmäßigem Erleben oder Wissenschaft als Performanz durch Ausdrucksmöglichkeiten über das Elitäre hinaus erweitern mit Poesie, Musik, Tanz, Theater, Multimedia, Filme und mehr. Gergen plädiert für eine Ergänzung aus Sicht des relationalen Seins. Er schlägt ferner relationale Alternativen für die Erforschung des Menschen vor: Feministische Wissenschaft, qualitative Forschungspraxis, weniger Forschen über andere und mehr mit ihnen, ferner verschiedene Ansätze der narrativen Forschung und der Aktionsforschung.

Kapitel 8: Erziehung im relationalen Stil  

Das Kapitel 8 des englischen Originals mit ca. 37 Seiten fehlt in der deutschen Fassung komplett. Dafür erscheint das Kapitel 9 des englischen Originals als Kapitel 8 in der deutschen Fassung. Originaltitel von Kapitel 8 ist «Education in a Relational Key» also «Erziehung im Beziehungs-Schlüssel» (oder «Erziehung in einer Tonart der Beziehung»). 

Die Auslassung verwundert insofern, dass gerade am Anfang des Lebens in der Erziehung das «relationale Sein» und das «vielfältige Selbst» zum Verständnis der Sprache in der Beziehung und das Erlernen und Erfahren von «Kollaboration» und des «Dialogischen» im sozialen Konstruktionismus von Gergen eine zentrale Rolle bzw. Funktion hat. Darüber hinaus spielen die Haltungen von «Erziehung» mit jungen Menschen auch in der Therapiesitzung mit Therapeut:in und Klient:in und auch in der Ausbildung von Nachwuchs-Therapeut:innen eine wichtige zentrale Rolle. In der Praxis läuft eine Therapie-Ausbildung von jungen Nachwuchs-Therapeut:innen an einem Institut, welches sich dem kollaborativen Ansatz, der Stimmen der Vielfältigkeit, des «Dialogischen» und dem sozialen Konstruktionismus nach Gergen verpflichtet fühlt, anders ab, als an «klassischen» Lehr-Instituten, die Therapieausbildung inmitten einer besten Schlussfolgerung durchführen. Und das Kapitel ist auch grundlegend relevant für soziologische und politische Prozesse und Anregungen durch den sozialen Konstruktionismus von Gergen. Durch die Auslassungen werden Gergen‘s Aussagen in ihrer Bedeutung beschnitten.

Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung als Jugendlicher berichtet Gergen in Kapitel 8 von seiner Entwicklung als Lehrender und Professor von einer eher autoritären Experten-Einstellung zu einer beziehungsorientierten Einstellung, die die gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden betont. Er konzeptualisiert Erziehung als einen Prozess zur Erhöhung der Teilhabe in einem Beziehungsprozess. Gergen beschreibt Erziehungspraktiken, die produktive Formen widerspiegeln, erhalten und voranbringen. 

Ziele von Erziehung neu durchdacht. In der westlichen Kultur ist der individuelle Geist primär, und Beziehungen sind sekundär und optional. Es gibt den wissenden Lehrer und den unwissenden Schüler. Erziehung soll den Geist von lernwilligen Individuen füllen, und wir nehmen an, dass ein wissender Geist eine gute Vorbereitung auf eine erfolgreiche Zukunft ist. Dabei geht man von begrenzten Wesen mit abgetrennten und unabhängigen Gehirnen aus. Um jedoch nachzudenken braucht man Sprache. Um etwas Gelerntes zu erinnern, muss man nicht eine Aufzeichnung im Gehirn abfragen, sondern sich in einer kulturellen Konvention, was als akzeptable Leistung des Gedächtnisses zählt, engagieren. Aller Lernstoff ist eine kulturelle Gemeinschaftsleistung durch Übereinkunft.

Nach Gergen ist das primäre Ziel von Erziehung, die Potenziale zum Teilnehmen in Beziehungsprozessen zu erhöhen – vom Lokalen zum Globalen – durch Erleichterung von Beziehungsprozessen. Auf lange Sicht ist die Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden wichtiger als der sachliche Inhalt. Die Beziehungen zwischen dem Klassenraum und der Umwelt sollten vom lokalen zum globalen Kontext erweitert werden. Und schließlich geht es um Beziehungsfertigkeiten in der Zukunft, die für Lernende gefordert werden. Denn überall in unserer modernen Welt wird mehr Zusammenarbeit benötigt. Erziehung ist damit nicht ein Prozess des Produzierens von effektiven Individuen, sondern des Förderns von Prozessen, die die Potenziale von Beziehungen unendlich erweitern.

Kreise der Partizipation. Lernende betreten die Beziehung mit Lehrenden als vielfältige Wesen aus ihrer Familie, Freunden, Nachbarn und Filmfiguren, ebenso wie die Lehrenden. Sie miteinander und die Lernenden untereinander treten in neue Kreise der Beziehungen. Familie, Industrie und Regierungen wirken auf die Beziehung zwischen Lehrern und Lernenden ein.

Beziehungs-Pädagogik in Aktion. Bei Schülern mit guten Noten sollten Eltern auch den Lehrern gratulieren wegen des Beziehungserfolgs. Dabei spricht Gergen immer wieder aus seiner Position als lehrender Professor und seiner persönlichen Entwicklung, um den Leser mit einzubeziehen. So geht es in der Beschreibung vom monologischen zum dialogischen Klassenzimmer inklusive Universitäten. Es geht um «kognitive Lehrzeit», «Befreiung und Ermächtigung», Erleichterung und Coaching (mit spezieller Aufmerksamkeit der Lebensumstände von Studierenden), Freundschaft und die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.

Bei der Beziehung der Lernenden untereinander geht es um kollaborative Klassenzimmer. Ein Erziehungsfokus auf individuelle Exzellenz favorisiert die Entwicklung von hierarchischen Strukturen. Es werde dadurch direkt das Misstrauen der Menschheit beigebracht, wo immer man junge Leute um Wertschätzung konkurrieren lässt. Die Betonung im kollaborativen Klassenzimmer sollte jedoch auf das Teilen von Wissen zwischen Lernenden liegen. Dies hilft, neue Identitäten zu entwickeln für das multiple Sein, was hilft, sich anderen gegenüber angemessen zu verhalten und Beziehungsintelligenz zu fördern. Kollaboratives Lernen endet mit Gruppen-Leistung statt Einzel-Examen und ist dialogisch statt monologisch.

Kollaboratives Schreiben. Aus Gergens Sicht ist Schreiben weniger eine individuelle Leistung eines unabhängigen Geistes, sondern reflektiert die Geschichte von Beziehung. Unabhängige Gelehrsamkeit ist im Wesentlichen ein Widerspruch in den Begriffen. Es werden erfolgreiche Beispiele aus der Praxis genannt, wobei die Potenziale für vielfältiges Sein erweitert wurden. 

Weiter geht es um verschiedene Lernzusammenhänge in «Klassenraum und Gemeinschaft», «Zusammenarbeit in der Gemeinschaft», u.a zwischen Schule, Eltern und anderen sowie «Kooperative Erziehung» u.a. mit Zusammenarbeit zwischen Lernenden und Lehrenden, Schulen und Universitäten einerseits und Arbeitgebern und Firmen andererseits. Des Weiteren werden »Dienstleistungs-Lernen» in der Praxis von Lernenden und außerhalb der Lern-Einrichtung diskutiert.

Der Klassenraum und die Welt. Über das Internet ist nun internationale Zusammenarbeit und über Entfernungen hinweg gemeinsames Lernen mit dem «fremden anderen» in Klassenräumen möglich. 

Kapitel 9[33]: Therapie als Wiederherstellung der Bezogenheit

Im Kapitel 9 von Teil 3 geht es um «Therapie als relationale Wiederherstellung». Gergen arbeitet die Implikationen des Konzepts des relationalen Seins für die therapeutische Beziehung heraus. Demnach ist Therapie ein Aufeinandertreffen von vielfältigem Sein. Es gibt keine persönlichen Probleme, psychische Krankheiten oder familiären Dysfunktionen an sich, sondern nur innerhalb des Komplexes vieler Beziehungen. Das bedeutungsstiftende Umfeld ergibt den Sinn, u.a der kulturelle und historische Kontext. Persönliche Probleme sind kulturell gefärbt. Es hängt vom Gefüge unserer Beziehungen ab, was «ein Problem» darstellt, das Anlass zum Leiden gibt. Probleme in der einen Subkultur sind möglicherweise in einer anderen keine. Kompetenzen und Schwächen entstehen erst durch Bezogenheit. Beispiel ist das Monopol von Psychiatrie und Psychologie. Alles, was unerwünscht ist, wird zur Pathologie erklärt. Verhaltensprobleme und ihre Behandlung sind jedoch das Nebenprodukt von kollaborativen Prozessen. Therapeut:innen erzielen ihre Erfolge in einem ganz bestimmten kulturell und historisch abhängigen Bedeutungsklima. Die Therapieschulen gleichen sich in vielerlei Hinsicht, etablieren jedoch jeweils eine andere Form der Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in. Therapieschulen entwickeln eigene Gewissheiten und entfernen sich dabei von dem sie umgebenden Bedeutungskontext. Damit wird ihre Fähigkeit geringer, Bedeutsames zu einer sich ständig verändernden Kultur beizutragen. Evidenz-basierte Verankerung für wirksame Therapien berücksichtigen nicht den relationalen Kontext, der einer Therapie ihre Wirksamkeit verleiht. Indem man therapeutische Ansätze reduziert, macht man Therapie nicht effektiver. Therapie ist nicht länger eine spezifisch psychologische Tätigkeit, sondern eine relationale Transformation. Mentale Zustände stehen nicht mehr exklusiv im Fokus. Das Sprechen über mentale Zustände ist eine Form des relationalen Handelns. Es geht nicht darum, ob Sprechen realistisch ist, sondern ob es in Beziehungen funktioniert.

Nach Gergen liegt die Wirksamkeit von Therapie im koordinierten Handeln von Therapeut:in und Klient:in. Therapeut:in und Klient:in gehen in die therapeutische Beziehung als vielfältiges Sein. Beide kommen mit einem Verhaltensrepertoire. Bei Klient:innen wird ein Teil als problematisch angesehen, während ein anderer, häufig übersehener Teil viele Alternativen bereithält. Eine effektive Therapie steht vor drei Herausforderungen: Affirmation, Außerkraftsetzen der Wirklichkeit und Austausch der Wirklichkeit.

Ablehnung und Affirmation. So lange wir in einer Welt des isolierten Seins leben, ist individuelle Bewertung allgegenwärtig. Der wichtigste Weg, um Zweifel zu überwinden und unseren Selbstwert aufrechtzuerhalten, ist die Pflege unserer Beziehungen mit anderen. Jedes erkennbare Anzeichen von Devianz läuft Gefahr, eine Talfahrt eskalierender Zurückweisung anzustoßen. Z.B. Stalker sind Einzelgänger ohne soziale Bindungen, gefangen in progressiver Zurückweisung, mit eigener Bestrafung oder Bestrafung anderer. Die Gelegenheiten zu eskalierender Zurückweisung haben sich die letzten Jahrzehnte vervielfacht. Kommunikationstechnologien tragen zu einer Multiplikation von Normen bei (Werbung, Medieninformationen, «was gerade angesagt ist»). Die Normen vermehren und verbreiten sich rapide und mit ihnen die Abweichungen. Der Lebensrhythmus wurde beschleunigt. Tief gehende Beziehungen werden durch ein breites und oberflächliches Netz von Bekanntschaften ersetzt. Es ist schwierig, jemanden zum Zuhören, Nachfragen und Verstehen zu finden. Es gibt schlicht keine Zeit für Abweichende. Das wichtigste Instrument zur Aufrechterhaltung der Wirklichkeit ist das Gespräch. Wichtig ist die unbedingte Wertschätzung von Therapeut:innen oder die vollkommene Präsenz. Alle theoretischen Vorannahmen sollten ausgeklammert und stattdessen sollte die ganze Aufmerksamkeit auf den Bericht der Klient:innen gerichtet werden. Eine explizite theoretische Orientierung führt zu selektiven Zuhören. Ein Vorschlag von Gergen ist hierbei die Form eines neugierigen und aktiven Zuhörens, bei der man die Geschichte der Klient:innen als eine verlässliche und legitime Realität behandelt. Die Worte der Klient:innen sind nicht Indikator für etwas «dahinter liegendes», sondern die Geschichte eines guten Freundes. Man antwortet «innerhalb» der Weltsicht der Klient:innen, wobei man deren Sprache, Vokabular und Metaphern übernimmt. Therapie baut eine kollaborative Beziehung auf, in der die Verantwortung für das Ergebnis geteilt wird. Aus relationaler Sicht sollte das Ziel von Therapie nicht sein, abgegrenzte und entfremdete Enklaven zu schaffen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, erfolgreich in vielen Welten zu leben.

Das Außerkraftsetzen der Wirklichkeit. Für viele Leidende kann die bestätigende Sicht eines Therapeuten oder einer Therapeutin nagende Zweifel zum Verstummen bringen und das Gefühl, in einer verlässlichen Welt zu leben, wiederherstellen. Für viele Menschen ist jedoch nicht die Vieldeutigkeit das Problem, sondern in starren Beziehungsmustern gefangen zu sein, aus denen es scheinbar kein Entrinnen gibt. Persönlichkeitstests und Eigenschaftsmaße erzeugen fälschlich den Eindruck einer «offiziellen» Wirklichkeit. Das aktuelle Selbst wird dabei mit all dem, was potenziell möglich ist, verwechselt. Wenn unsere Handlungsmöglichkeiten aus Beziehungen entstehen, müssen wir uns auch den Beziehungen zuwenden, um ihre Grenzen zu erkennen. Kräfte sind dabei die aktuellen und die vergangenen Beziehungen. Es gibt mehr oder weniger stabile Szenarien der Ko-Aktion in Beziehungen. Es gibt konventionelle Szenarien (Schachspielen, Geschenke-Austausch) und Szenarien mit degenerativen Effekten, Streit, wechselseitige Kritik und Anschuldigungen. Das relationale Driften geht dann in Richtung beiderseitiger Ablehnung und Entfremdung. Die meisten Therapieschulen vertreten eine unkonventionelle Sicht auf das menschliche Leben. Die Ableitung der Fragen der Therapeut:in aus dem theoretischen Hintergrund erschüttert die von den Klient:innen vorgebrachte Sicht auf die Wirklichkeit (z.B. kognitive oder psychoanalytische Fragen). Der damit verbundene Nachteil ist, dass solche Therapieschulen sich den Klient:innen mit einem Universalkonzept nähern. Zirkuläres Fragen lenkt die Aufmerksamkeit hingegen in die Richtung einer relationalen Sicht. Eine individualistische Therapeut:in würde eine rebellierende Tochter nach dem Grund des Ärgers fragen und damit die Existenz des Ärgers unterstreichen und das Individuum auch als unabhängiges Gravitationszentrum darstellen. Im Unterschied würde eine zirkuläre Frage an den Vater z.B. lauten: «Wie zeigt ihre Tochter ihre Zuneigung zu ihrer Mutter?». Die Frage generiert nicht nur eine positive Alternative zur Realität der Wut, sondern fokussiert auch die Verbindungen zwischen Tochter und Mutter und seine eigene Beziehung zu diesen beiden (Hypnotherapie, paradoxe Intervention, provokative Therapie, Reflecting Team). Die ursprünglich präsentierte Wirklichkeit wird abgeschwächt und es tun sich neue Möglichkeiten auf. Die meisten Spuren der Vergangenheit von vielfältigem Sein stellen wertvolle Ressourcen dar, die dazu beitragen können, die Gegenwart zu verbessern. Gleichzeitig können einige Hinterlassenschaften aus vergangenen Beziehungen aber auch einschränkend sein. In der Vergangenheit fest zu stecken, bedeutet, einer bestimmten Form der Bezogenheit verpflichtet zu bleiben. Oft bleiben sie bestehen, weil etwas nicht abgeschlossen ist (z.B. Selbstwert-Verletzung, Trauma) und weil man eine zufriedenstellende Lösung dafür sucht (negative Stimme der Selbstanklage oder Selbstabwertung). Die Geschichte ist nicht abgeschlossen; die Stimme bleibt ohne Antwort und ist auch nicht beantwortbar. 

Der Austausch der Wirklichkeit. Für viele ist Therapie effektiver, wenn in dieser überzeugende Alternativen aufgezeigt werden. Als vielfältiges Sein besitzt jeder gewaltige Ressourcen, die aufgrund der augenblicklichen Umstände oftmals ungenutzt bleiben. Als Beispiele nennt Gergen die narrative Therapie nach Michael White und David Epston, Jaako Seikkulas Technik der dialogischen Begegnung, Harlene Andersons Manifest obdachloser Frauen, Londoner Mehrfamilienprogramme für diagnostizierte Anorektiker:innen und Carina Hakansons Familien-Ansatz. Im letzten Abschnitt von diesem Teil nennt Gergen Erweiterungen des therapeutischen Repertoires, u.a. Ansätze einer handlungsorientierten Therapie (AA, KVT, buddhistische Praktiken), Meditationstechniken von Kabat-Zinn, um besser mit Schmerzen umzugehen und Fred Newmans Performanzorientierung. 

Kapitel 10: Organisieren: Das heikle Gleichgewicht

Das Kapitel 10 des englischen Originals mit ca. 46 Seiten fehlt ebenfalls wie Kapitel 8 und wurde in der deutschen Fassung komplett weggelassen. Dafür erscheint das Kapitel 12 von Teil 4 des englischen Originals als Kapitel 10 in der deutschen Fassung. Originaltitel von Kapitel 10 ist «Organizing: The Precarious Balance», deutsch «Organisieren: Das prekäre Gleichgewicht».

Es geht in diesem Kapitel um Beziehungen in Organisationen aus relationaler Perspektive, um intrinsische und extrinsische Motivation bei der Arbeit in Organisationen und den Zusammenfluss von Beziehungen; des Weiteren um die heikle Balance zwischen fließenden und erstarrten Beziehungen sowie Lebendigkeit und Richtung. Bedeutung wird erzeugt durch die Teilnahme am Schwarm in der Organisation. Menschen werden motiviert zur engagierten Teilnahme durch persönliche Bestätigung, z.B. das Interesse einer Vorgesetzten oder von Kolleg:innen.

Es sind die gleichen Impulse, die eine Beziehung am Laufen halten, wie die, die die Lebendigkeit von Beziehungen zerstören: Unterdrückung von Stimmen, das Wenden der Organisation gegen sich selbst durch Festigung der Bindung nach innen und Abgrenzung nach außen, z.B. durch Fragmentierung und Konflikte der Zentrale einer Organisation und ihren Zweigstellen. Dazu gehört auch die Abschottung vom kulturellen Kontext («Mauern werden zu Gefängnissen»), wenn z.B. Animositäten zwischen einer Universität und ihrer Stadt auftreten oder wenn eine Stadt ein Wohnviertel plant und baut und Widerstand bei der Bevölkerung auftritt. Für vitalisierende Beziehungen nach Gergen braucht es kontinuierliche Transformation des Üblichen durch Erweiterung der Umfänge des Dialogs.

Gergen diskutiert des Weiteren Entscheidungsfindung als Beziehungs-Koordination, z.B. in Organisationen als Feld der Bedeutungsfindung, und dass Menschen unterstützen, was sie selbst erschaffen und woran sie entscheidungsmäßig mit ihrer Stimme beteiligt werden (Polyphonie oder Vielstimmigkeit), die Einladung des einzelnen Menschen als vielfältiges Sein innerhalb Organisationen und wertschätzende Befragung.

Darüber hinaus wird Führerschaft aus relationaler Perspektive diskutiert: Relationales Führen in Co-Aktion. Traditionelle Führungsvorstellungen gehen in der Regel von einer individualistischen Perspektive aus, stattdessen schlägt Gergen relationale Führerschaft vor. Weitere Themen sind: Von der Beurteilung individueller Leistung zur Wertschätzung des einzelnen Individuums, die Organisation in öffentlichen Beziehungen und die Förderung ihrer Vitalität mit der Fragestellung: Wie können wir zusammen ein Wohlbefinden generieren?

Teil 4 – Von der Moral zum Heiligen

Kapitel 11: Moralität: Vom Relativismus zur relationalen Verantwortung

In Kapitel 11 geht es um «Moralität und relationale Verantwortung». Problematik moralischer und spiritueller Ansichten in den in der Tradition der Aufklärung stehenden Wissenschaften. Wissenschaft läuft aufgrund ihrer aufklärerischen Ausrichtung permanent Gefahr, sich abzukapseln. Fragen des Sollens auszuweichen, so wie es uns die Wissenschaft nahelegt, ist gegenüber der relationalen Welt verantwortungslos, die ja die Wissenschaft überhaupt erst möglich gemacht hat. Eine strikte Grenze zwischen moralischer Subjektivität und wissenschaftlicher Objektivität zu ziehen, ist nicht redlich. Aus relationaler Perspektive fragen wir nicht danach, welche der beiden validere Weltbeschhreibungen abfasst oder welche die besseren Werte anstrebt; man kann Resonanz und Bedeutung nur mit derjenigen Währung erwerben, die in der jeweiligen Gesellschaft akzeptiert wird. Dankbarkeit für den Beitrag der Wissenschaften und Kritik für die materialistischen Einstellungen, die die wissenschaftliche Perspektive nahelegt. Im folgenden geht es um die Moralität erster und zweiter Ordnung.

Die Herausforderungen moralischen Handelns (S.381). Es herrscht trotz aller moralischen Bemühungen kein Mangel an Bösem. Die westliche Kultur mit ihrer Tradition moralischer Werte erzeugt eine Welt fundamentaler Abgrenzung und stärkt die Vorstellung von singulären und in sich abgeschlossenen Menschen mit individueller Verantwortung. In einer solchen Welt ist das persönliche Wohlergehen von größter Bedeutung. Ich muss zuallererst an mich denken und letzten Endes ist mein Wohlergehen meine eigene Angelegenheit. Und in einer Welt der begrenzten Ressourcen steht das Wohlbefinden des anderen schnell in Konkurrenz zu meinem. Darum legt die westliche Moral so großen Wert darauf, «etwas Gutes für andere zu tun».

Fehlende Moral ist nicht das Problem (S.383). Hypothese: Ethik und Moral («die Sitten des Volkes») sind im Überfluss vorhanden. Diese Konventionen (Ethik, Moral) legen das Fundament für das Gute, und die rationale Begründung kommt erst später. Die Entstehung von Werten in Beziehungen sollen als Moral erster Ordnung angesehen werden. In Beziehungen gibt es keine expliziten Regeln, moralischen Gebote und keinen Kodex, sondern implizite Regeln. Moral erster Ordnung bedeutet, in einer bestimmten Lebensform vernünftig zu handeln (z.B. keine Stühle aus dem Fenster zu schmeißen).

Voneinander abweichende Moralvorstellungen sind das Problem (S.385). Sobald sich Menschen zusammenfinden, entstehen unzählige Wertvorstellungen vom Guten. Das ist der Boden für das tugendhafte Böse. In der Regel handeln wir im Rahmen der gegebenen Beziehungen moralisch und meiden das Urteil derer, die ein solches Handeln unmoralisch empfinden. Wir tragen Spuren zahlreicher Beziehungen in uns (vielfältiges Sein), die alle ihre eigene Idee des Guten mit sich bringen. Gewissenskonflikte werden nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen konkurrierenden Werten ausgetragen. Hass ist der Preis, den wir dafür zahlen, das wir einer sehr begrenzten Weltsicht anhängen (Jon Kabat-Zinn). Der Vernichtungswille führt zu übler Tugend.

Unterwegs zur Moral zweiter Ordnung (S.388). Die Genese eines Guten generiert zugleich die Basis des nicht Guten oder Bösen. Die Herausforderung ist, einen guten Umgang mit Konflikten zu finden. Alternative ist eine Universalethik. Abstrakt definierte Werte (Menschenrechte, Gerechtigkeit, Gleichheit, Mitgefühl oder Freiheit) haben ein hohes spalterisches Potenzial, denn es lassen sich keine konkreten Handlungsanweisungen ableiten. Moralischem Pluralismus geht es um Toleranz für andere Traditionen oder um eine aufgeklärte Allparteilichkeit für andere Positionen. Moralische Werte entstehen aus kollaborativen Handlungen und daraus moralische Ordnungen erster Ordnung. Dadurch entsteht Gut und Böse und die Blockierung von Kommunikationskanälen und die Möglichkeiten produktiver Ko-Aktion werden zerstört. Moral zweiter Ordnung entsteht nicht aus diskreten Einheiten, sondern in Beziehungen. Individuelle Verantwortlichkeit wird durch relationale Verantwortlichkeit ersetzt, als eine gemeinsam getragene Verantwortung dafür, dass auch weiterhin gemeinsam Bedeutung erzeugt werden kann. Es wird der Prozess der gemeinsamen Bedeutungsschöpfung aufrechterhalten. Die Praxis der relationalen Verantwortung erhält ihren Sinn in Beziehungen. Im Ideal hat die Moral zweiter Ordnung eine nicht-fundamentale Fundierung.

Relationale Verantwortlichkeit in der Praxis (dt. S.393). Das Driften hin zur Spaltung ist ein normaler Teil des relationalen Lebens. Wie können wir mit Konflikten gut umgehen? 

Von der Ko-Existenz zur Gemeinschaft (dt. S.394). Der Verlust des Gemeinwesens stellt eine Unterbrechung des Flusses unserer Handlungskoordination dar. Das Bemühen um Erneuerung von gesellschaftlichen Verbindungen ist gelebte Moral zweiter Ordnung. Es werden verschiedene Projekte und Initiativen in den USA vorgestellt. Der religiöse Bereich ist wegen der Neigung zu fundamentalen Wahrheiten eine Herausforderung beim Aufbau des Gemeinwesens.

Jenseits des Anfangs (dt. S.398). Es geht darum, dialogische Techniken zu entwickeln, die sowohl Krieg als auch das Argument als Mittel zum Umgang mit strittigen Themen ersetzen. Eine Herausforderung ist, wie man große Organisationen in den Dialog mit der breiten Masse der Menschen bringt, wie das Schwanken zwischen Pessimismus und Optimismus gehandhabt werden kann und wie man das Repertoire an kollaborativen Praktiken erweitern kann.

Kapitel 12[34]: Sich dem Heiligen Annähern

Schließlich behandelt Gergen «Auf dem Weg zum Heiligen». In Kapitel 12 wurden gegenüber dem englischen Original bei der Übersetzung einzelne Zitate oder Erklärungen (z.B. von Norman O. Brown, von Mark Wallace, von Alfred North Whitehead oder von Carl Jung) und komplette Unterabschnitte (z.B. «Actor Networks» oder «The Buddha Dharma: Inter-Being», wo Gergen die Verbindung zu Teil 1 des Buches und zwischen Buddhismus und Sozialem Konstruktionismus darstellt) weggelassen bzw. das Kapitel schon fast in Abweichung des von Gergen Beabsichtigten umgeschrieben bzw. seine Aussagen beschnitten.

Aus Gergens relationaler Sicht haben Konzepte wie das Selbst und die Gemeinschaft ihren Ursprung in Beziehungen. Nichts und niemand existiert für uns außerhalb der Beziehungen, in denen wir stehen. Um Beziehungen zu beschreiben und zu erklären, verlangt allerdings unsere Sprache, die Welt in voneinander unabhängige Einheiten zu unterteilen (ich, du, er sie). Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (Ludwig Wittgenstein). Dies ist die Annäherung an «spirituelles Bewusstsein». Bei der Suche nach der abschließenden Beschreibung des Wesentlichen erkennen wir, dass alle Phänomene in gewissem Maße vorläufig und von Konventionen bestimmt sind (nach Dalai Lama).

Metaphern des Relationalen (dt. S.403). Wir können uns an der Vielfalt der Darstellungen erfreuen statt falsche oder irreführende auszusondern. Man kann die Tatsache schätzen, dass ein Kunstwerk auf Dinge oder Zustände anspielen kann, ohne sie in irgendeiner Weise darzustellen.

Der prokreative Akt: Für viele Menschen ist die überzeugendste Veranschaulichung des relationalen Seins der Akt der Fortpflanzung. 

Systemtheorie: Ein System kann beschrieben werden als «ein Ganzes, das als Ganzes auf Grundlage der Wechselbeziehungen seiner Teile operiert». Beispiel ist das Konzept der Rückkopplungsschleife (Mann und Frau), der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Systemen, Kybernetik zweiter Ordnung (von Foerster), sich selbst organisierende Systeme (Luhmann). Es gibt die weit verbreitete Vorstellung, dass mit zunehmender Komplexität der Organisation eines Systems auch seine Anpassungsfähigkeit zunimmt. Die System-Metapher ist ein zentraler Beitrag zur Konzeption von relationalen Welten. Abgrenzung vom dysfunktionalen Individuum zur dysfunktionalen Familie. Aber auch hierbei wird in Ursache-Wirkungs-Bezügen gedacht. Verweis auf den heiligen Gehalt systemischer Ideen (Bateson).

Akteur-Netzwerke (Actor Networks): Die Akteur-Netzwerke-Theorie kommt aus den Sozialwissenschaften, ist abgeleitet aus der System-Theorie und behandelt Relationen nicht nur zwischen einer einzigen Art von Einheiten wie die Teile einer Maschine, sondern auch Elemente über Klassen hinaus wie Menschen und das Wetter. Danach ist ein Wissenschaftler nicht allein der Entwickler eines Konzepts. Sondern er ist eingebunden in ein Informationsnetzwerk der Gesellschaft.

Distribuierte Kognition: Kognitive Ansätze in der Psychologie und die Beziehung von Mensch zu Computer. In der Intelligenz sind der Computer und der Mensch eins (z.B. bei Rechenaufgaben). In der Person-Objekt-Beziehung liegt das Konzept der distribuierten Kognition, z.B. sind die Leistungen eines Kindes in der Schule von vielen Sachen im Kontext abhängig oder das System der Flugverkehrskontrolle. Letzteres ist ein Blick auf individuelle Einheiten.

Biologische Wechselbeziehungen: Evolutionsforschung mit darwinistischen Ideen und Sichtweisen auf menschliche Beziehungen. Moderne Sichtweise ist die der Ko-Evolution. Das Überleben bestimmter Arten ist mit dem Überleben anderer Arten verknüpft, mit denen sie in einer symbiotischen Beziehung stehen. Weiter geht das Konzept der diffusen Ko-Evolution. Alle Lebewesen sind miteinander verwandt (Pythagoras) oder die Gaia-Hypothese (die Welt ist eine einzige Lebensform). Die Erde steht an erster Stelle sowie auch Tierrechte und der intrinsische Wert der Natur. Die biologische Metapher hat praktische Implikationen und spirituelle Anklänge. Es bräuchte Ansätze einer Moral zweiter Ordnung, mit denen man denjenigen, denen man die Schuld zuweist, achtsamer begegnet.

Prozessphilosophie: In ihr wird der Zeitfluss mit betrachtet. Was wir für die jeweilige Realität halten, ist das momentane Zusammentreffen von «Erfahrungsgelegenheiten». Die Realität ist in beständigem Werden. Das relationale Sein und die Prozessorientierung erfordern eine Neukonzeption von Wissen und zeigt uns die Beschränktheit der Suche nach Wahrheit auf (im Unterschied zu der Annahme abgegrenzter und überdauernder Einheiten).

Die Lehre Buddhas: Das Zusammenhangs-Sein: (The Buddha Dharma: Inter-Being). Es geht um die vier buddhistischen edlen Wahrheiten von grundlegender Wichtigkeit: Die Prävalenz menschlichen Leidens, den Grund des Leidens an menschlichen Gelüsten, dass das Entkommen vom Bann der Gelüste (incl. Konzept des Selbst) Leiden verbessert und den acht edlen Praktiken zur Beendigung des Leidens (v.a. Meditation) und zu einem harmonischen Leben. In diesem Unterabschnitt zieht Gergen die Verbindung zwischen Buddhismus und seiner These der Ko-Aktion. Unsere linguistischen, d.h sprachlichen Unterscheidungen sind für unsere Wünsche und Enttäuschungen verantwortlich. Es sind alles soziale Konstruktionen (im Buddhismus «ko-dependente Entstehung»). Alles ist in allem anderen, d.h. das Zusammenhangs-Sein. So sollte gegenseitiges Umsorgen Antagonismus ersetzen.

Das heilige Potenzial des relationalen Seins (dt. S.413). Auch dieser Unterabschnitt ist in der dt. Fassung um eine Seite, die Darstellung der Verbindung von sozialem Konstruktionismus zu Religionen, gekürzt). Das afrikanische Konzept des Ubuntu (Sorge um, Mitgefühl für) oder das japanische Konzept des Ba (alle daran Teilhabenden sind in der Verbreitung und Bildung von Bewusstsein vereint): Beschäftigung mit dem Erhabenen (Romantiker, moderne Kommunikationstechnologien). In der postmodernen Theologie wird die Eignung von Worten in Frage gestellt, die unabhängig bestehende Welt widerzuspiegeln oder zu beschreiben. Worte erlangen ihre Bedeutung durch den Bezug zu anderen Worten.

Unterwegs zu heiliger Praxis (dt. S.416). Die Vergeblichkeit, den relationalen Prozess zu erfassen, sollte uns sowohl ehrfürchtig als auch demütig machen. Im Bewusstsein des Relationalen finden wir die Anlage zum Heiligen. Die Implikationen für unsere alltäglichen Praktiken sind substanziell. Erst die Sakralisierung verleiht unseren Handlungen Bedeutung. Wenn Handlungen mit dem Heiligen erfüllt sind, erhalten sie ein lebendiges Gefühl der Bedeutsamkeit. Die wissenschaftliche Perspektive von Vorhersage und Kontrolle entfremdet den Menschen von der Natur. Mittels einer relationalen Sichtweise können wir die Kluft zwischen dem Heiligen und dem Sozialen überbrücken. Praktische Ableitung für den Alltag könnte eine größere Wertschätzung und wertschätzende Beziehung für alles um uns herum bedeuten. Dafür werden dialogische Techniken gebraucht, die den Fluss der Bedeutungserzeugung in Beziehungen zwischen Menschen wiederherstellen und Menschen einander näher bringen.

Kapitel 13[35]: Epilog: Das Erwachen des relationalen Bewusstseins (dt. S.421)

Hierbei sind teilweise einzelne Absätze und ganze Seiten in der deutschen Fassung zwischendurch weggelassen, so die Beispiele für inklusive Partizipation aus der Praxis: «Die nationale Koalition für Dialog und Beratung», «Die internationale Akademie von kollaborativen Fachkräften», «Graswurzel Konflikt-Verminderung», «Regionale Kollaborationen», «Soziale Netzwerke», die Globalisierung der relationalen Aufklärung», «Kommunikations-Technologie», «Globalisiertes Organisieren» und «Umwelt-Bedrohung». Am Ende wurde der Epilog stark gekürzt und dafür in der deutschen Fassung ein Nachwort Gergens eingefügt.

Menschen ausschließlich als singuläre und voneinander abgegrenzte Wesen zu betrachten, stellt eine Gefahr für unser zukünftiges Wohlergehen und das des Planeten und aller Lebewesen dar. Die überzeugendste Alternative zu diesen Abgrenzungsbemühungen ist das relationale Sein. Am Anfang ist die Beziehung: Vernachlässigen wir unsere Beziehungen, riskieren wir das Ende von allem. Diese Kritik bereitete den Weg für eine relationale Alternative. Das Konzept koordinierter Handlungen oder der Ko-Aktion war dafür zentral. Wir nehmen bei allem, was wir denken, erinnern, erzeugen und fühlen an Beziehungen teil. Von zentraler Bedeutung sind Praktiken, die zur produktiven Ko-Kreation von Bedeutung einladen, und besonders solche, die die Hürden gegenseitiger Abneigung überwinden. Wir arbeiten auf eine neue Aufklärung hin. Sobald das relationale Wohlergehen im Mittelpunkt unserer Anstrengungen steht, nähern wir uns einer lebensfreundlicheren Zukunft.

Am Ende des Buches erscheint im englischen Original ein Index, der in der deutschen Fassung fehlt und dafür befindet sich in der deutschen Fassung das komplette Literaturverzeichnis am Ende des Buches.

Fazit der Autoren

Die deutsche Übersetzung von Gergens Buch ist sehr wichtig und verdienstvoll, weil es einen richtungweisender Beitrag zum fachlichen Diskurs in den Sozialwissenschaften leistet, die psychotherapeutische Praxis bereichert und einem größeren deutschsprachigen Leserkreis zugänglich macht. Damit wird dem deutschen Sprachraum vermehrt die Chance eröffnet, den Sozialen Konstruktionismus Gergens, den kollaborativ-dialogischen Ansatz für die deutsche Psychotherapie, das Momentum der Dialogischen Zusammenarbeit in der Psychotherapie und das Besinnen auf die radikal-relationale Gegenwart von Therapieprozessen stärker in Beachtung zu bringen – und die Unterschiede zum Konstruktivismus sollten deutlich geworden sein.

Die Beziehung steht am Anfang bzw. sie geht vor. Sie ist wichtiger als das Individuum, postfaktisches Wissen und die Diagnose. Wichtig dabei ist zu verstehen, dass sich durch eine stärkere Betonung der Beziehung statt des Individuums und des Dialogischen statt des individuellen Denkens eine andere therapeutische Haltung und eine deutlich andere therapeutische Praxis ergibt, andere Therapieprozesse, die sich auch im Therapieraum beobachten lassen und bei Kund:innen zum Teil andere Prozesse und Ergebnisse auslösen.

Wer sich mit Gergens Buch nur auf deutsch auseinander setzen kann oder möchte und die Ideen des Sozialen Konstruktionismus kennenlernen will, kann die diesbezüglichen Ideen in der deutschen Übersetzung nachlesen. 

Wer die feinen Unterscheidungen zwischen Sozialem Konstruktionismus und dem Konstruktivismus, zwischen der kollaborativ-dialogischen Orientierung Gergen‘s und den davon kontrastierenden, traditionellen, eher «monologischen» Ansätzen besser verstehen und an dieser Stelle in die Materie tiefer einsteigen will, sollte sich die Mühe machen, das englische Original zu lesen – oder besser gleich beide nebeneinander. 
In diesem Zusammenhang empfehlen wir schließlich auch die beiden Rezensionen von Wolfgang Loth[36] und Wilhelm Rotthaus[37].

Es lohnt sich in jedem Fall. 


[1] Lat.: Wir kommunizieren also bin ich.

[2] Dr. Eugene Epstein, Psychotherapeut in Berlin und exzellenter Kenner von Gergens Werken.

[3] Gergen, Kenneth J. 2021. Die Psychologie des Zusammenseins. dgvt-Verlag, Tübingen.

englisches Original 2009. Relational Being. Beyond Self and Community. Oxford University Press, Oxford; übersetzt aus dem Englischen von Thorsten Padberg, Berlin.

[4] Wir haben zusammen bereits folgenden Aufsatz geschrieben: «Prefactual understanding and dialogic collaboration: Swimming against the therapeutic mainstream of postfactual knowledge» geschrieben. Deissler, Klaus G., Wolf, Ingo & Kaya, Ahmet, 2022. International Journal for Collaborative Practices, February, 2022.

[5] Dialoge, Miteinander Sprechen, Gespräche

[6] dgvt: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie

[7] Gergen, Kenneth J. & Gergen, Mary, 2009. Einführung in den Sozialen Konstruktionismus. Carl Auer, Heidelberg.

[8] Gergen, Kenneth J., McNamee, Sheila & Barrett, Frank, 2003. Transformativer Dialog. ZSTB, 21: 69-89.

[9] Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus, 2021. Die Psychologie des Alltags. dgvt-Verlag, Berlin.

[10] Das Original findet man hier: Kaninchen und Ente. Fliegende Blätter, 23. X. 1892. Schnabel oder Ohren?

[11] Bereits Wittgenstein spielte mit diesem Vexierbild auf die Möglichkeit an, ein und dasselbe Bild auch anders zu sehen bzw. zu beschreiben: Wittgenstein, Ludwig 2003. Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt.

[12] Batesons Idee der «Doppelbeschreibung» kann hier zur Erweiterung der Verständnisweisen beitragen; vgl. Bateson, Gregory, 1982. Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Suhrkamp, Frankfurt/Main.

[13] Glasersfeld, Ernst von, 1997. Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Suhrkamp, Frankfurt.

[14] …oder Multiversa, wenn man Humberto Maturana folgt: Maturana, Humberto 1982. Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig.

[15] Bateson, Gregory 1995. Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Suhrkamp, Frankfurt.

[16] Unsere Hervorhebung, im Folgenden mit einem * gekennzeichnet.

[17] Einen unausgesprochenen Hinweis auf Martin Bubers Satz findet sich auf Seite 29 im englischen Original (Kapitelüberschrift) «In the beginning is the relationship» und auf Seite 75 in der deutschen Übersetzung heißt es «Am Anfang war die Beziehung». Explizit auf Buber weist Gergen in seinem Zitat auf Seite 396 im englischen Original hin und auf Seite 421 in der deutschen Übersetzung. 

[18] Im deutschen Original lautet Bubers Formulierung: «Im Anfang ist die Beziehung» Buber, S. 22. In: Buber, Martin. 2021. Ich und Du. Reclam, Stuttgart.

[19] Vgl. Fußnote 2.

[20] Shotter, John; 2016. Speaking, Actually: Towards a New ‘Fluid’ Common-Sense Understanding of Relational Becomings. Everything is Connected Press.

[21] Deissler, Klaus G. 2016. Sozialer Konstruktionismus. Wandel durch Dialogische Zusammenarbeit. In: Levold, Tom & Wirsching, Michael (hg). Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Carl-Auer, Heidelberg (2. Auflage).

[22] Vgl. den Literaturhinweis in Fußnote 4. 

[23] Richter, Gerd. 2013. Medizinethik und Therapeutische Gespräche. In: Deissler; Klaus G. und McNamee, Sheila (Hrsg): Phil und Sophie im Dialog. Die Soziale Poesie therapeutischer Gespräche. Taos Publications, USA.

[24] Gott also – Paul Watzlawick würde vielleicht vom «metaphysischen Versuchsleiter» sprechen. In: Watzlawick, Paul, 2021. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Piper, München.

[25] Deissler, Klaus G. 2016, a.a.O.

[26] Vgl. auch Lannamann, John W. & McNamee, Sheila. 2011. Narratives of the interactive moment. In: Narrative Inquiry 21:2, 382–390.

[27] Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von «Kairos» als günstigen Augenblick, in dem man – wie die Griechen sagten – die «Gelegenheit beim Schopfe packen» kann.

[28] Der Übersetzer: «Von der Vereinzelung zur Bezogenheit»

[29] Der Übersetzer spricht vom «gefesselten Sein».

[30] Der Übersetzer spricht vom «malignen Selbst».

[31] Der Übersetzer hat «In the Beginning is the the Relationship» mit «Am Anfang war die Beziehung» gedeutet. Zur Erörterung der Unterschieds siehe oben S.6. 

[32] S. Fußnote 8

[33] Deutsch: Kapitel 8

[34] Deutsch: Kapitel 10

[35] Deutsch: Kapitel 11

[36] Loth, Wolfgang. 2021: Vision einer relational aufmerksamen Welt. In: Systemagazin: https://systemagazin.com/die-psychologie-des-zusammenseins/

[37] Rotthaus, Wilhelm, 2022. Kenneth J. Gergen: Die Psychologie des Zusammenseins. In: Kontext, 53, 3: S. 313 ff.

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5 Kommentare

  1. Lieber Klaus, liebe Autor:innen,

    Danke für den Beitrag, den ich in vielen Punkten teile. Die zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung kann kaum überschätzt werden. Sehr früh entwickeln Menschen im intersubjektiven Bezogensein und durch gemeinsame Beziehungsgestaltungen nicht nur ein differenziertes Selbstempfinden, sondern auch ein implizites Beziehungswissen (Stern, 1993, 2010). Wir leben eingetaucht in Beziehungen und „existieren im Sprechen“ (Maturana). Ich glaube allerdings, dass wir eine erweiterte, übergreifende theoretische Sichtweise entwickeln müssen, um das Zusammenspiel zwischen (a) einzelnen Individuen, die als beziehungsgestaltende Akteure menschliche Beziehungen gemeinsam (interaktiv und kommunikativ) hervorbringen, und (b) den interaktiven und kommunikativen Beziehungsmustern, die auf die beteiligten Individuen (deren Selbstempfinden, Bewusstsein) ein-und zurückwirken, besser zu verstehen.

    Ein solcher meta-theoretischen Zugang wird in meinem 2022 erschienen Buch – Menschliche Beziehungsgestaltung. Eine systemische Theorie des Zwischenmenschlichen – evolutionstheoretisch und entwicklungspsychologisch begründet und ausführlich dargestellt.

    Eine erweiterte Sichtweise ergibt sich, wenn wir unsere Vorstellungswelt und unsere Aufmerksamkeit mehrdimensional, mehrfach fokussiert und zirkulär organisieren. Stellen wir uns ein Fußballspiel vor oder ein Konzert: Wollen wir, wie gute Dirigenten oder Fußballtrainer, das Spiel oder die Musik als Ganzes, als Ereignis erfassen, sollten wir sowohl (a) die Performance einzelner Spieler/-innen als auch (b) ihr Zusammenspiel sowie das, (c) was die Spieler durch ihre besondere Art des Zusammenspiels hervorbringen, in den Blick nehmen (oder hören). Im Fall eines Fußballteams bestünde die Hervorbringung in wechselnden, sich je nach Spielverlauf verschiebenden Mustern von Konstellationen und Konfigurationen, die das Spiel eines Teams auszeichnen und die, indem sie intensiv trainiert werden, die Performance des Teams und jedes einzelnen Spielers formen. Im Fall eines Orchesters oder einer Band entsteht, wenn es gut geht, aus den besonderen Mustern des Zusammenspiels ein besonderer (unverwechselbarer) Gesamtklang, ein Sound der (einmal eingegroovt) wiederum das Spiel jedes einzelnen Band- oder Orchestermitglieds prägt. Natürlich kann man allein mit dem Ball trainieren oder Geige üben, aber niemand kann allein Fußball spielen oder musizieren. Ganz ähnlich ist es im Beziehungsleben von Paaren, Familien oder kleinen, dauerhaft bestehenden Gruppen. Während die Beteiligten ihre Beziehungen zueinander gestalten und dabei Muster von Transaktionen hervorbringen, organisieren sie sowohl (a) sich selbst als auch (b) die anderen.

    Um diesen zentralen Zusammenhang in den Blick zu bringen, schlage ich vor, die Art und Weise der Beobachtung und Aufmerksamkeit auf den Bereich des Zwischenmenschlichen auszuweiten: Im intersubjektiven Beziehungsraum (Stern, 1993) ereignet sich (a) das Erleben und kommunikative Handeln von (mindestens zwei) Personen und (b) das, was zwischen den Personen geschieht, auf der Basis und im Rahmen gemeinsamer Beziehungsgestaltung.
    Wir existieren in intersubjektiven Beziehungen,3 und wir beschränken oder erweitern unsere Entwicklungsmöglichkeiten durch die Art, wie wir Beziehungsräume miteinander »einrichten« und Beziehungen gestalten.

    Theorie ist nicht Haarspalterei sondern praxisleitend

    Wozu könnte eine Theorie menschlicher Beziehungsgestaltung beitragen?
    Warum könnte sie sinnvoll sein? Ich möchte hier drei Gründe ins Feld führen.
    Gemeinsame kreative Beziehungsgestaltungen spielen offenbar in der Evolution
    und Entwicklung menschlichen Zusammenlebens, menschlichen Geistes
    und menschlicher Kommunikation eine zentrale Rolle (Darum geht es im ersten Teil meines Buches). Diese Phänomene stehen, evolutionär und entwicklungspsychologisch betrachtet, in einem engen wechselseitigen Verhältnis zueinander und können nur im Zusammenhang, als unauflösliche Einheit, ausreichend verstanden werden. Von dieser Einheit gehe ich in der Theoriebildung aus, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie Menschen gemeinsam Beziehungen gestalten, zu sich selbst, untereinander und zur weiteren Umgebung.

    Eine pragmatische Begründung für eine solche erweiterte Theoriebildung ergibt
    sich aus der Praxis der Psychotherapie und der Ergebnisforschung. In der therapeutischen Zusammenarbeit bilden gemeinsame Beziehungsgestaltungen nach Meinung fast aller Experten den alles entscheidenden Rahmen, in dem Methoden und Techniken wirksam werden können, oder eben nicht. Vor diesem Hintergrund erscheint eine
    allgemeine Theorie menschlicher Beziehungsgestaltung für die Praxis von Therapie
    und Beratung nicht nur sinnvoll und nützlich, sondern überfällig. Eine
    Theorie der Psychotherapie sollte sowohl empirische Forschungsergebnisse als auch die Erfahrungen und Reflexionen praktizierender fachlicher Communitys beachten und ernst nehmen, um zu einem vertieften Verständnis der Praxis beizutragen und in der Praxis den Raum der Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern.

    Aus meiner Sicht gibt es jedoch einen weiteren, tiefer liegenden Grund zu
    einer „anderen“ Theoriebildung. Dieser liegt in der Geschichte der Theoriebildung
    selbst, so, wie diese Theoriebildung sich im westlichen Denken, spätestens seit
    der Renaissance, entwickelt hat. Das Denken Europas weist, wissenschaftshistorisch
    gesehen, eine Tendenz zur Trennung und Spaltung von Zusammenhängen
    auf. Diese Tendenz zeigt sich unter anderem in der Trennung von Beobachter
    und Beobachtetem, in der Trennung von Geist und Natur (Bateson,
    1984), in der Trennung von Körper, Geist und Seele, aber auch in der Trennung
    von Individuum und Gemeinschaft (Sperber, 1987; Rosa, 2016).
    In der Konsequenz führt diese Art des Denkens und der Theoriebildung
    zu Trennungen, Entgegensetzungen und Spaltungen, die einen tiefgreifenden
    Einfluss auf die Art ausüben, wie wir als Spezies Beziehungen gestalten – zu
    uns selbst, miteinander und im Umgang mit der natürlichen Umgebung. Die
    herrschende Beziehungslogik (Expansion, Konkurrenz, Dominanz und permanente
    Steigerung; vgl. Rosa, 2016), mit der wir als Spezies in allen Bereichen
    schon so lange unterwegs sind, erweist sich im Anthropozän als fundamentaler
    und gefährlicher Irrtum. Dieser Irrtum beginnt damit, den »Menschen« als
    Individuum ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Eine Kybernetik zweiter Ordnung geht hingegen davon aus, dass Beobachter immer schon Teil des Systems sind, das sie beobachten (vgl. dazu: Bateson, 1983; Schwing u. Fryszer, 2006,
    S. 79 ff.; Levold u. Wirsching, 2014, S. 55–58; von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 95). Die fundamentalen Irrtümer der westlichen Kultur sind die großen Themen des kanadischen Philosophen Charles Taylor. In die »Quellen des Selbst« (1989) beschäftigt er sich mit der Frage, wie es zu der Idee eines isolierten, »desengagierten« Subjekts kommen konnte (eine
    Idee, die als Irrtum den modernen Individualismus antreibt). Gregory Bateson, der wie kaum ein anderer für ein genaues und zugleich verbindendes
    Denken geworben hat, formuliert das zentrale Problem so: »Trennt
    man aber den Geist von der Struktur ab, der er immanent ist, wie etwa die
    menschlichen Beziehungen, die menschliche Gesellschaft oder das Ökosystem,
    dann sitzt man meiner Ansicht nach einem grundlegenden Irrtum auf, der
    sich letztlich mit Sicherheit gegen einen selbst auswirken wird« (Bateson, 1983,
    S. 622).

    In den Psycho- und Sozialwissenschaften spiegeln sich die Tendenzen zur
    Trennung und Aufspaltung der wirklichen Welt wider. Norbert Elias schreibt
    dazu: »Man scheint nur die Wahl zu haben zwischen Theorieansätzen, die so
    angelegt sind, als ob die Einzelmenschen jenseits der Gesellschaft als das eigentlich
    Existierende, dass eigentlich ›Reale‹ und die Gesellschaft als eine Abstraktion,
    als nicht eigentlich existierend zu betrachten seien, und anderen Theorieansätzen,
    die die Gesellschaft als ›System‹, als ›soziales Faktum sui generis‹, als
    eine Realität eigener Art jenseits der Individuen hinstellen« (Elias, 1976, S. LI).
    In der einen Tradition von Theoriebildung wird das einzelne Subjekt als zentrale
    Perspektive gewählt, also vom Individuum aus zur Umgebung und wieder
    zum Individuum hingedacht. Freuds Triebtheorie ist ein prominentes Beispiel
    dieser Denkungsart, ebenso aktuelle neurobiologische Theorien (Damasio,
    2011; Roth, 2009; Roth u. Strüber, 2018). Der Mensch, als autonom vorgestelltes
    Individuum, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, und es wird ein Subjekt
    konstruiert, das sich gewissermaßen aus sich selbst heraus erschafft.
    In der entgegengesetzten Tradition wird die Gesellschaft als zentrale theoretische
    Perspektive gewählt. In dieser Tradition wird von der Gemeinschaft
    aus zum Individuum und wieder hin zur Gemeinschaft gedacht. Die marxistische
    Gesellschaftstheorie oder der französische (Post-)Strukturalismus
    sind Beispiele dieser Art zu denken. In der Konsequenz stehen gesellschaftliche, kulturelle oder gemeinschaftliche Strukturen im Zentrum der Aufmerksamkeit, es wird eine Gesellschaft konstruiert, die sich gewissermaßen aus sich selbst heraus erschafft – und die Subjekte gleich mit.

    In den wechselnden Moden der Theoriebildung und in den theoretischen Debatten
    kippt das Denken immer wieder aufs Neue von einem Extrem ins andere.
    Dabei käme es, was allerdings extrem herausfordernd zu sein scheint, darauf
    an, das einseitige Entweder-oder-Denken in ein mehrperspektivisches Denken
    zu transformieren. Ein Denken, das sich in mehreren Richtungen zirkulär und
    schleifenförmig entfaltet und verschiedene Perspektiven in einer übergreifenden
    Sichtweise verbindet, ohne im Ungenauen und Ungefähren zu verschwimmen.

    In einer ökosystemischen Perspektive existiert ein zentraler Zusammenhang zwischen (a) individuellem Leben, Erleben und Bewusstsein, (b) gemeinschaftlichem Zusammenleben und Kommunikation sowie (c) diversen Umgebungsbedingungen. Dieser Zusammenhang erschließt sich allerdings erst, wenn wir uns in einer übergreifenden Perspektive mit den diversen Formen menschlicher Beziehungsgestaltung beschäftigen.

    Offenbar verfügen Menschen über ein Potenzial, das sie von anderen Lebewesen
    fundamental unterscheidet: Sie können gemeinsam Beziehungen
    kreativ gestalten.

    Literatur: Bleckwedel, J. (2022). Menschliche Beziehungsgestaltung. Eine systemische Theorie des Zwischenmenschlichen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht.

  2. Thorsten Padberg sagt:

    Ich danke Klaus Deissler, Ingo Wolf und Ahmet Daya für die ausführliche Beschäftigung mit dem Buch von Ken Gergen. Ken Gergens Relationismus zielt ja auf Anschlussfähigkeit, die dann auch mal zuungunsten einer vollkommenen inhaltlichen Übereinstimmung ausfallen darf. Die Signifikanz minimaler Unterschiede sollte man im Sinne dieses Relationismus nicht überbetonen.

    Die Entscheidung für die Übersetzung von „being“ durch „Dasein“ hatte ich im Buch begründet. Selbstverständlich könnte man auch eine Abgrenzung von „human“ zum „relational being“ in Betracht ziehen. Das mag eine andere, durchaus wichtige, Nuance betonen. Diese übergeht dann das Gerundium, das nun eben auf die ständige Generierung von „relational being“ hinweist. Denn „das Relationale Sein“, das die Rezensenten gern gelesen hätten, hat seinerseits seine Tücken, etwa eine implizite Verdinglichung, die Gergen eher fremd ist. Und ja, das deutsche „Dasein“ betont nun eben genau das Werdende, das die Rezensenten eigentlich auch gern betont sehen wollen. Tut mir leid.

    Der Begriff „Sozialer Konstruktivismus“ ist m.W. im Deutschen nicht wesentlich anders besetzt als Sozialer Konstruktionismus. Google spuckt zum von mir gewählten Begriff munter Texte mit beiden Begriffen aus. Wer hier irritiert ist, der hat bereits ein so feines Sensorium ausgebildet, dass er eine Orientierung, die sich an drei Buchstaben festmacht, eigentlich nicht mehr nötig hat. Den Begriff „sozial-konstruktivistisch“ gibt es in meiner Übersetzung einmal.

    Zweimal findet er sich in meinen Vorwort. Erneut: Wenn sich gerne abheben will, kann hier feine Unterschiede hervorheben. Die Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus hatte in der Tat einen stärkeren Bezug auch zum Radikalen Konstruktivismus. Dennoch hat sie einen engen Austausch mit Gergen gepflegt, der Distinktionsgewinnen aus minimalen Differenzen wenig abgewinnen kann.

    Und dann ist da noch die Psychologie. Gergen selbst ist ja Sozialpsychologe. Er unterrichtete am Department of Psychology in Swarthmore, ist dort bis heute Senior Research Professor. Psychologie besetzt aktuell (leider?) den Diskursraum, in dem genau diese Fragen nach Identität, Zusammenleben oder all den anderen Themen abgehandelt werden, denen sich Gergen im Buch widmet. Das Buch „Psychologie des Zusammenseins“ zu nennen, ergab daher für ein Publikum Sinn, das diese Fragen aktuell umtreibt. Es ging hier weniger darum das Gergensche Werk der Psychologie unterzuordnen, als der Psychologie im Titel eine mögliche Entwicklungsrichtung aufzuzeigen. In der Tat werden Buchtitel bei Übersetzungen aus genau diesen Erwägungen ja häufiger mal geändert.

    In diesem Sinne: „Die Psychologie des Zusammen-Seins“? (Übrigens finde ich gerade die grafische Darstellung auf dem Cover mit Bindestrich diesbzgl. ganz gelungen, weil sie weitere durchaus relevante Aspekte von Gergens Ansatz betont, andere dann leider an dieser Stelle nicht). Sicher eine Entscheidung, die anders hätte fallen können und die ich selbst mit einigen Bauchschmerzen getroffen habe. Sie hat in diesem Fall ihr Publikum nicht erreicht. Schade. Wenn die von den Rezensenten verfassten Ausführungen die Wirkung haben, dass Gergens Werk in Deutschland mehr rezipiert wird, hat sich unser aller Arbeit dennoch gelohnt.

  3. (sorry, an anderer Stelle auch schon gepostet, hier sollte es hin.)
    Liebe Kolleg:innen,
    Danke für die ausführliche Darstellung. Da ich auf absehbare Zeit wegen anderer Aufgaben nicht zum Lesen komme, eine Nachfrage: Ich sehe in dieser Rezension (und auch in der älteren von Wolfgang Loth) viele Übereinstimmungen des Ansatzes von Kenneth Gergen mit zentralen Aussagen des Symbolischen Interaktionismus (Primat des Sozialen und der Interaktion) bei recht komplett abweichender Terminologie (siehe auch dessen Kurzdarstellung im Aufsatz von Rainer Keller: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-94080-9). Kann jemand adhoc etwas dazu sagen? Oder gibt es irgendwo schon einen systematischen Theorievergleich? Dann freut mich ein Literaturhinweis.
    Mit freundlichem Gruß:
    rudolf schmitt

    • Lieber Herr Schmitt,
      ein systematischer Theorievergleich ist mir nicht bekannt, doch war der SI für Gergen vertraut. Im hier besprochenen Buch schreibt er in seinem „Prolog“ zum Kapitel „Das Vermächtnis der Sozialwissenschaften“, dass zu seiner frühen Zeit als Lehrender an einem Graduiertenkolleg „die imaginierten Dialoge, die ich mit den klassischen Arbeiten von [….] George Herbert Mead (…) hielt, besonders wichtig für mich“ waren (S.28). Terminologie und Theorie des SI waren/sind für Gergen also bekanntes Terrain. Dass er es nicht beim Ausleuchten des SI belassen hat und eigene Gedanken stattdessen weiterentwickelt hat, scheint ja darauf hinzuweisen, dass er selbst einen begründbaren Unterschied zwischen beidem erkennt. Mir scheint, dass dieser Unterschied weniger im Plot liegt, also im Fokus auf einer Art „sozialem Selbst“, sondern in der Art des Vorgehens. Vielleicht verdeutlicht das Gergens Kapitel „Wissenschaft als Performance“ (S.314ff.). Er unterscheidet da zwischen dem akademischen Diskurs und einer Art des sich öffnenden Mitteilens. Gergen schreibt da z.B.: „Das Forschungsgeschehen wird nur durch die Beziehungen relevant, die der Forschung selbst vorausgehen“ (S.314). Die „teilnehmende Beobachtung“ anthropologischer Feldforschung ist dem zwar verwandt, wahrt jedoch größere Distanz zum Geschehen. Vielleicht lässt sich beim Blick auf systemische Perspektiven hier eine Analogie beschreiben zwischen systemtheoretischer Draufsicht und systemischem Einfinden in ein soziales Geschehen.
      Wie gesagt, zu einem systematischen Theorievergleich kann ich nichts beisteuern. Aber vielleicht könnten Ihnen meine Anmutungen zu Ihrer Frage etwas weiterhelfen.
      Freundliche Grüße,
      Wolfgang Loth

      • Lieber Herr Loth,
        herzlichen Dank für die Skizze der Verbindung von G.H. Mead zu K. Gergen!! Das hilft mir, mehr zu verstehen. Auch kann ich Ihren Satz “[Gergen] .. unterscheidet da zwischen dem akademischen Diskurs und einer Art des sich öffnenden Mitteilens” gut nachvollziehen, da ich als Zuhörer an einem Vortrag von Gergen im akademischen Kontext teilnehmen wollte, er aber eine Gitarre hervorzog und irgendeinen (oder vielleicht selbst gedichteten) Cowboy-Song intonierte (oder das, was ich als europäisch-akademisches Bleichgesicht verstanden habe) 😉
        Mit freundlichem Gruß:
        rudolf schmitt

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