Vor kurzem erschien an dieser Stelle ein Rezensionsessay von Wolfgang Loth über Texte der BochumerArbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus, über Die Psychologie des Alltags. Ebenfalls im dgvt-Verlag ist mit gleichem, aber spiegelverkehrten Cover, ein 444 Seiten starker, bereits 2009 im englischen Original veröffentlichter Band von Ken Gergen über Die Psychologie des Zusammenseins erschienen, in dem er die Abkehr von der individualistische Tradition, das autonome Selbst in den Mittelpunkt der Psychologie zu stellen, begründet. Wolfgang Loth hat auch dieses Buch für systemagazin gelesen und steuert folgenden Rezensionsessay bei:
Wolfgang Loth, Niederzissen: Vision einer relational aufmerksamen Welt
Kraft und Bedeutung des Gemeinschaftlichen sind Ken Gergens Thema seit vielen Jahren. Das Gemeinschaftliche in den Vordergrund zu rücken gegenüber der in unseren Breiten dominierenden individualistischen Weltsicht ist sein Anliegen, und er hat das konsequent weiterverfolgt auch gegen Widerstände. Der Begriff des Sozialen Konstruktionismus ist untrennbar mit ihm und seiner Frau Mary verbunden[1]. Das nun vorliegende Buch erschien im Original vor etwas mehr als 10 Jahren unter dem Titel Relational Being: Beyond Self and Community (2009[2]). Trotz der Prominenz, die die Gergens auch im deutschsprachigen Raum genießen, war es bis jetzt nicht ins Deutsche übersetzt worden. Thorsten Padberg hat diese Lücke nun geschlossen, er hat das Buch übersetzt und ihm ein ausführliches Vorwort gewidmet: „Aufforderung zum Tanz – Kenneth Gergens Psychologie des Zusammenseins“.
Das Vorwort führt auf ansprechende Art in Gergens Denkweise und in die Absicht ein, die dieses Buch trägt[3]. Doch lässt der Titel des Vorwortes, wie eben auch der Titel der übersetzten Buchausgabe bei mir eine Irritation entstehen, die sich auch nach der an sich erhellenden und im Wesentlichen sehr anregenden Lektüre nicht auflöst. Was hat Padberg bewegt, das spielraumeröffnende relational being für eine bestimmte Fachdisziplin zu reklamieren? Da sich Padberg – exzellent auch in seinen erläuternden Fußnoten – als ein sprachlich versierter und desgleichen in Übersetzungsdingen sattelfester Autor erweist, vermute ich hier einen Zusammenhang, der eher nichts mit Gergen zu tun hat, sondern mit einem spezifischen akademischen Kontext, der mir ebenfalls in dem Band der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus über die „Psychologie des Alltags“ aufgefallen ist[4]. Das hier besprochene Buch und das zur Psychologie des Alltags sind gemeinsam herausgekommen, auch optisch als Zwillinge kenntlich gemacht (gleiche Aufmachung, gleiche Coverfarbe), verbindend unterschieden durch die spiegelbildliche Wiedergabe des bekannten Hase-Ente-Kippbildes auf dem Cover (im vorliegenden Buch schaut „der Hase“ nach links). Ich komme auf den irritierenden Psychologie-Fokus am Ende noch einmal zu sprechen.
Zum Buch
Das ausführliche Inhaltsverzeichnis erlaubt eine frühe und sichere Orientierung auf das, was dieses Buch anbietet. Nach Padbergs Vorwort markiert Gergens einführender Prolog die Zielrichtung: „Auf zu einer neuen Aufklärung!“. Gergen erklärt, er habe sich mit diesem Buch die Aufgabe gestellt, „über das Vermächtnis der Aufklärung hinauszugehen“. Er „werde versuchen, menschliches Handeln so zu beschreiben, dass die Prämisse, jedes Individuum sei in sich abgeschlossen, durch ein Bild der Bezogenheit ersetzt wird“. Es gehe stets um „einen Prozess der Koordination“. Aus dieser Sicht ergebe sich, „dass faktisch jegliche sinnvolle Handlung aus dem fortlaufenden Prozess der Bezogenheit entsteht, aufrechterhalten und/oder beendet wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es kein isoliertes Selbst oder vollkommen private Erfahrung. Wir leben vielmehr in einer Welt der Ko-Konstitution“ (alle: S.25). Die Auseinandersetzung mit den individualisierenden, auf die individuell-persönliche Entscheidungsfreiheit zielenden Konsequenzen der Aufklärung zieht sich durch das ganze Buch. In einer Vielzahl von Beispielen, professionell erkundeten und alltagsbezogenen, vermitteln sich die belastenden Konsequenzen von Zuschreibungen, die auf umgrenzter individueller Verantwortung bestehen, ohne die soziale Verwobenheit sämtlicher Bedeutungsgebungen anzuerkennen.
Gergen kennt seine Pappenheimer, er ist ja ein alter Hase, und so warnt er die LeserInnen gleich am Anfang: „Die hier vorgeschlagene beziehungszentrierte Alternative zum traditionellen Bild des Selbst wird Ihnen Unbehagen bereiten. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbst hat weitreichende Konsequenzen“ (S.26). Was üblicherweise für Orientierung und Zurechtfinden im Getümmel des sozialen Alltags sorgt, insbesondere das Denken in Ursache und Wirkung oder auch die Illusion von Unabhängigkeit, erhält kräftige Dämpfer. Wie immer, wenn spürbare Einschnitte in bevorzugte Sichtweisen und Lebensroutinen drohen oder notwendig werden, kommt eine hochkochende Erregung zustande. Die zurzeit virulenten Themen Corona und Klima zeugen davon in beeindruckender Weise. Und wie immer, wenn Erregung hochkocht, geht es auch um die Konkurrenz deutungsrelevanter Ideen und Narrative, die der spürbaren Erregung Richtung und Sinn geben. Sinn durchaus auch systemtheoretisch verstanden als Bahnung zuverlässiger Anschlusskommunikation. Das ist im Prinzip ja kein neues Phänomen, in seinen jeweiligen Realisierungen jedoch an Zeitgeist, zeittypisch geltende Traditionslinien, sowie zeitgemäße Technologien gebunden. Insofern kann Gergen immer wieder darauf hinweisen, dass viele der unser Leben beherrschenden Herausforderungen mit individualistischen Konzepten nicht bewältigt werden können. Unverdrossen geht er jeder Spur nach, die zu der Erkenntnis führt, dass es keine individuell-private, unabhängig von einem sozialen und gesellschaftlichen Gefüge existierende Handlung gibt, weder innere (Vorstellungen, Emotionen, Bewertungen, etc.) noch externe (Aktionen, Taten). Ja, selbst die Unterscheidung von „innen versus außen“ sei aus relationaler Sicht unbegründet. Stets habe man es mit aufeinander bezogenen Prozessen zu tun, die erst in ihrem Miteinander Handlung und Bedeutung konstituieren. Auf den Punkt gebracht schlägt Gergen vor, „das Individuum selbst als Nebenprodukt von Beziehungen anzusehen“ (S.37).
Dass diese Perspektive eine Reihe von kniffeligen Herausforderungen für die Sprache mit sich bringt, liegt auf der Hand. Was soll zum Beispiel das „ich“ bedeuten, wenn ausschließlich „wir“ eine Rolle spielt? Sprache erscheint ohne sozialen Kontext zwar sinnlos, braucht jedoch, um im sozialen Kontext eine Rolle spielen können, Sprecher*innen, die sich ihre Äußerungen zur Verfügung stellen. Mit anderen Worten: individuelle Beiträge zu einem sozialen Sinn. Es sei denn, man verzichtet auf die Idee eines irgendwie nachvollziehbaren Sinns und begnügt sich mit traffic, Kommunikation als Click-Ökonomie. Gergen schreibt, wie er sich mit der Frage der Formulierung auseinandergesetzt hat und schließlich vom relational self zum relational being gekommen ist. Padberg übersetzt das being mit Dasein und nicht mit Sein, was er nachvollziehbar begründet (S.37, Fußnote 3). Ich verstehe das so, dass Gergen das relationale Miteinander als Einheit der Beobachtung vorschlägt. Auch das wäre an sich nicht neu, nur zu denken an Batesons Definition der „Überlebenseinheit“ als „ein flexibler Organismus-in-seiner-Umgebung“ (1983, S.580)[5]. Doch Gergen kann als derjenige angesehen werden, der diese Perspektive in neuerer Zeit und für unsere Profession am radikalsten und konsequentesten eingenommen hat. Es scheint nur konsequent, dass er dieses Buch nicht als eine autor-itative Draufschau verfasst, sondern verschiedene Textformen variiert. Er komponiert Passagen wissenschaftlicher Abhandlung, persönliche Erfahrungsclips, literarische Zitate, künstlerische Darstellungen, philosophische und praktische Reflexionen, sowie das immer wieder ins Spiel gebrachte Gespräch mit einem inneren „Kritiker“ zu einem umfangreichen Essay über die Notwendigkeit, Leben fundamental als aufeinander bezogenes Miteinander zu verstehen und zu gestalten[6].
Gliederung
Die vier Hauptteile des Buches diskutieren zunächst Grundlagen und Begriffe („Von der Vereinzelung zur Bezogenheit“), in Teil 2 „Das relationale Alltagsleben“ und in Teil 3 „Relationales Dasein und professionelle Praxis“. Im vierten Teil wagt sich Gergen an das Thema „Von der Moral zum Geheiligten“. Die Teile gliedern sich in Unterkapitel, die facettenreich und fortschreitend das Generalthema ausloten. Sie arbeiten sich von allgemeinen und grundlegenden Prämissen weiter bis zur Darstellung entsprechender Umsetzung relationaler Ideen in die Praxis von Alltag und Profession. Im vierten Teil wird es dann wieder sehr grundsätzlich, teilweise visionär. Gergen tastet sich an Möglichkeiten heran, sensible Berührungspunkte zu einem Umgreifenden relational zu erfassen. Letztlich hat das etwas Entmystifizierendes, aber unmittelbar Verantwortungsrelevantes. Ein Epilog zum globalen „Erwachen des relationalen Denkens“ und ein aktuelles Nachwort beschließen dieses Buch. Eine umfangreiche Literaturliste steht zur Verfügung, allerdings weder ein Personen-, noch ein Sachregister. In diesem Band hilft jedoch das ausführliche Inhaltsverzeichnis ganz gut weiter.
Die Reichhaltigkeit und Verwobenheit der unter diesen Überschriften diskutierten Überlegungen lässt sich nicht angemessen skizzieren. Ich greife daher nur einige zentrale Begriffe heraus und versuche nachzuvollziehen, was mich bei der Lektüre in besonderer Weise bewegt hat. Wenn ich eine relationale Perspektive einnehme, erscheint das nicht ganz einfach. Gergen selbst widmet dem Thema „Schreiben als Bezogenheit“, „Schreiben im Dienst der Bezogenheit“ und „Schreiben als ganzer Mensch“ einige Seiten (S.304-314). Was er da schreibt, halte ich für interessant, gewinne jedoch den Eindruck, dass Gergen hier auch einige Widrigkeiten abarbeitet, mit denen er es selbst zu tun hatte. Im wissenschaftlichen Bereich komme es darauf an, als „wohldurchdacht“ anerkannt zu werden, schreibt er. In der Regel heißt das, einen objektiven Anschein zu erwecken. Dagegen setzt Gergen: „Im Augenblick der Lektüre gehören die Worte weder nur Ihnen, noch dem Buch, noch mir. Im Moment der Lektüre gibt es keine klaren Grenzen zwischen mir, dem Buch und Ihnen“ (S.75). Das dürfte für viele eine unhandliche Lage darstellen. Gergen scheint da für manche wie ein rotes Tuch gewirkt haben. Doch setzt er noch einen drauf: „Unangreifbares Schreiben ist eine säkulare Form der Seelenreinheit“ (S.306). Als Bonmot zündend, als ontische Aussage ein angreifbarer Brocken.
Zentrale Begriffe
Ein wichtiger Begriff ist der der Ko-Aktion, bzw. der der Ko-Kreation. Für Gergen zeigt sich hier eine „wunderbare Reziprozität. Sowohl das Verhalten als auch dessen Bestätigung sind für sich genommen ‚leer‘; erst durch die koordinierte Aktion wird ihre Bedeutung zum Leben erweckt“ (S.80). Da dies weit mehr als Worte beinhaltet, hält Gergen auch die Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation für „künstlich“ (S.82). Was geschieht, geschieht, und es geschieht umfassend und relationsspezifisch gleichzeitig. Das bedeutet nach Gergen eben nicht, „dass vor dem Augenblick der Ko-Aktion ‚nichts existiert‘. Was immer existiert, existiert einfach. Durch den Prozess der Ko-Aktion nimmt was immer da ist jedoch eine Gestalt für uns an“ (S.84, Herv.i.O.). Ich finde, dass es Gergen mit solchen Betrachtungen gelingt, der Entweder-oder-Falle zu entgehen, die sich leicht in der Auseinandersetzung um konstruktivistische Positionen ergibt: weder ist alles nur Konstruktion, noch ist alles gegeben. Aus relationaler Sicht gilt, dass sich eine sinnstiftende Bedeutung und entsprechende Aktion erst im gemeinsamen Bezug aufeinander ergibt. So gesehen gilt auch die „Psyche als Tätigkeit in einer Beziehung“ (S.131ff.). Es gebe „immer ein imaginiertes Publikum für unsere privaten Gedankenspiele“, mit anderen Worten: „Was wir im Stillen tun, passiert nicht in einer ‚inneren Welt‘, die Verstand genannt wird. Wir nehmen damit am Gesellschaftsleben teil, nur vor leeren Rängen“ (beide: S.135).
Auch körperliche Prozesse gelten Gergen als relationales Geschehen. Er dekliniert das durch am Beispiel von Emotion, von Lust und von Schmerz (=Kapitel 4). Da finden sich immer wieder sprichwortartige Formulierungen, wie die folgende: „Um glaubhaft Ärger zeigen zu können, braucht es ein ungeheures Ausmaß an kultureller Vorbildung“ (S.162). Oder auch: „Wenn sich etwas ganz natürlich anfühlt, dann hat die Kultur dafür gesorgt“ (S.164). Es ist dieser Sprachwitz, der die Lektüre für mich immer wieder belebt. Und das auch, wenn mir mancher Stolperstein erst im Nachhinein aufging, wenn etwa die notwendige Genauigkeit in den Blick rückt, die solche Sätze erst tragfähig macht: Ärger kann einem vermutlich auch ohne Vorbildung passieren, aber erst das Zusammenpassen von spontanem und kulturell erwartetem Ausdruck führt dazu, dass es glaubwürdig ankommt. Und „glaubwürdig“ ist ein Begriff, der nur als relationales Phänomen Sinn stiftet. Und so könnte man immer weiter machen. Auch zur Frage der Bedeutung von Hirnprozessen: „Das Gehirn bestimmt nicht die Qualität unseres Genusses; es stellt lediglich die Grundlage für seine relationale Erschaffung bereit“ (S.187f.).
Ein wichtiger Begriff noch: „Personenpersonen“, vorgestellt im Kapitel 5 über deren Beziehung zum „Abenteuer des Alltags“. Personenpersonen ist wieder so ein Begriff, der sich aus den Schwierigkeiten der (deutschen) Sprache ergibt, die aus Ko-Aktion entstehenden Geschehnisse genau genug zu beschreiben. Im englischsprachigen Original geht das leichter, in diesem Fall als „Multi-beings“ (S.199, Fußnote 1). Die Verdoppelung in der deutschen Übersetzung soll darauf hinweisen, dass es aus relationaler Sicht kein ein-faches „wahres Selbst“ gibt. Bildlich: Jeder verfügt nicht nur über eine einzige Adresse, und da dies alle betrifft, erweisen sich Beziehungen als variabel innerhalb eines weiten Spektrums. Das wirft unweigerlich die Frage nach Authentizität und Kohärenz auf. Und es bewegt nicht zuletzt die Annahme, dass psychisches Leid mit fehlender Kohärenz einhergehe. Dagegen Gergens Position: „Inkohärenz wird erst in Beziehungen zum Problem, in denen sie verpönt ist“ (S.208). Es macht keinen Sinn, hier sämtliche Bezüge zu wiederholen, auf die Gergen eingeht. Es sind zuviele. Manchmal haben mir Aphorismen beim Sortieren geholfen, wie etwa dieser: „Was die Gesellschaft zusammenhält ist hauptsächlich die permanente Notwendigkeit, für unsere Beziehungspartner*innen verständlich zu bleiben“ (S.208). Das wäre schon Arbeit genug[7].
Auch auf neuartige Formen der Koordination gemeinsamer Aktion geht Gergen ein. Unter dem Stichwort „hybride Szenarien“ denkt er über Kommunikation via digital-soziale Medien nach. Auch in diesem Fall sieht er keine Einschränkungen für eine prinzipiell relationale Sicht der Dinge.
Gemeinschaft und Psychologie
In Teil 3 geht es um „Wissen als Gemeinschaftsleistung“ und um „Therapie als relationale Wiederherstellung“. Das Therapiekapitel bringt keine grundstürzend neue Einsichten, liefert jedoch gewichtige Argumente für ein kontextuelles Verständnis von Therapie. Kritische Einwände gegen die dominierenden diagnostischen Verfahren und die Medikalisierung psychosozialer Hilfen finden sich hier, sowie Skizzen lösungs- und beziehungsorientierter, letztlich systemischer Ansätze.
In diesem Kapitel findet sich nun allerdings ebenfalls ein Passus, mit dem ich meine anfangs erwähnte Irritation hinsichtlich der Vereinnahmung des Zusammenseins durch die Psychologie wieder aufgreifen möchte. Es heißt hier explizit: „Damit wird Therapie letztlich nicht länger als eine spezifisch psychologische Tätigkeit angesehen. Es geht aus relationaler Sicht nicht um das ‚Seelenheil‘, sondern um relationale Transformation“ (S.336, Herv.i.O.). Von Bedeutung sei dabei vor allem „das Beziehungsgefüge, in das der Klient, bzw. die Klientin nach der Therapie zurückkehrt“ (ebd.). Das relationale Dasein (Leben als Beziehung) lässt sich auch aus den Perspektiven der Psychologie beschreiben, aber sicher nicht aus diesen allein. Letztlich scheint mir Gergens Sicht der Dinge eher nicht als „Psychologie“ des Zusammenseins gekennzeichnet zu sein, sondern eher als eine Transdisziplinäre Wissenschaft des Zusammenseins. Wenn nicht überhaupt umfassender: Vom Bezogensein als Lebensgrundlage. Das, so vermute ich allerdings, ergäbe dann im akademischen Wissenschaftsbetrieb (unter den geltenden Rahmenbedingungen) keinen Attraktor, der sich als ein Paradigmenwechsel erweist. Vielleicht dient unter diesem Vorzeichen der Psychologie-Fokus dem relationalen Anliegen ja doch mehr.
Im Prinzip ließe sich Gergens Ansatz auch unter dem Label „Systemtheorie des Zusammenseins“ beschreiben. Das allerdings setzte voraus, dass es nicht um ein Branding geht, nicht um das Abstecken von Claims. Dann ließen sich vielleicht auch deutlicher Querverbindungen zu dem ziehen, was mittlerweile als „Synergetik in der Psychologie“, bzw. als „Systemische Psychologie“ ausgearbeitet wurde (Haken, Schiepek, Strunk)[8]. Und auch der Ansatz der „Personzentrierten Systemtheorie“, wie ihn Jürgen Kriz zur Verfügung stellt[9], bietet viele Möglichkeiten, das Multidimensionale und Multiperspektivische relationalen Daseins angemessen zu würdigen. Inwieweit sich systemische Praxis als Motor für eine „Systemtheorie des Zusammenseins“ erweist, bleibt für mich noch offen. Die eher funktionalistisch erscheinenden Bestrebungen innerhalb der sog. Anerkennungsdebatte nähren meine Zweifel. Wir werden sehen.
Wegweiser
Noch ein Wort zum letzten Teile-Kapitel, in dem es um Moral und eine Version des Heiligen geht. Aus Gergens Sicht geht es darum, „nach einer Fundamentalethik für den Umgang miteinander“ zu streben, “aber ohne diese Ethik für absolut, wahr oder unhintergehbar zu halten“ (S.393). „Moral zweiter Ordnung“ ist der dafür verwendete Begriff. Sie sei „kein Hebel, um erneut eine Universalhierarchie einzuführen“, sondern gleiche „eher einer Einladung zur gemeinsamen Exploration“ (ebd.). Gergen skizziert im Folgenden einige Beispiele dafür, wie es möglich sein kann, relational verantwortlich zu handeln. Offensichtlich sieht Gergen hier auch einiges Potenzial in Praktiken des säkularen Buddhismus. Insgesamt erscheint mir Gergens „Einladung zur gemeinsamen Exploration“ fundamentalethischer Grundlagen und Praxis doch sehr voraussetzungslastig. Die Alltagstauglichkeit seiner Überlegungen müsste sich noch zeigen.
„Auf dem Weg zum Heiligen“ schließlich (S.401ff) kommt neben „spirituellem Bewusstsein“ (S.402) dann u.a. auch Systemtheorie zur Sprache, insbesondere mit Verweis auf Batesons Sicht auf Ökologie und auf das mit Mary Catherine Bateson gemeinsam verfasste Buch zu einer „Epistemologie des Heiligen“[10]. Die Hinweise auf eine dafür notwendige Praxis bleiben letztlich vage und müssten aus dem Konvolut der Anregungen dieses Buches noch einmal unter dieser Überschrift zusammengetragen werden. Im Prinzip erscheint das nicht unmöglich. Es lohnte die Anstrengung, doch dürfte sie nicht von dem Missverständnis motiviert sein, damit ließe sich das Paradies wiederherstellen. Es bleibt eine lebenslange Aufgabe, so oder so.
Dass Gergens Ansatz heute so aktuell ist wie am Anfang zeigt sich vielleicht an einem Phänomen, das zurzeit unter dem Label „Neue Einsamkeit“ beobachtet wird. Nils Minkmar greift das Thema dort auf, wo man es kaum vermuten würde: bei populistischen Bewegungen. Er sieht es als deren gemeinsames Merkmal an, dass ihre Anhänger oft einsam seien[11]. Ein negativer Aspekt des „postmodernen Individualismus“ sei „die zunehmende Vereinzelung, die Abnahme der Kompetenz, zu kooperieren und Kompromisse zu finden, sowie die Zunahme des Misstrauens“. Die Vernachlässigung des Relationalen findet sich nicht nur in individuell erlebten und sozial vermittelten Problemen, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Bedrohung wieder.
Ich halte es für sehr verdienstvoll, dass Thorsten Padberg diese Herkulesaufgabe gestemmt hat, ein in solcher Formenvielfalt erzählendes Buch zu übersetzen, seinem manchmal mäandernden Duktus gerecht zu werden und Gergens Vision einer relational aufmerksamen Welt wieder nach vorne gebracht zu haben. Es bleiben sicher Stolpersteine. Der radikale Fokus auf das Gemeinschaftliche und das Zurückweisen jeglicher Individualität hat aus meiner Sicht gerade hierzulande einen zeitgeschichtlichen Beigeschmack, den ich bei der Lektüre nicht völlig ausblenden konnte. Daran konnte auch Gergens immer wieder deutlich werdende menschenfreundliche Art und sein befreiendes Anliegen wenig ändern. Aber wie sagt Gergen so schön: „Mein Buch ist kein Marschbefehl, es ist eine Aufforderung zum Tanz“ (S.35). Wenn es statt einer Aufforderung eine Einladung wäre, noch besser…
Anmerkungen:
[1] Mary Gergen ist vor kurzem verstorben. Ein würdigender Nachruf von Thomas Friedrich-Hett und Klaus Deissler erschien im systemagazin: https://systemagazin.com/mary-m-gergen-12-12-1938-22-09-2020/
[2] Oxford University Press
[3] Allerdings finde ich es etwas befremdlich, dass hier von Gergens erstem deutschsprachigen Bestseller „Das übersättigte Selbst“ (1996, Carl-Auer) mehrfach als vom „durchsättigten Selbst“ die Rede ist. Das originale „saturated“ gibt beides her (wie auch das von mir bevorzugte „nicht mehr aufnahmefähig“), doch ist das Buch eben unter dem Label „übersättigt“ erschienen.
[4] Besprechung in systemagazin: https://systemagazin.com/die-psychologie-des-alltags/
[5] Bateson, G. (1983;2.). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp
[6] Sehr hilfreich zum Zurechtfinden in diesen Formaten finde ich Padbergs Fußnote 1 auf S.45
[7] Eine Querverbindung zur These von „Person als relationale Kategorie“ zeigt sich bei Brigitta Lökenhoff (2013). In ihrer Dissertation „Person als relationale Kategorie: eine beobachtertheoretische Studie zu sozialen Formen der Person und Beziehung“ (RWTH Aachen) heißt es u.a.: „Person ist Form der Kommunikation und damit Teil des operativen Kommunikationszusammenhangs Gesellschaft. Person wird als individuelle gesellschaftliche Adresse des operativ zur Umwelt der Gesellschaft gehörenden Bewusstseins als und durch Kommunikation hergestellt und reproduziert – im Gebrauch der Medien Sinn und Sprache“ (S.102) [online: http://publications.rwth-aachen.de/record/230454/files/4917.pdf ]. Verglichen mit Gergens essayistischer Herangehensweise bildet diese Arbeit allerdings trotz der Anmutung einer thematischen Nähe zu Gergens Überlegungen ein wissenschafts-textliches Gegenstück. Der Begriff Relation allein garantiert noch kein Beziehungs-easygoing.
[8] Haken, H. & G. Schiepek (2006) Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten. Göttingen: Hogrefe;
Strunk, G. & G. Schiepek (2006) Systemische Psychologie. Eine Einführung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. München: Elsevier Spektrum
[9] Kriz, J. (2017) Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[10] Bateson, G. & M.C. Bateson (1993) Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
[11] Minkmar, N. (2021) Am Ende ganz allein. Populistische Bewegungen haben eines gemein: Ihre Anhänger sind oft einsam. Süddeutsche Zeitung Nr. 168/21 vom 24./25.07.2021, S.15
Zum ausführlichen Inhaltsverzeichnis
Kenneth J. Gergen (2021): Die Psychologie des Zusammenseins (übersetzt und mit einem Vorwort von Thorsten Padberg). Tübingen (dgvt-Verlag)
444 S., kart.
ISBN 978-3-87159-113-6
Preis: 49,80 €
Verlagsinformation:
30 Jahre, in denen die Psychologie die Nähe zu den Neurowissenschaften gesucht hat, gehen zu Ende. Zeit für einen Neuanfang. Kenneth Gergen, der zu den einflussreichsten Psychologen der Welt zählt, macht für die Psychologie den ersten Schritt zu einer Wende. In Die Psychologie des Zusammenseins bricht er mit der individualistischen Tradition, in der das autonome Selbst als das grundlegende Atom des sozialen Lebens betrachtet wird und begibt sich im Dialog mit seinen Leser*innen auf die Suche nach Alternativen. Im Zentrum seines Denkens steht das relationale Dasein, in dem alle Aspekte menschlichen Lebens und Handelns immer erst aus Beziehungen heraus entstehen. Der individuelle Geist wird so zu einer Manifestation von Beziehungen – und das, was wir „Wissen“ nennen, geht nicht von einzelnen Verstandeswelten aus, sondern von Gemeinschaften, die miteinander verwoben sind und gemeinsame Perspektiven teilen. Die Psychologie des Zusammenseins legt so auf kluge, fundierte und unterhaltsame Weise ein neues soziales Fundament für die Wissenschaft von der Seele.
Über den Autor:
Kenneth J. Gergen ist Senior Research Professor für Psychologie am Swarthmore College, Pennsylvania, und Gründer des Taos Institute in Chagrin Falls, Ohio, einer Non-Profit-Organisation, die sich mit der Weiterentwicklung des Sozialen Konstruktionismus und seiner Anwendung auf die Praxis des sozialen Wandels beschäftigt. Seine Arbeit wurde weltweit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Liebe Kolleg:innen,
Danke für die ausführliche Darstellung. Da ich auf absehbare Zeit wegen anderer Aufgaben nicht zum Lesen komme, eine Nachfrage: Ich sehe in dieser Rezension (und auch in der älteren von Wolfgang Loth) viele Übereinstimmungen des Ansatzes von Kenneth Gergen mit zentralen Aussagen des Symbolischen Interaktionismus (Primat des Sozialen und der Interaktion) bei recht komplett abweichender Terminologie (siehe auch dessen Kurzdarstellung im Aufsatz von Rainer Keller: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-94080-9). Kann jemand adhoc etwas dazu sagen? Oder gibt es irgendwo schon einen systematischen Theorievergleich? Dann freut mich ein Literaturhinweis.
Mit freundlichem Gruß:
rudolf schmitt