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Narrative Praxis

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Im vergangenen Jahr ist ein umfangreiches, fast 500 Seiten starkes „Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen, das sich mit der Nutzbarmachung des Narrativen Ansatzes in diesen Handlungsfeldern theoretisch und praxisbezogen auseinandersetzt. Wolfgang Loth, dem systemagazin heute zum 72. Geburtstag gratuliert, hat sich in einer ebenfalls umfangreichen Rezension diesen Band vorgenommen und spricht folgende Empfehlung aus: „Insgesamt kann ich die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfehlen. Die hier versammelten Beiträge vermitteln eindrücklich und glaubwürdig, wie Narrative Praxis wohltuend wirken kann. Insbesondere die Beiträge, die sich Zeit und Raum dafür nahmen, diesem Geschehen konkret nachzuspüren, machen das deutlich. Aber auch die eher theoretisch gehaltenen Beiträge lassen überwiegend diesen Spirit erkennen. Ich wünsche diesem Buch, dass es aufmerksam gelesen wird und dass die Leserinnen und Leser es als ein reichhaltiges Vademecum nutzen können. Und dass sie die Ermutigungen, die dieses Buch mit auf den Weg gibt, in ihrer Wirksamkeit erfahren können. Mein Eindruck ist: Das trägt“.

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Das sagt sich so leicht: narrativ. Und der Gebrauch dieses Wortes nimmt seit einigen Jahren deutlich zu, wie das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (dwds) anzeigt.[1] Zu seiner Bedeutung heißt es da: »erzählend, von einem Erzähler nach bestimmten Regeln mündlich oder schriftlich vermittelt; etw. in erzählerischer Weise, in Form einer Geschichte darstellend, präsentierend«. Vermutlich bleibt davon erst einmal das Erzählen hängen, das Darbieten einer Geschichte. Doch dürfte es banal sein, das dann mit irgendeiner Form professioneller Praxis in Verbindung zu bringen. In jeder Praxis wird geredet, ob mit Worten oder schweigend. Das kann es also nicht sein. Daher halte ich in diesem Fall das eingeschobene »nach bestimmten Regeln« für maßgeblich. Erst sie sorgen dafür, dass der Begriff »Narrative Praxis« zu einem unterscheidbaren Handlungszusammenhang wird, zu einer spezifischen Form von Kommunikation. Davon handelt das hier vorgestellte Buch. Gleich wird davon genauer die Rede sein.

Vielleicht ist es noch interessant, der Entstehungsgeschichte des Wortes narrativ nachzuspüren. In der Regel bleibt es beim Verweis auf das lateinische narrare. Das bliebe mit »erzählen« übersetzt womöglich an der Oberfläche eines »aufzählenden« Vorgangs.[2]Spannender wird es nachzuvollziehen, dass narrare »von dem Adjektiv *gnāro- (lateinisch gnarus …) ›wissend‹ abgeleitet ist«,[3] was wieder eine Verbindung zu »ignorieren« andeutet, »abgeleitet von lateinisch: ignorare … = »nicht wissen«, »nicht wollen«; zu: ignarus … = unerfahren, unwissend«, was wiederum das Gegenteil aufscheinen lässt: »gnarus … = kundig; zu: noscere … = erkennen«.[4] Was als Futter für spleenige Sprachfreaks erscheinen könnte, führt, wie ich es sehe, mitten hinein in das Herz dessen, was Narrative Praxis ausmacht. Das Herzstück: Eine Praxis, in der die Beteiligten (alle der Beteiligten, Ratsuchende und Professionelle) erfahren wollen, wie sie sich mithilfe ihrer ihnen zur Verfügung stehenden Geschichten kundig machen über sich, über sich in der Welt, in der Beziehung zu sich und zu den anderen, wie sie sich vergewissern, dass sie sind. Und das ist erst einmal noch unbestimmt. Denn das bisherige »Wissen« dazu, kann sowohl einen optimistischen, sich etwas zutrauenden und handlungsfähigen Blick begründen, als auch das Gegenteil, in dem Niederlagen, Ungerechtigkeiten, Machtlosigkeit und ähnliche Erfahrungen dominieren. Hier könnte dann die Idee der »bestimmten Regeln« weiterhelfen (s. o.), die das Nachspüren, Aufsteigenlassen, Formulieren und Mitteilen von wohltuenderen Wendungen unterstützen. Ein Gespür kann entstehen für neue Mitwirklichkeiten, die mehr bedeuten als das Übernehmen von Zuschreibungen. Mitwirklichkeiten beinhalten das selbst-bewusste Teilhaben am Gestalten von lebensfreundlichen Kontexten.

Dieses Teilhaben kann kein einseitiger Vorgang sein. Das wohltuende Aufbauen und Erzählen von passenderen Lebensgeschichten sind angewiesen auf einen zutrauenden Kontext, in dem das validiert wird. Einen Kontext, in dem das Tastende des Variierens und Ausprobierens alternativer Geschichten ausgehalten wird, das Zweifeln daran, die Durststrecken, aber eben auch die Kraft eines neuen Durchstartens, möglicherweise. Und auch einen Kontext, in dem es nicht um ein Wolkenkuckucksheim von »alternative facts« geht, sondern um einen respektvollen Gebrauch von Kommunikation. Von all dem handelt – explizit oder auch implizit – das vorliegende Buch, das – als umfangreicher Reader – nicht nacherzählt werden kann, nicht erschöpfend (so oder so) aufgezählt, sondern nur angedeutet und in seinem Anregungsreichtum für die eigene Lektüre kenntlich gemacht. Das kann nur subjektiv und ausgewählt geschehen, und das Herausheben von Einzelnem möge nicht als Vernachlässigen von anderem verstanden werden.

Wie die Herausgebenden selbst zusammenfassen, beleuchtet das vorliegende Buch neben einigen grundlegenden Erörterungen zur Idee des Narrativen »methodische Prozesse narrativen Arbeitens, seine Kontexte und Settings, aber auch die Pluralität von Arbeitsweisen, die sich dem narrativen Verständnis verpflichtet fühlen« (S. 11). Damit ist der Rahmen gesteckt. Und dieser Rahmen verbindet sowohl eine Reihe von zentralen Bestimmungsstücken als auch eine Vielfalt von Verwirklichungsweisen in unterschiedlichen Zusammenhängen. 

In aller Kürze: Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, flankiert von einem Vorwort der Herausgebenden, sowie einem Brief von David Epston und am Ende einem warnenden Aufruf. Epstons Brief und Adichies Aufruf, nicht der Idee einer einzigen Geschichte zu erliegen, bilden für mich eine Klammer, die die Beiträge des vorliegenden Buches auf faszinierende Weise tragen. Sie sind Glanzstücke. Sie lassen den narrativen spirit so unmittelbar mitempfinden, wie es nur geht. Und in den (für mich) stärkeren Beiträgen dieses Readers findet sich das inhaltlich aufs Beste widergespiegelt.

Die fünf Kapitel des Readers umfassen unterschiedliche grundlegende Zugänge (zu »narrativen Landschaften«), dann narrative Praxis als methodischer Prozess, gefolgt von Kontexten und Settings, von Pluralität und Querverbindungen, sowie von der politischen Dimension narrativer Praxis. Die grundlegenden Zugänge enthalten hochkarätige Beiträge, die unter anderem die »Bedeutung nomadischer Theorie« diskutieren (Jan Olthoff und Peter Jakob im Dialog), die Gegenwartsabhängigkeit des Verstehens lebensgeschichtlicher Wendungen (Jürgen Straub: »Vom Leben erzählen«), das Unterscheiden von Erzählung und Erzählen und die damit gewonnene Perspektive auf das Kontextuelle des Erzählten (Tom Levold) oder die »Verkörperung und transgenerationale Bedeutung von Geschichten in Familien« (Arist von Schlippe). Andere Texte diskutieren Machtkritik, Familiengedächtnisse und Forschungszugänge. Den narrativen spirit habe ich besonders in von Schlippes Text gespürt, eine Begegnung in Polen, die Verschränkung von einschneidenden Familienerfahrungen aus gegensätzlichen Hintergründen (Vertreibung hier wie dort) und wie es möglich ist, diese Erfahrung nicht nur mitzuteilen, sondern zu teilen. 

Zu den methodischen Prozessen: »Was geschieht im Gespräch?«, fragt Jan Müller und lädt dazu ein, »Methoden als Beispiele zu verstehen, als Reiseberichte von hilfreichen Wegen, die man empfehlen kann«. Er bezeichnet die Geschichten als »Abstraktionen des Eigentlichen«, die »niemals absolute Repräsentationen dessen« sein können, was die Klient/innen erleben. Müller setzt die Methoden dann auch nicht mit der narrativen Praxis gleich, sondern versteht sie als »Manifestationen« dieser Praxis, »ein Abbild des Tuns in eine Struktur, die weder vollumfänglich noch perfekt präzise sein kann« (alle: S. 155). Methoden nicht als Werkzeuge, sondern als wirksames Unterwegssein.

Jan Olthoff unterstreicht das Nomadische an der »Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie«. Er beschreibt die Spielregeln dessen, sowie die aus seiner Sicht entstehenden Phasen. Anhand eines ausführlichen Beispiels illustriert er, was er am Ende als »Kern dieser Arbeit« benennt, »den Gesprächsverlauf emanzipatorisch zu strukturieren« (S. 182). Hier, wie auch im oben bereits erwähnten Gespräch mit Peter Jakob kommt es mir so vor, als ob Olthoff das nomadische Konzept offensiv vertritt, überzeugt, während Peter Jakob mir näher liegt in seiner, mir vorsichtiger, tastender erscheinenden Art, und für mich das Achtsame des narrativen Vorgehens deutlicher zum Vorschein kommen lässt als Olthoff.

Beeindruckend der Bericht von Dan Wulff et al. über das »Unmögliche-Fälle«Projekt. Es geht dabei um Hilfen für Fachleute, die nicht nur mit an sich schon schwierigen Themen zu tun haben, sondern durch strukturelle Rahmenbedingungen im Prinzip daran gehindert werden, ihre Aufgabe erfüllen zu können. Ein Satz, der mir nachwirkt: »Wenn wir uns (…) in die Unmöglichkeit vertiefen, können wir Gespräche führen, in denen nichts gelöst oder repariert werden muss, und wir befreien uns davon, uns selbst zu zensieren und einzuschränken« (S. 184). Wie sich an den Beispielen zeigt, ist das fern von Fatalismus und Resignation, sondern im Gegenteil der Boden für stärkende Erfahrungen.

In weiteren Beiträgen geht es um »Dekolonisierung epistemischer Wissensordnung gegenüber Kindern«, systemische Biografiearbeit, sowie Organisationsentwicklung und Coaching. Für mich herausragend dann wiederum Peter Robers Beitrag über »Nicht erzählte Geschichten in der Therapie«. Nicht erzählte Geschichten rahmt er als »nicht zu Geschichten verfertigte Erfahrungen« (S.244). Ausführliche Transkriptpassagen illustrieren die Zusammenarbeit mit der Klientin »Leni«, lassen nachvollziehen, wie »eine nicht erzählte Geschichte in Erscheinung tritt«. Lenis Entwicklung im Verlauf der Therapie zeigt, wie Vertrauen darin erwachsen kann, gemeinsam »die Sprache zu finden, damit sie über ihre bis dahin unausgesprochene Erfahrungen reden kann« (S. 252).

Die »Kontexte und Settings« beginnen mit Jim Wilsons Reflexion über seine »Goldfischgeschichte«, einen Text, den er 20 Jahre zuvor publiziert hatte. Es handelt sich dabei um das Thema »Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet«. Der Text wird im Reader noch einmal nachgedruckt. »Eine Geschichte«, so Wilson, »ist im Grunde niemals zu Ende. Sie ist ein Experiment, ein Komma in der Kommunikation und kein Schlusspunkt« (S. 259). Dazu passend: »Therapie ist im Kern eine Improvisation, die in unseren theoretischen Ideen und moralischen Wertvorstellungen eingebettet ist. Sie ist eher Handwerk als Wissenschaft« (S. 257).

Weitere Themen dieses Kapitels sind Paartherapie, Arbeit mit älteren Menschen, Aufsuchende Therapie, Arbeit in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen, sowie narrative Konzepte in psychiatrischen Einrichtungen. Zu letzterem konzipiert Gerhard Walter den stationären »Aufenthalt als Übergang«. Und schließlich diskutieren Heiko Kleve et al. narrative Ansätze in der Arbeit mit Familienunternehmen.

Im nachfolgenden Kapitel finden sich drei Beiträge, die die Pluralität der Quellen narrativ-therapeutischer Praxis aufzeigen. Rudi Dallos und Arlene Vetere schreiben hier über »Bindungsorientierte narrative Therapie«. Sie unterstreichen, dass Geschichten nicht nur das beinhalten, »was erzählt wird, sondern auch die Art des Erzählens« (S. 362). Geschichten nähren sich sowohl aus dem verbalen als auch aus dem nonverbalen Gedächtnis. Was bindungsorientierte narrative Therapie von anderen Therapiemodellen unterscheide, die auf der Bindungstheorie gründen, sei die »Erkenntnis, dass die Geschichte eines Menschen aufgrund des Nebeneinanders von bewussten Intentionen und Wahlmöglichkeiten einerseits und impliziten Repräsentationen andererseits einen potenziellen Konflikt in sich bergen« (S. 364). Dallos und Vetere arbeiten auf dieser Basis die Konsequenzen für die Praxis heraus. Ihr Beitrag korrespondiert zum nachfolgenden von Sabine Trautmann-Voigt, die narrative Praxis im Hinblick auf »körpersprachliche Kommunikation und Embodiment« ausleuchtet. Die Autorin gibt einen informativ-kompakten Überblick über den Forschungsstand zu nonverbaler Kommunikation. Sie stellt dar, wie die »Tiefenstruktur der Körpersprache (…) auf verkörperte Tiefenstrukturen von Narrativen« verweist (S. 388 ff.). Brigitte Boothe untersucht in ihrem Beitrag »Psychisches Leben und die narrative Selbstmitteilung« psychodynamische Aspekte. Unter anderem entwickelt sie »Vorschläge für eine erzählanalytische Praxis« und diskutiert die praktische Umsetzung am Beispiel.

Im Kapitel über die politische Dimension narrativer Praxis gibt es einen Bericht von Kaethe Weingarten et al. über ein von ihnen entwickeltes Programm, das »Hilfe für Helferinnen im Kontext der COVID-19-Pandemie« bietet. Im Kontext der »Black Lives Matter«-Bewegung schildert Afiya Mangum Mbilishaka ihren Ansatz, »ethnisch narrative Therapie in Frisierstuben und Schönheitssalons« anzubieten, ein spannender, im besten Sinne gemeinwesenorientierter Ansatz. Wenn Erzählen ein allgegenwärtiges Lebensphänomen ist, dann dürfte sich die Infrastruktur derjenigen Orte, an denen traditionell auch der niederschwellige Austausch stattfindet, bestens dafür geeignet sein, sie für spezifisch narrative Angebote zu nutzen. »Transgenerationale Effekte auf Familien nach Zwangsmigration« sind Thema eines transnationalen Forschungsprojekts der Hochschule Nordhausen und der Universität Krakau. Maria Borcsa, Mitherausgeberin des Readers, ist Ko-Leiterin des Projekts und Mitautorin des Beitrags, in dem die Erzählkultur einer deutschen Familie mit der einer polnischen Familie verglichen wird (Julia Hille et al.). Die Großmutter der polnischen Familie war nach dem 2. Weltkrieg in den Ort zwangsumsiedelt worden, aus dem die Großmutter in der deutschen Familie fliehen musste. Die Bedeutung der »kulturellen Deutungsmuster der dominanten Narrative« wird dabei erkennbar. Eine Gratwanderung deutet sich an: Individuell kann es entlasten, sich als Teil einer nationalen Erfahrung zu verstehen. Politisch kann es dagegen Fronten verhärten, wenn das individuelle Erleben von Stereotypen der kulturellen Deutungsmuster vereinnahmt wird. Das erweist sich als bedeutsam sowohl für die therapeutische Praxis als auch für das Gestalten von Politik.

Besonders wirkt mir der Beitrag von Peter Jakob und Sarah nach, die als Klientin mit Jakob ihre seit der Kindheit andauernde Geschichte als Opfer von sexuellem Missbrauch bearbeitet hat. Beide haben zusammen einen Weg »vom Opfernarrativ zur Widerstandsgeschichte« gefunden. Das Konzept des gewaltlosen Widerstands bildet den einen roten Faden, die Emanzipation von pathologisierenden Narrativen den anderen. Im weitesten Sinn erarbeiten Jakob und Sahra die subversive Kraft narrativer Therapie. Spannend an diesem Beitrag ist neben den detaillierten Verlaufsvignetten auch, dass Sahras Perspektive in deren eigenen Worten Raum erhält. Jakobs Resümee geht von der dezentralen Funktion narrativer Therapeut/innen aus: »Es geht (…) um einen methodisch nachvollziehbaren, klar umrissenen Zugang, der von der Notwendigkeit ausgeht, dass der Therapeut entpathologisierend und zugleich aktivierend handelt, um ein sozial-ökologisches Unterstützungsnetzwerk zu aktualisieren« (S. 463). Eine schöne und praktische Übersetzung dessen, was zu Anfang als der Einschub »nach bestimmten Regeln« unterstrichen wurde.

Bevor ich diesen Reader abschließend sehr zur Lektüre empfehle, möchte ich doch gerne noch etwas zu diesem neuen Branding des Nomadischen sagen. Der Begriff des Nomadischen wurde von Rosi Braidotti eingeführt. Mittlerweile forciert Braidotti den Begriff des Posthumanismus als ein Leitmotiv.[5] Olthoff und Jakob führen über das Nomadische ja zu Anfang dieses Readers einen erhellenden Dialog. Darüber und über Deleuzes geistesverwandte Begriffswahl des Rhizoms, des unterirdischen Wurzelgeflechts ohne einen hierarchisierenden Stamm. Auch in einigen anderen Beiträgen dieses Readers ist davon die Rede. Beiden Begriffen, dem Nomadischen und dem Rhizom, kann ich einen aufschlussreichen Belang für das Verständnis des Narrativen nicht absprechen. Beide Begriffe sprechen ja eine Vernetzungs- und Ausbreitungsdynamik an, die einer hierarchisierend einengenden, normativ vorschreibenden Anpassung an Konventionen oder Zwängen entgegenstehen. Insofern treffen sie einen Kern narrativer Praxis. Dennoch bin ich vorsichtig. Beide Begriffe können, wenn man den Kontext außer acht lässt, für den sie stehen, auch unangenehme Entwicklungen anzeigen. Eine positive Rahmung, die nomadisches Leben mit »einer nachhaltigen Nutzung knapper natürlicher Ressourcen« in Verbindung bringt, die »eine genaue Wahrnehmung und detaillierte Kenntnis der genutzten Ökosysteme« voraussetzt,[6] betont etwas völlig anderes als die Geschichtsnotiz, dass nomadische Steppengesellschaften unter Dschingis Khan für rabiate Eroberungszüge durch den gesamten Kontinent bis nach Europa bekannt wurden. Ökologisches Vorbild das eine, ein Schrecken das andere. Und rhizomatisches Wachstum von Erdbeeren ist eine Freude und ein Nutzen, solange sie auf ihrem Feld bleiben und nicht alles überwuchern, wenn sie nicht »kultiviert« werden, sondern einfach wachsen lässt. Was einerseits für das nicht zentral gesteuerte Gedeihen steht, kann auch für die Aufgabe stehen, Wildwuchs zu zügeln und ein »im Freien« womöglich camoufliertes Recht des Stärkeren zu begrenzen. Die zunehmende Erkenntnis, dass das Internet die ursprünglich verheißene Freiheit der Kommunikation mittlerweile auch pervertieren kann und ad absurdum führen, verdeutlicht meines Erachtens die Notwendigkeit, die Komplementarität jeglicher Idee-im-Kontext-ihrer-Folgen in den Blick zu nehmen. Während narrative Praxis ihrem Wesen nach eindeutig für die emanzipatorischen, befreienden Wirkungen des respektvollen Miteinanders steht, ist der Begriff alleine noch keine Garantie dafür. Kommunikation ist kostbar und sie ist gefährdet – und sie kann auch gefährdend genutzt werden. Wenn es um das feinfühlige Mitgehen beim Ersinnen wohltuenderer Lebenserzählungen und -deutungen geht, dann sollte die dabei notwendige Sensibilität auch den Worten gelten, mit denen ich meine Überlegungen bündele. Daher geht mir bei Peter Jakobs Worten in diesem Reader eher das Herz auf und bei Jan Olthoffs zupackendem Auftreten zögere ich eher. 

Insgesamt kann ich die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfehlen. Die hier versammelten Beiträge vermitteln eindrücklich und glaubwürdig, wie Narrative Praxis wohltuend wirken kann. Insbesondere die Beiträge, die sich Zeit und Raum dafür nahmen, diesem Geschehen konkret nachzuspüren, machen das deutlich. Aber auch die eher theoretisch gehaltenen Beiträge lassen überwiegend diesen Spirit erkennen. Ich wünsche diesem Buch, dass es aufmerksam gelesen wird und dass die Leserinnen und Leser es als ein reichhaltiges Vademecum nutzen können. Und dass sie die Ermutigungen, die dieses Buch mit auf den Weg gibt, in ihrer Wirksamkeit erfahren können. Mein Eindruck ist: Das trägt.

Anmerkungen:

[1] https://www.dwds.de/wb/narrativ 

[2] »aus dem Ursprung von zählen, althochdeutsch irzellen und mittelhochdeutsch erzel(le)n, auch 

›aufzählen‹« (https://de.wiktionary.org/wiki/erz%C3%A4hlen)

[3] https://de.wiktionary.org/wiki/narrare

[4] https://de.wiktionary.org/wiki/ignorieren

[5] Siehe https://rosibraidotti.com/publications/the-posthuman-2/

[6] So etwa in einer Pressemitteilung des Frankfurter Senckenberg-Museums: https://museumfrankfurt.senckenberg.de/de/pressemeldungen/nomaden-alte-lebensweise-und-postmoderner-lifestyle/

(mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 53(4), 2022, S. 442-447)

Peter Jakob, Maria Borcsa, Jan Olthoff & Arist von Schlippe (Hrsg.) (2022): Narrative Praxis. Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

495 Seiten mit 12 Abb. und 4 Tab., Hardcover
ISBN: 978-3-525-40793-6
Preis: 50,00 € (Bei Kauf auf der Verlagswebsite bis zum 31.12.2023 nur 32,50 €)

Verlagsinformation:

Was ist unter narrativer Therapie und weitergehend narrativer Praxis zu verstehen? Welche konzeptionellen und methodischen Weiter- und Neuentwicklungen hat sie in den letzten Jahren erfahren? Wie kann in verschiedensten Kontexten und Settings narrativ gearbeitet werden, welche Impulse für schulenübergreifendes, beraterisches und therapeutisches Tun ergeben sich daraus? Dieses umfassende Handbuch informiert fundiert und facettenreich über Begrifflichkeiten und theoretische Hintergründe, vor allem aber über die Praxis narrativen Vorgehens in psychosozialen und organisationsbezogenen Arbeitsfeldern. Aus der narrativen Therapie von White und Epston, der Philosophie von Deleuze und Braidotti und aus anderen Quellen gespeist steuern mehr als 45 Autorinnen und Autoren von nationalem und internationalem Rang eine große Bandbreite an neuen kreativen Arbeitsansätzen bei, untermauern narratives Verständnis mit theoretischen Grundlagentexten, präsentieren aktuelle Ergebnisse narrativer Forschung und geben sozialkritischen Perspektiven Raum. Dieses Handbuch eröffnet therapeutisch, beraterisch und wissenschaftlich Tätigen in Zeiten des ständigen gesellschaftspolitischen Wandels eine Vielfalt neuer Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Mit Beiträgen von: Chimamanda Ngozi Adichie, Brigitte Boothe, Maria Borcsa, Britta Boyd, Rudi Dallos, Dan Dulberger, Sol D’Urso, David Epston, Simon Forstmeier, Thomas Friedrich-Hett, Katarzyma Gdowska, Alma R. Galván-Durán, Deliana Garcia, Julia Hille, Peter Jakob, Milena Kansy, Mathias Klasen, Thomas Klatetzki, Heiko Kleve, Tobias Köllner, Tom Levold, Gabriele Lucius-Hoene, Elisabeth Christa Markert, Afiya Mangum Mbilishaka, Jan Müller, Michael Müller, Jan Olthof, Meinolf Peters, Peter Rober, Tom Rüsen, Carl Eduard Scheidt, Thomas Schollas, Jasmina Sermijn, Monica Sesma, Claudia Schiffmann, Heidrun Schulze, Sally St. George, Jürgen Straub, Arist von Schlippe, Sabine Trautmann-Voigt, Arlene Vetere, Gerhard Walter, Kaethe Weingarten, Dietmar J. Wetzel, Jim Wilson, Dan Wulff. Die Beiträge von David Epston, Jan Olthof und Peter Jakob, Dan Wulff et al., Peter Rober, Jim Wilson (Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet), Rudi Dallos und Arlene Vetere, Kaethe Weingarten et al. sowie Afiya Mangum Mbilishaka wurden von Astrid Hildenbrand aus dem Englischen übersetzt.

Über die Herausgeber:

Dr. Peter Jakob ist Leitender Klinischer Psychologe (Consultant Clinical Psychologist) und Klinischer Direktor des britischen systemischen Instituts “PartnershipProjects UK Ltd”, das Therapie, Beratung und Fortbildung mit Schwerpunkt Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand/neue Autorität und Trauma betreibt. Er ist staatlich registrierter klinischer Psychologe und Associate Fellow der British Psychological Society. Ursprünglich von der Sozialpädagogik herkommend, ist Dr. Peter Jakob systemischer Familientherapeut und Supervisor für klinische Psychologie und für systemische Psychotherapie. Er hat vor etwa zwanzig Jahren das Elterncoaching mit gewaltlosem Widerstand/neue Autorität in Großbritannien eingeführt, und hat kindfokussierte und traumatherapeutische Weiterentwicklungen dieses Ansatzes hervorgebracht, um den therapeutischen Bedürfnissen von mehrfachbelasteten Familien und von traumatisierten Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Jakob lebt heute in der Nähe von Brighton an der südenglischen Küste.

Prof. Dr. phil. Maria Borcsa, Dipl.-Psych., approbierte Psychologische Psychotherapeutin (VT), Paar- und Familientherapeutin, Supervisorin, ist Professorin für Klinische Psychologie an der Hochschule Nordhausen sowie als Dozentin im In- und Ausland tätig. Sie ist Begründerin des Masterstudienganges »Systemische Beratung« (Hochschule Nordhausen in Kooperation mit dem IF Weinheim) und Gründungs- und Vorstandsmitglied des Instituts für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung (ISRV). Lange Jahre war sie im Vorstand der Systemischen Gesellschaft und der European Family Therapy Association (EFTA) und von 2013–2016 Präsidentin der EFTA.

Jan Olthof, Psychotherapeut, ist Ausbilder und Supervisor des Niederländischen Vereins für Familientherapie.

Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe, ist Inhaber des Lehrstuhls »Führung und Dynamik von Familienunternehmen« am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Universität Witten/Herdecke und Lehrtherapeut für systemische Therapie, Coach und Supervisor (SG).

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Ein Kommentar

  1. Martin Bendig sagt:

    Hallo Herr Levold, danke für diese interessante Vorstellung. Ich fürchte zum angegebenen Preis (in Klammern) ist das Buch beim Verlag nicht mehr erhältlich. VG Martin Bendig

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