Schlaflos mit Kleopatra? Wieder einmal ein Erfahrungsbericht eines psychiatrieerfahrenen Menschen? Das waren auch Gedanken, die Sibylle Prins bei ihrer Lektüre dieses Buches aus dem Paranus-Verlages durch den Kopf gingen: „,Oh nein‘, dachte ich beim allerersten Anlesen dieses Buches, ,nicht schon wieder ein Erfahrungsbericht eines Psychotikers, der fünftausenddreihundertachtundvierzigste, den ich (gefühlt) lese – ich kann das nicht mehr, das kenne ich schon in allen Varianten, muss das sein?‘ Doch schon bald merkte ich, dass ich im Irrtum war. Diese Kapitel und Beschreibungen eines ersten psychotischen Schubes eines jungen Mannes, der mit veränderter Wahrnehmung und veränderten Gedanken in einem gemeinsamen Urlaub mit der Freundin beginnt, sind mitnichten einfach nur ,aufgeschrieben‘. Das ist alles fein säuberlich durchkomponiert, die Reflexionen, die in einer sehr lesbaren, klaren und einfach erscheinenden Sprache daherkommen, sind gründlich durchgearbeitet. Es ist zwar geschrieben aus der Perspektive des sehr jungen Mannes, aber dahinter steckt doch ein schon gereifterer Mensch.“ Das sieht auch Andreas Manteufel so, dessen Rezension dieses Buches hier zu lesen ist. Der Mann, von dem die Rede ist, heißt Selajdin Gashi, ist 1962 in Nikushtak, Mazedonien, geboren worden und aufgewachsen in Dardanien (heutiges Kosovo). 1984 kam er nach Köln und studierte dort Germanistik, Philosophie und Anglistik. 1989 machte er erste Psychose- und Psychiatrieerfahrungen. Heute ist er als Übersetzer und Dolmetscher – auch für Gerichte und andere Institutionen – tätig.
Andreas Manteufel, Bonn:
Dass ein Buch besonders gut ist, merkt man daran, dass man es kaum noch aus der Hand legen will, hat man einmal mit der Lektüre begonnen. „Schlaflos mit Kleopatra“ erzeugt diese Neugierde, die von der ersten Seite an zum Weiterlesen zwingt. Es geht in dieser Erzählung um einen jungen Mann, dessen Denken und Wahrnehmen, und damit natürlich auch seine Beziehung, sich verändern. Während eines Sommerurlaubs mit seiner Freundin am Strand verdichten sich diese Erfahrungen, die er zwar an sich selbst registriert, für die er aber keine Worte, kein Konzept, keine Lösung findet. „Gerade das Nichtverstehen der eigenen, verzwickten Lage ist der Gräuel eines Psychotikers“, wird er später zu Protokoll geben. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub eskaliert seine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, was zu einem Psychiatrieaufenthalt, einer Diagnose und einer medikamentösen Behandlung führt. Dieses starke Stück Literatur reiht sich im Paranusverlag in die Rubrik „Erfahrungen“ ein, denn der Autor schreibt über seine eigenen Erlebnisse. In der psychotischen Entgleisung spiegeln sich als Kontexte so typische Themen wie Erwachsenwerden, Loslösung von der Familie, Migration und Selbstfindung.
Als Psychiatriemitarbeiter war ich besonders gespannt über die Beschreibung des Klinikaufenthalts, der laut Umschlaginformation in das Jahr 1989 datiert werden muss. Es ist die Rede von freundlichem pflegerischen und ärztlichen Personal, aber einer Atmosphäre knappster Gesprächszeiten mit Patienten. Das gilt für die eilige Chefarztvisite („Der Chefarzt verlässt mit seinem Gefolge und wehendem Kittel das Zimmer“) genauso wie für das „Arztgespräch mit Dr. M.“, über das der Autor reflektiert: „Ich habe zu wenig über das, was ich habe, erfahren. Gerne hätte ich einen Fachmann als Zuhörer, der Zeit hat und nicht gleich nach drei Minuten auf die Uhr schaut. Wobei ich trotzdem glaube, dass Dr. M. ein guter Arzt ist. Nicht überheblich und kein Ignorant“. Die Hauptrollen auf der Station spielen aber nicht Ärzte, Psychologen oder sonstiges Personal, sondern die Mitpatienten. Sie nehmen sich des „Neuen“ an, erklären ihm die Verhaltenskodizes einer geschlossenen Station und sprechen offen über den Sinn von Psychosen. Solche Dialoge, manchmal auch Monologe, werden ausführlich beschrieben, denn sie scheinen den Autor damals deutlich intensiver beeindruckt und beeinflusst zu haben, als die Gesprächsfragmente mit den „Fachleuten“.
In seiner souveränen Art muss der Literat Gashi weder spektakuläre Psychiatriestories, noch wütende Kritik am psychiatrischen Behandlungswesen auftischen, um Spannung, Nachdenklichkeit und manchmal auch Rührung zu erzeugen. Als Psychiatriepatient erleben ihn die Leserinnen und Leser überwiegend in einer fein beobachtenden und beschreibenden Rolle. Vielleicht ist das nicht nur seiner Intention als Schriftsteller geschuldet, sondern hat ihm diese Zurückhaltung damals auch dabei geholfen, einen längeren Aufenthalt in der Klinik zu vermeiden und seinen Mitpatienten bald wieder die Hand zum Abschied reichen zu können.
Der kurze, aber seismographisch präzise Einblick in eine psychiatrische Akutstation ist so aktuell wie er nur sein kann. Realistischer kann man die Sehnsüchte und Blockierungen in der Therapeut-Patient (oder wegen mir „Professioneller-Erfahrener“)-Kommunikation nicht in Worte fassen.
Es ist wohl die Kombination von literarischer Begabung auf der einen und Selbsterfahrung in Bezug auf das Thema auf der anderen Seite, die dieses Buch so besonders macht. „Schlaflos mit Kleopatra“ zu lesen kostet nur ein Wochenende. Ich empfehle das wärmstens.
Selajdin Gashi: Schlaflos mit Kleopatra. Mein erster psychotischer Schub und was danach geschah
Paranus Verlag, Neumünster 2015
176 Seiten, kart.
Preis 14,95 EUR
ISBN: 978-3-940636-34-8
Verlagsinformation:
„Ich sitze im Café. Die Frau kommt geradewegs auf mich zu, setzt sich neben mich an den Tisch und sagt: „Du siehst gut aus!“
Sie ist charmant – und direkt. Sie lässt mich vergessen, wie es mir in den letzten zwei Tagen ging.
Zielstrebig steuert sie unser Gespräch. Es gefällt mir, mal von einer Frau geführt zu werden.
„Wie heißt du?“, fragt sie.
Ich sage: „Wilson“, und zwinkere.
„Wilson gefällt mir. Obwohl, wenn ich ehrlich bin, lieber hätte ich, wenn du Keops heißen würdest.“
„Okay“, sage ich, „vorausgesetzt, du heißt von nun an Kleopatra.“
„Gerne. Ich hoffe nur, dass ich diesem Namen gerecht werden kann.“
***
Diese bestechend-einfühlsame Erzählung des albanisch-stämmigen Schriftstellers Selajdin Gashi beschreibt in selten zu lesender Präzision, wie es sich anfühlt, in eine „psychische Parallelwelt“ abzugleiten. Während eines Mittelmeer-Urlaubs stellen sich schlaflose Nächte und wirre Gedanken ein, die Erlebnisse am Meer sind schillernd und bedrohlich zugleich, Erinnerungen an die eigene Kindheit werden lebendig, Paradies und Abgrund liegen nah beieinander.
Die anschließenden Erfahrungen in der deutschen Psychiatrie werfen wiederum die Frage auf: Was ist eigentlich normal?
Über den Autor:
Selajdin Gashi, 1962 in Nikushtak, Mazedonien, geboren, aufgewachsen in Dardanien (heutiges Kosovo). 1984 Umzug nach Köln, dort Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik. Heute als Übersetzer und Dolmetscher – auch für Gerichte und andere Institutionen – tätig. 1989 erste Psychose- und Psychiatrieerfahrung.