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Diagnose: Besonderheit

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S. Klar & L. Trinkl (Hrsg.) (2015): Diagnose Besonderheit

S. Klar & L. Trinkl (Hrsg.) (2015):
Diagnose Besonderheit

Unter dem Titel „Diagnose: Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm“ versammeln die Wiener Systemischen Therapeutinnen Sabine Klar und Lika Trinkl Beiträge zur therapeutischen Arbeit mit Klientensystemen, die gewissermaßen aus dem Rahmen psychotherapeutischer Standardversorgung herausfallen, weil sie aus dieser Perspektive nicht oder nur begrenzt therapierbar erscheinen, den Rahmen einer Normalpraxis nicht aus-, ein- oder durchhalten können, deren Therapie von den Kassen als aussichtslos oder nicht angebracht abgelehnt wird, deren Ressourcenlage bescheiden ist, die als Randgruppen ohnehin wenig sozialen Status haben etc. Das Buch ist gerade bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Andrea Brandl-Nebehay hat es für systemagazin gelesen und empfiehlt die Lektüre…

Andrea Brandl-Nebehay, Wien:

Es ist ein ganz besonderer Zugang zu Menschen, der dieses Buch über besondere Menschen so besonders macht. Wie kann eine professionelle Begegnung mit Personen aussehen, die aus der Norm herausfallen, die sich in eigenartigen, eingeschränkten Lebenslagen befinden? Wie kann mit Heimatlosen, Obdachlosen, Drogenabhängigen, Sehbehinderten oder GeriatriepatientInnen Psychotherapie möglich und sinnvoll sein? Welche Rahmenbedingungen, welche Haltung, welche Zugänge, welche unkonventionellen Methoden braucht es, um Menschen abseits wohleingerichteter Praxisräume  so zu begegnen, dass ein Stück mehr Selbstwirksamkeit, Selbstliebe, Beheimatung, Würde und Akzeptanz gelebt werden können?

Der Beitrag von Katja Salomonovic ist den Angehörigen der 2. und 3. Generation von Überlebenden der Shoa gewidmet, die Grauen, Hunger, Verfolgung und Vernichtung zwar nicht selbst erlebt, aber im Erzählten und Nicht-Erzählten ihrer Eltern und Großeltern aufgesogen haben. In der Fokussierung auf Ressourcen jenseits von Scham, Trauer und Schuldgefühlen kann Psychotherapie – mit und ohne Einbeziehung der Familie – dazu beitragen, zu einer von der Last befreiten Identität zu finden und Distanz zu den über Generationen weitergegebenen Traumata zu erlangen.

Zeliha Özlü-Erkilic, selbst in Istanbul geboren, befasst sich unter dem Titel „Entfremdungen“ mit den Herausforderungen der Begleitung von türkischsprachigen MigrantInnen. Sie arbeitet die Unterschiede zwischen den individualistisch geprägten mitteleuropäischen und den kollektivistischen Denk- und Verhaltensweisen in der türkischen Community heraus, die zu erheblichen Unterschieden im Verständnis von Gesundheit und Krankheit führen. Sprach- und kultursensible Beratung zeichnet sich aus durch besondere Achtsamkeit auf Mimik, Gestik, Körperhaltung und Intonation der KlientInnen und ein Respektieren von deren (familiären) Werten – auch wenn sie den eigenen Vorstellungen von Individualität und Autonomie zuwider laufen.

Queere Lebensformen stehen im Beitrag „Regenbogenfamilien – gleich und doch anders“ von Guido Ebi und Leo Walkner zu Diskussion. Schwerpunkt ist hier die Beratung in Fragen von Kinderwunsch, gleichgeschlechtlicher Elternschaft und reproduktionsmedizinische Unterstützung. Abschließend werden die Bedürfnisse von Kindern beschrieben, die in LGBTI-Lebensformen aufwachsen, und Aspekte der Identitätsfindung beleuchtet.

„Herr H. (79 Jahre, Diagnose Parkinson mit demenziellen Ausprägungen) wollte frisiert werden…Ich ermutigte ihn, den Kamm selbst zu suchen, ihn zum Pflegepersonal mitzunehmen und unterstützte ihn dabei, seinen Wunsch und dessen Dringlichkeit mit dem erforderlichen Feingefühl zu formulieren“ (S. 63). So beschreibt Katerina Albrechtowitz ihr Verständnis psychotherapeutischer Unterstützung von alten Menschen im Pflegeheim. Die Sehnsucht nach Würde und Zuwendung ist ebenso Thema ihrer Gespräche wie Widerstand, Aussöhnung mit dem Unveränderbaren und Autonomie.

Am anderen Ende des Lebenszyklus ist der Beitrag „Systemische Therapie mit Kleinkindern“ von Lika Trinkl und Ferdinand Wolf angesiedelt. Im Kontakt mit kleinen Kindern geht es darum, sich offen zu halten für außersprachliche Kommunikation, zu Bewegung anzuregen, dem Interesse des Kindes zu folgen, eher zu ermutigen statt zu loben. In der Arbeit mit den Eltern bewährt sich eine Haltung „balancierter Parteilichkeit“, wobei die Aufmerksamkeit der TherapeutIn zwischen Kind und Eltern oszilliert.

Blinde und in ihrem Sehen beeinträchtigte Personen leiden häufig nicht (nur) unter der eingeschränkten oder fehlenden Sehfunktion, sondern auch unter Diskriminierung und Ausschluss aus einer Gesellschaft, die weitgehend über Bilder und Symbole kommuniziert. Regina Klambauer verweist in ihrem Artikel „Ich sehe was, was du nicht siehst…“ auf die potenzierte Benachteiligung von betroffenen Frauen: Benachteiligung als Frauen und als sehbehinderte Frauen, die ungünstigere Bedingungen hinsichtlich Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Einkommen vorfinden als sehbehinderte Männer. Daher kann Psychotherapie mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen nur im Kontext eines gesellschaftlichen Diskurses stattfinden, der Hindernisse in den eigenen Annahmen der Person über sich selbst, aber auch gesellschaftliche Barrieren thematisiert.

Von der Arbeit mit sogenannten einfach strukturierten Menschen, die in Wohnungen oder Wohngemeinschaften betreut werden, berichtet Johannes Schneller. Ein eindrucksvolles Fallbeispiel illustriert das ständige Ringen um Auftragsklärung und das flexible Vorgehen zwischen Anleitung, Beratung, Krisen- und Behördenintervention einerseits, und punktuellen therapeutischen Anstößen andererseits, wodurch diese Tätigkeit so komplex und anspruchsvoll wird.

Ähnlich komplex zeigt sich die Arbeit mit arbeitsuchenden Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden. Ulrike Wögerer beschreibt die Widerstände im Außen (Behörden, Krankenkassen, Familie) und im Inneren (Selbstwertproblematik, hohe Verletzlichkeit) von betroffenen Menschen. PsychotherapeutInnen stehen in diesem Arbeitsfeld vor der besonderen Herausforderung, einen Pfad zwischen den Interessen der Auftraggeber (Training, Kontrolle) und den individuellen Bedürfnissen der Zielgruppe zu finden.

„It´s a jungle out there…“ singt Randy Newman, und Lika Trinkl besingt den Dschungel der psychotherapeutischen Arbeit mit obdachlosen Menschen in zwei Tagesstätten für wohnungslose Menschen. Voraussetzung ist die Verabschiedung von gängigen Vorstellungen über „ordentliche“ Psychotherapie. Terminvereinbarungen sind kaum möglich, Zeitvorstellungen verschoben, existenzielle Bedürfnisse haben Vorrang. „In dieser Situation bleibt nur, ohne konkrete Absicht auf die Menschen zuzugehen und offen für das zu sein, was sie mir erzählen wollen. So können Dialoge entstehen.“ (S.134)

Systemischer Therapie mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist der Beitrag von Emily Bono gewidmet, die den Umgang mit schwer traumatisierten Menschen in anhaltend unsicheren Lebenssituationen darstellt. „Sichergehen – wohin?“ beschreibt das weite Spektrum der (psychosomatischen) Leiden der betroffenen Flüchtlinge und wirft die Frage auf, mit welcher Haltung TherapeutInnen diesen Menschen mit Extremerfahrungen begegnen können, damit sie selbst handlungsfähig bleiben.

Niederschwellige Psychotherapie für mehrfach belastete Menschen im Kontext der ambulanten Drogenhilfe  ist der Arbeitsbereich von Marion Herbert und Christian Reininger. Menschen mit hochgradiger Suchtmittelabhängigkeit, psychiatrisch definierter Problematik und komplexen Traumaerfahrungen, die zumeist in besonders prekärer sozialer Lage leben – was kann da „Psycho-Blaba“ bewirken? Schlüsselbegriffe sind hier offene Beziehungsangebote, Flexibilität in der Gestaltung von Raum und Setting, inhaltliche Flexibilität (z.B. auch Gespräche mit nicht nüchtern zum Gespräch erscheinenden KlientInnen zu führen) und aktive Selbstfürsorge der TherapeutInnen (zum Aushalten von Rückfällen, Stagnation und Scheitern).

„Kommt  der Prophet nicht zum Berg, kommt der Berg zum Propheten.“ Kommt der Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht zur Psychotherapie, kommt die Streetworkerin in den Park, wo er Fußball spielt. Als „mobile“ Psychotherapie beschreibt Karoline Schober ihr Unterfangen, auf unkonventionelle Art Zugang zu Menschen zu finden, die aus eigenem Antrieb niemals in einer psychotherapeutischen Praxis landen würden, thematisiert aber auch die fachlichen, rechtlichen und ethischen Probleme, die dieser Grenzgang mit sich bringt.

Die Erfolgsgeschichte des Psychotherapieprojekts TIRAM beschreibt Andrea Schmidbauer. „Mit dem Mut der Verzweiflung und der Begeisterung von Pionierinnen“ wurde diese Initiative vor 12 Jahren begründet und als Win-Win-Situation konzipiert: Studierende in Psychotherapieausbildung (die unzählige unter Supervision geleistete Therapiestunden nachweisen müssen) bieten sehr kostengünstig Psychotherapie für ökonomisch benachteiligte Personen an.

„Zugang zu Menschen finden und Eigenarten in den Blick bekommen“ ist die Überschrift zum letzten, von Sabine Klar verfassten Kapitel, das den theoretischen Unterbau und die Klammer über all diese Diversity-Beiträge liefert. Verbindend ist die systemische Orientierung aller AutorInnen, die offene, vorurteilsfreie Neugierhaltung, die Bereitschaft, sich auf ungewöhnliche Settings und „therapieunwillige“ Menschen einzulassen; es geht um Passung statt Anpassung, um Expansion statt Integration. Das therapeutische Gespräch als „Ort der Beheimatung“ zu verstehen, schlägt „eine Bresche für die Würde der Freiheit und Eigenart bzw. Besonderheit des menschlichen Individuums in dieser allzu eiligen und gierigen Welt“ (S. 228)

Zielgruppe dieses besonderen Buches sind PsychotherapeutInnen und andere im psychosozialen Feld tätige Menschen, die an der Arbeit mit Menschen am Rande oder jenseits der Norm interessiert sind und Freude daran haben, sich selbst, ihre Arbeitsweise und Wertvorstellungen in Frage zu stellen. Die LeserInnen werden eine Menge an Fallbeschreibungen, Anregungen und Hinweise auf Fallen und Stolpersteine vorfinden und ein (noch) besseres Verständnis für Menschen in schrägen Lebenslagen entwickeln. Und eine Menge über österreichische Institutionen und deren Eigenarten lernen.

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Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

info

 

 

Sabine Klar, Lika Trinkl (Hrsg.) (2015): Diagnose: Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm. Mit einem Vorwort von Tom Levold. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

234 Seiten Paperback
ISBN 978-3-525-40465-2
Preis: 29,99 €

Verlagsinformation:

Was sind die Vorstellungen davon, wie Menschen zu funktionieren haben? Was ist zu tun, wenn sich diese Vorstellungen nicht umsetzen lassen? Und welche Rolle spielt Psychotherapie dabei? Diese Fragen führten eine Gruppe von systemischen Psychotherapeuten zusammen und veranlassten sie dazu, aus ihrer Arbeitspraxis zu berichten. Psychotherapeutische Begegnungen mit Asylsuchenden, Obdachlosen, Drogenabhängigen, Arbeitslosen, kleinen Kindern und alten Menschen erfordern mitunter mutige Abweichungen von beruflichen Grundsätzen. Manchmal gilt es, Normen und Werte in Frage zu stellen, um therapeutisch auf die Be- oder Ausgrenzungen von Klienten eingehen zu können. Womit sowohl Klienten als auch Therapeuten konfrontiert sind, wenn sie sich an die Ränder gesellschaftlicher Normen begeben, machen diese Beiträge sichtbar. Neue Regelungen und Kontexte müssen gefunden werden, um den Menschen, die sich nicht einordnen lassen, respektvoll und hilfreich gegenüberzutreten. Anpassungsleistungen können hingegen nicht das Ziel von Therapien sein.
Die versammelten Berichte aus der Praxis bieten eine Zusammenstellung von Zugängen und Umgangsmöglichkeiten an, die nicht einordnend angelegt ist. Der Titel »Diagnose: Besonderheit« meint somit auch, dass ganz bewusst darauf verzichtet wurde, diagnostische oder gruppenspezifische Klassifizierungen vorzunehmen, denn der rote Faden ist die Diversität.
Der Band enthält Beiträge von Katerina Albrechtowitz, Emily Bono, Guido Ebi, Marion Herbert, Regina Klambauer, Sabine Klar, Tom Levold, Zeliha Özlü-Erkilic, Christian Reininger, Katja Salomonovic, Andrea Schmidbauer, Johannes Schneller, Karoline Schober, Lika Trinkl, Leo E. Walkner, Ulrike Wögerer und Ferdinand Wolf.

Vorwort von Tom Levold:

Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ist die Psychotherapie als „normales“ Klärungs- und Konsultationsformat weitgehend in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wie die Soziologin Eva Illouz  in ihrem Werk „Die Errettung der modernen Seele“ eindrucksvoll zeigt, ist der „therapeutische Diskurs“ zu einem Kernbestandteil der Selbstbeschreibung unserer spätmodernen Gesellschaft geworden. Man kann diese Entwicklung wie Illouz durchaus kritisch betrachten, weil psychotherapeutische Reflexivität nicht nur zur Linderung individuellen Leides und zur Auflösung von Entwicklungsblockaden beiträgt, sondern auch u.U. „Endlosschleifen unbefriedigter Bedürfnisse“ in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten vermag.

Die Normalisierung von Psychotherapie hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass – zumindest in den Großstädten – kaum mehr jemand ernsthaft stigmatisiert wird, der eine Therapie für sich in Anspruch nimmt (auch wenn Vorbehalte und Vorurteile in bestimmten ländlichen Regionen nach wie vor zu beobachten sind).

Mit dieser Normalisierung – und der damit verbundenen Professionalisierung von Psychotherapie – geht aber gleichzeitig auch eine Standardisierung der therapeutischen Vorgehensweisen, eine zunehmende berufsrechtliche Verregelung sowie die ökonomische Regulierung therapeutischer Praxis einher.

Mit der Etablierung von Psychotherapie als „Normalformat“ psychosozialer Hilfe wird also auch festgelegt, welche Berufsgruppen sich überhaupt zu Psychotherapie ausbilden lassen  und welche Methoden und Vorgehensweisen eingesetzt werden dürfen, welche Leistungen bezahlt oder erstattet werden, welche „Krankheiten“ oder Störungen „mit Krankheitswert“ überhaupt behandelt werden dürfen und unter welchen Bedingungen Klienten als therapiebedürftig (und -fähig) gelten können.

Das Standardsetting einer psychotherapeutischen Praxis, die unter solchen Bedingungen für die Praxisinhaber ökonomisch tragfähig ist, ist daher auf die Arbeit mit einsichtsfähigen und -bereiten Einzelklienten in angenehm ausgestatteten und temperierten Therapieräumen ausgerichtet, die abseits von den alltäglichen Kampfschauplätzen des sozialen Lebens erlauben, problematische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster zu reflektieren und Möglichkeiten ihrer Überwindung zu finden.

Von diesem Standardsetting handelt dieses Buch jedoch nicht. Die Herausgeberinnen Sabine Klar und Lika Trinkl, Systemische Therapeutinnen aus Wien, interessieren sich vielmehr dafür, wie man auch an den Rändern oder gar jenseits dessen, was psychotherapeutische „Norm“ ist, therapeutisch wirksam sein kann. Zu diesem Zweck haben sie eine Reihe von systemisch arbeitenden Therapeutinnen und Therapeuten eingeladen, über ihre Arbeit mit Klientensystemen zu berichten, die gewissermaßen aus dem Rahmen psychotherapeutischer Standardversorgung herausfallen, die aus dieser Perspektive nicht oder nur begrenzt therapierbar erscheinen, den Rahmen einer Normalpraxis nicht aus-, ein- oder durchhalten können, deren Therapie von den Kassen als aussichtslos oder nicht angebracht abgelehnt wird, deren Ressourcenlage bescheiden ist, die als Randgruppen ohnehin wenig sozialen Status haben – der Gründe lassen sich viele finden.

Auch wenn die vorgestellten Fälle in Hinblick auf die Themen und Prozesse sehr unterschiedlich sind, fällt doch bei den meisten Beiträgen sofort auf, dass wir es hier mit leiderzeugenden Problemen zu tun haben, die mit einer klassischen Individualdiagnostik nur gänzlich unzureichend erfasst werden. Vielmehr verweisen sie unmittelbar auf den Lebenszusammenhang, in dem sie entstehen, auf die Kontexte von politischen und sozialen Traumata, auf Migration, Diskriminierung, Exklusion, Stigmatisierung, denen diese Menschen ausgesetzt sind und die ohnehin vorhandene Probleme wie körperliche und seelische Beeinträchtigungen nur noch verstärken.

Die gemeinsame Klammer aller Beiträge ist die systemische Perspektive, die es erlaubt, die sozialen und politischen Kontexte von Wahrnehmen, Fühlen und Verhalten konsequent in den Blick zu nehmen, anstatt die Schwierigkeiten der Klienten individualdiagnostisch zu entkontextualisieren. Neben der Kontextorientierung gehört auch die methodische Vielfalt und Kreativität sowie die Orientierung an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen der Klientensysteme zu den großen Stärken des Systemischen Ansatzes, die hier auf eindrucksvolle Weise demonstriert werden.

Hier geht es nicht um Therapie „lege artis“, weil die Regeln für  das, was hilft, erst im Einzelfall und im Dialog mit den Klienten entwickelt werden müssen. Manuale helfen hier nicht! Zielbestimmung und Auftragsklärung, die im systemischen Ansatz von so großer Bedeutung sind, sind hier durchaus nicht immer leicht zu erreichen, manchmal verhindern sie womöglich die Entwicklung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung. Viel wichtiger, so zeigt sich hier, ist die Frage, wie man einen guten Zugang zu den Menschen bekommt, ihre Autonomie respektiert und fördert, sie dabei ermutigt und unterstützt, ihre eigenen Wege zu gehen und im Rahmen dessen, was im jeweiligen Kontext realistisch erscheint, Verbesserungen der konkreten Lebenspraxis zu explorieren.

Dieses Buch soll ermutigen, die Anwendung psychotherapeutischen Handwerkzeuges nicht auf die Praxisräume von Therapeuten und die Indikationen der Diagnostiksysteme zu beschränken, sondern Professionelle zu ermutigen, sich auch mit Themen und Klientensystemen zu befassen, die aus dem Rahmen des psychotherapeutischen Mainstreams herausfallen. Damit schließt es an große Traditionen einer sozialen Fundierung psychotherapeutischer Praxis an. Die einzelnen Beiträge tragen dem Rechnung, indem sie jeweils ausführliche Fallbeispiele und Informationen über die sozialen Hintergründe der jeweiligen Themen und Problembereiche auf lehrreiche Weise verbinden.

Wenn dieses Buch hilft, dem Stigma „nicht therapiefähig“ entgegegenzuwirken, das Menschen aufgedrückt wird, die aufgrund ihrer Lebenslage und -geschichte mit einem klassischen Therapiesetting nicht erreicht werden können, ist bereits viel erreicht. Ich wünsche diesem Band, dass sich viele Leserinnen und Leser von ihm in ihrer eigenen Praxis inspirieren lassen und mutiger werden, die „Ränder der Norm“, die ja immer auch die eigenen sind, zu überschreiten.

Tom Levold, Köln

 

Über die Herausgeberinnen

Dr. Sabine Klar, Verhaltensforscherin (Zoologie, Humanethologie), Religionspädagogin, Psychotherapeutin (systemische Therapie), Supervisorin, Lehrtherapeutin (ÖAS); tätig am IPF (Institut für Paar- und Familientherapie) und am IAM (Institut für angewandte Menschenkunde), das sie gemeinsam mit dem Philosophen F. Reithmayr gegründet hat. Sie engagiert sich im Projekt TIRAM – Therapeut_inneninitiative für Randgruppen und andere Menschen.

Lika Trinkl, systemische Psychotherapeutin, ist in freier Praxis und in zwei Tageseinrichtungen für obdachlose Menschen in Wien tätig. Sie bietet Gruppenselbsterfahrungsseminare durch kreatives Schreiben und eine Schreibgruppe zur Persönlichkeitsentwicklung in der w@lz (Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht) in Wien an. Sie verfügt über psychosoziale Arbeitserfahrungen mit beeinträchtigten Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie langzeitarbeitslosen Menschen.

2 Kommentare

  1. Dörte Foertsch sagt:

    Lieber Tom, vielen Dank für diesen besonderen Buchhinweis, die Ideen des Umgangs mit besonderen Menschen sind bestimmt eine gute Ermutigung für Systemische Therapeuten aber auch für Supervisoren,
    ich werde es mir besorgen, liebe Grüße

    • Sabine Klar sagt:

      Liebe Dörte Foertsch,

      falls Sie das Buch inzwischen gelesen haben, würde mich interessieren, wie es Ihnen gefallen hat. Und ob Sie es weiterempfehlen würden (z.B. in diversen Aus- und Weiterbildungen)

      Alles Liebe
      Sabine Klar

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