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systemagazin Adventskalender: Fremdes wird vertraut – Vertrautes fremd

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Cornelia Tsirigotis, Aachen: Fremdes wird vertraut – Vertrautes fremd

„Fremd“ ist kein Begriff, den ich im Deutschen häufig benutze. „Anders“, „merkwürdig“ , „interessant“, ggf. „komisch“ entsprechen eher meinem Sprachgebrauch. Meine bewusste Begegnung mit andersartigen Gewohnheiten, Gebräuchen und Gerüchen begann, als ich fünf Jahre alt war. Mein ältester Bruder war schon 16 und hatte einen Schüleraustausch mit einem Gymnasium in Athen. Spiros kam also vier Wochen zu uns und brachte einen Hauch von Anderssein in unser doch immer noch von Nachkriegszeit geprägtes Haus. Der Geruch von in Olivenöl gebratenen Spiegeleiern war damals ganz merkwürdig, heute ist er vertraut. Auch die Art und Weise, wie Spiros mich veräppelt hat, war sehr merkwürdig, fast bedrohlich, heute auch eher eine vertraute Art, wie Menschen aus anderen kulturellen Kontexten mit kleinen Kindern umgehen und sie animieren. Mein Bruder war ja schon in Athen gewesen und konnte Lebensweisen und Unterschiede gut beschreiben und erklären.

Mit sechs spazierte ich in den Sommerferien über einen kleinen südfranzösischen Campingplatz, er war weniger von Touristen als von französischen Urlaubern belegt. Neugierig interessiert nahm ich andere Gewohnheiten und Gebräuche wahr, spielte ohne viele Worte mit den Kindern. War ich verwundert, wurde mir erklärt: „ja, sie machen es so“. Ich ließ mir Wörter und Sätze sagen, lerne, mit Stehklos umzugehen, all so was, mich kleinen Fremdheiten anzuvertrauen und damit vertraut zu machen. Ich war gerne allein unterwegs, hatte ich doch den sicheren Hafen von Eltern und Brüdern im Hintergrund. Ich soll ein sehr neugieriges (interessiertes?) Kind gewesen sein. Mein Zusammenfassung aus Kinderzeit könnte lauten: Fremdes kann (mir) leichter vertraut werden, wenn eine sicher Basis als Ausgangspunkt vorhanden ist. Und wenn es Erklärungen gibt.

Cornelia Tsirigotis

1981 ging ich für ein Jahr nach Griechenland, Mani, eine steinige Gegend, die noch nicht einmal die Türken in der osmanischen Zeit in den Griff bekamen. Mein Bruder besaß dort mit Freunden eine kleine Hütte. Für die Zeit in der Hütte ohne Wasser und Strom hatte ich wenige vertraute Gegenstände mit: Lieblingsdecke, einen Kerzenleuchter, ein Lehrbuch der neugriechischen Volkssprache, eine zweisprachige Ausgabe von Jannis Ritsos und ein Postsparbuch mit Notgroschen. Der sichere Hafen, die Familie in Deutschland, war fern, aber da. Handy und Internet gab es nicht, richtige Briefe mit zehn Tagen Laufzeit waren die Kontakte dorthin. Meine Nachbarschaft war über 80 und beschloss, ich sei eine brauchbare Hilfe bei der Olivenernte. Es war November, morgens vor Sonnenaufgang los, abends wenn es dunkel wurde zurück. Erntehilfe gegen Essen, mittags auf dem Feld: Oliven, Orangen, Ziegenkäse, Brot, manchmal eine Konserve, abends hockten wir auf niedrigen Hockern vor dem Kamin, auf dem Dreibein im Kamin der Topf mit Winterkräutern, im einzigartigen Geruch des Feuers, das so nur Olivenholz macht, Omelette im Kamin gebacken, wenn die Hennen gut drauf waren und gelegt hatten, eben was die Mani hergibt. Später arbeitete ich als Erntehelferin beim Bürgermeister, von dem ich über die Kultur der Mani, über die Politik in den Dörfern (wann wohl die Wasserleitung käme) lernte. Fremdes kann mir leichter vertraut werden, wenn mir jemand von Hintergründen und von der Geschichte erzählt. Und ich mich in die Sprache hineinbegeben kann.

Dass ich „die Fremde“, „i Xeni“, war, bekam ich sehr deutlich zu spüren als ich meinen Mann kennen lernte. Erntehelferin ist o.k., aber dass „to kalitero paidi“, das „beste Kind“, dann mit mir zusammen war anstatt mit passender Frau aus dem Nebendorf, das passte keinem. Ich konnte die Ausgrenzung gut spüren, Menschen, mit denen ich mich vorher über das Wetter, Politik und Oliven unterhalten hatte, waren plötzlich zurückhaltend, sie waren ja mit der Familie verwandt oder verschwägert. Als ich keine Arbeit mehr bekam, ging ich zurück nach Deutschland, wir begannen eine Fernbeziehung. Bis das gegenseitige Vertrauen und vertraut Werden groß genug war, damit einer seinen sicheren Hafen verlassen konnte, dauerte seine Zeit. Seit 1985 leben wir in Aachen, nun für Sotiris „in der Fremde“. Das sind mehr als 30 Jahre tägliche kleine Fremdheiten, die vertraut werden: wer wann wem Danke sagt, und wann nicht, worüber eine(r) Grund sieht, beleidigt zu sein, die ganzen täglichen Kleinigkeiten. Und die „großen Geschichten“ vom fremd Fühlen und vertraut Werden mit dem, was in der Literatur „Verbundheitsorientierung“ heißt, und wie es sich anfühlt, wenn Familie, Vater und Mutter, Geschwister und ihr Wohlergehen an erster Stelle gefühlt werden, wie das mit meiner „individualismuszentrierten“ Denk- und Fühlweise kollidiert und wie dann das Bauen am eigenen gemeinsamen kulturellen Modell und das aktive Bestreiten des eigenen kulturellen Wandels geht, zugleich wie in jeder Paarbeziehung und zugleich verstärkt durch unterschiedliche kulturelle Brillen.

Fremdes kann leichter vertraut werden, wenn wir es aktiv bejahen, und die Entscheidung zu diesem Ja täglich vertiefen: “Vielfalt aktiv zu bejahen… bedeutet, dass andere Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verhaltensmuster nicht nur passiv toleriert, sondern als bejahend, gleichwertig   und bereichernd anerkannt werden“ (Borke et al. 2015[1] , S. 134)

Mir ist in den mehr als 30 Jahren Vieles fremd oder merkwürdig (fragwürdig) geworden, was um mich herum passiert, von der tassenweisen Abrechnung der Kaffeekasse, vom Umgang mit der älteren Generation, die vielfältigen kleinen und großen Diskriminierungen – oft unbewussten – selbst von Verwandten, Freunden oder im Sportverein, die ich (diskriminations-)sensibler wahrnehme als mein Mann, der größeres Verständnis dafür hat. Fremdes kann leichter vertraut werden, wenn wir unerschrocken respektieren.

Was in meinem kulturellen Rucksack jedes Ausmisten überlebt:

  • Ein Verständnis dafür, dass die Menschen, mit denen ich zu tun habe, aus unterschiedlichen Kontexten kommen und
  • Die Idee, dass Familien füreinander einstehen, unter Umständen bedingungslos
  • Eine verstärkte Wahrnehmung für offenen und versteckte Diskriminierung im Kleinen (Supermarktkasse) wie im Großen (Asylrecht) und die Fähigkeit, mich darüber aufzuregen
  • Ein wenig nachvollziehen zu können, wie sich Fremdsein in Deutschland anfühlt
  • Das Gefühl zu kennen, nicht wie die Mehrheit zu leben, auch in meiner Berufsgruppe oder unter anderen „Gleichen“ oft ein Anderssein zu verspüren
  • Eine großen unerschrockenen Respekt, wie Familien in der Migration ihren kulturellen Wandel vollziehen, ihr eigenes Modell bauen müssen, wie sie hier leben können.

Zum Schluss eine Geschichte vom Vertrauten und Fremden:

Vor ein paar Tagen nehme ich in meiner Schule, einer Förderschule für Hören und Kommunikation, ein Kind aus einer nahegelegenen Unterkunft für Geflüchtete auf. Das Kind ist an Taubheit grenzend schwerhörig, es gibt eine Diagnose aus der Heimat und vom hiesigen Hals-, Nasen und Ohrenarzt. Der empfiehlt eine genauere Abklärung in einer Klinik für Pädaudiologie, diese wird erst finanziert, wenn die endgültige Zuweisung in eine Gemeinde erfolgt, eigentlich benötige ich die genaue Diagnose zur Aufnahme in die Schule, ein Kreislauf. Mit der Mutter spreche ich über einen Dolmetscher. Die Familie ist yesidisch aus dem Irak, ich krame im Gedächtnis und im Internet, was da los ist und erinnere mich an die Berichte von Massakern und Rückzug in die Berge.

Ich erkläre den Ablauf der Dinge und vor allem, was in der Klinik untersucht wird und was gefragt werden wird, über die vermutete Ursache der Hörschädigung und auch über den ggf. nicht sehr respektvollen Umgang mit der Frage der Verwandtschaft der Eltern. Wir sprechen über Unterschiede im Sprechen über Krankheiten, über Schuldgefühle, ein respektvolles und zugleich für mich sehr berührendes und erstaunlich offenes Gespräch, dem Setting mit dem Dolmetscher zum Trotz. Und dann kommt die Frage, die für mich in 30 Jahren als Hörgeschädigtenpädagogin in der Beratung die allervertrauteste ist und die keine kulturellen Unterschiede zu kennen scheint: „Wird mein Kind hören können?“

[1] Jörn Borke, Eva-Maria Schiller, Angelika Schöllhorn, Joscha Kärtner (2015). Kultur– Entwicklung – Beratung. Kultursensitive Therapie und Beratung für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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2 Kommentare

  1. Liebe Cornelia,
    danke für die sehr persönlichen und auch wieder sehr verbindenden, ja brückenbauenden Schilderungen aus Deinem Leben und dass Du uns daran teilhaben lässt. Schöne Feiertage!

  2. Wolfgang Loth sagt:

    Hab Dank für diese wunderbare Meditation, liebe Cornelia! Eine Meditation über das Wagnis und den Reichtum des Mitgehens. Und was es bedeutet, aufeinander hören zu können, ein Miteinander. Und auch eine sog. “Frohe Botschaft”, von der in den nächsten Tagen wieder vermehrt die Rede sein wird, ist darauf angewiesen, dass sie gehört werden kann, in welcher Sprache und in welcher Form auch immer. Hab Dank!

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