systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

10. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

The Client is the Expert

Heute vor 25 Jahren, am 10.11.1991, ist Harold Goolishian in Galveston gestorben. Der Psychologe, Pionier der Familientherapie und langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät Galveston der University of Texas gehört gemeinsam mit Harlene Anderson zu den Begründern des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie und gründete 1977 mit ihr, Paul Dell und George Pulliam das Galveston Family Institute in Texas. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand die Idee, dass nicht die Therapeuten die Experten für Lösungen seien, sondern die Klienten selbst, eine Perspektive, die eine (oft missverstandene) Haltung des Nicht-Wissens auf Seiten des Therapeuten nahelegt. In einem Aufsatz für das von Sheila McNamee und Ken Gergen 1992 b bei Sage herausgegebenen Bandes „Therapy as Social Construction“ präsentierten Anderson und Goolishian ihre diesbezüglichen Ideen. In diesem Aufsatz wird ein interpretativer und hermeneutischer Ansatz des Verstehens von Therapie beschrieben. Die Idee der therapeutischen Konversation als Dialog, in welchem der Therapeut die Position des Nichtwissens einnimmt, wird dargestellt und erweitert. Insbesondere wird die konversationale Art zu Fragen diskutiert, die den KlientInnen Spielraum läßt, ihre Geschichte zu erzählen – und zwar unabhängig von den zuvor entstandenen Ideen des Therapeuten. Der Therapeut schließt sich der sich natürlich entfaltenden Erzählung der Klienten durch aufrichtiges Bemühen an, um mit grenzenloser Neugier die Bedeutungen des Klienten zu verstehen und kennenzulernen. Das Ziel dieses therapeutischen Kontexts ist nicht das Entdecken von Wissen, sondern die Erzeugung eines dialogischen Konversationsprozesses. Im Verlauf dieses Prozesses entwickeln sich neue Bedeutung und Verstehen wechselseitig, und diese werden immer begrenzt durch die lokal verhandelten Regeln der Bedeutung. Der Text kann online hier gelesen werden…

7. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Mony Elkaïm wird 75

Heute vor 75 Jahren wurde Mony Elkaïm in Marrakesch, Marokko geboren. systemagazin gratuliert ganz herzlich zum 75. Geburtstag. Da die Sprachbarriere zu den englischsprachigen Ländern hierzulande viel niedriger liegt, sind die Arbeiten und Verdienste von Mony Elkaïm im deutschsprachigen Bereich nicht so bekannt, nur wenige seiner Arbeiten ins Deutsche übersetzt worden. Nicht nur in Frankreich und Belgien hat er allerdings große Wirkung entfaltet, auch in Europa. So geht die Gründung der European Family Therapy Association EFTA ganz maßgeblich auf seine Initiative und seinen Einsatz zurück. Zu seinem 65. Geburtstag habe ich bereits einiges im systemagazin geschrieben, das man hier nachlesen kann. Auf der Seite systemique.levillage.org ist vor zwei Jahren dieses Video eines Gesprächs veröffentlicht worden, in dem Mony von sich selbst und seiner Entwicklung erzählt. Leider nur auf Französisch.

6. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

was keiner sieht

röcke wie röhren, aus denen andere röhren
ragen. kabelwürste die tanten. mit haar-
spray fixiert, klebt die hornbrille an ihrem
winzigen bienenkorb. der rasen wuchert

über lackschuhe, über den bildrand.
wein löscht jahrzehnte aus hohlräumen
über krawatten. ein bleischweres kind im traum
steht als einziger gast auf dem anderen fest

auf das niemand wollte. das so nie stattfand.
das keines war. verteile zucker an tote
lasse drachen steigen auf stoppelfeldern

will alles erleuchten: die zukunft, die es nicht gab.
den witzigen zwilling der zeit, seine halb
ausgeführten gesten. mickey mouse, rostiges fahrrad

was keiner sieht.

 

Birgit Kreipe
(aus: SOMA. kookbooks, Berlin 2016)

4. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Adventskalender 2016: Fremd – Vertraut. Begegnungen mit der Fremdheit

24adventLiebe Leserinnen und Leser,

das Jahr eilt voran und in vier Wochen beginnt wieder die Adventskalender-Zeit. Ich weiß, mit meiner Einladung bin ich dieses Mal etwas später dran. Trotzdem möchte ich Sie wieder herzlich zur Teilnahme einladen, damit mit Ihrer Hilfe auch dieses Mal wieder ein interessanter Adventskalender zustande kommt. Der hat mittlerweile eine vieljährige Tradition, wird sehr gerne gelesen und in den vergangenen Jahren gab es viele längere oder kürzere Beiträge, die auch zu einer intensiven Diskussion geführt haben. Oft standen zu Beginn noch nicht alle Beiträge fest, so dass es auch für mich immer spannend war, zu sehen, ob alle Türchen bis zum 24.12. besetzt werden. Auch dieses Mal bin ich zuversichtlich, dass das klappt.

In diesem Jahr soll das Thema „Fremd – Vertraut. Begegnungen mit der Fremdheit“ das Motto des Kalenders sein. Die Globalisierung und die damit verbundenen Möglichkeiten der weltweiten Echtzeitkommunikation, die zunehmende Internationalisierung beruflicher Einsatzorte, die erzwungenen, aber auch freiwilligen Wanderungsbewegungen und Migrationsströme geben uns die Chance, jederzeit mit dem Fremden in Berührung zu kommen. Wir sehen aber auch gerade gegenwärtig, welche Ängste und Befürchtungen dadurch mobilisiert werden. Der Wunsch nach Abschottung, nach dem vermeintlich Identitären nimmt zu. Eine Studie zeigte kürzlich, dass mehr als zwei Drittel aller amerikanischen Studierenden kein Interesse daran haben, mit jemandem zu diskutieren, dessen Meinung sie nicht teilen. Das wird durch das Geschäftsmodell von Facebook massiv befördert: Menschen nur noch die Informationen zu liefern, die sie ohnehin kennen und lesen wollen, sie in ihren vertrauten Meinungen zu bestätigen und das Unbekannte, Fremde zu meiden.

Betrachten wir die Welt als eine Fülle möglicher Wirklichkeitskonstruktionen, sollte uns das erschrecken. Wenn die Begegnung mit dem Fremden durch Angst, Scham und Aggression bestimmt wird, wird die Spaltung der Gesellschaft dominant. Der zentrale Affekt für alle Prozesse der Veränderung, Beziehungsaufnahme und Zusammenarbeit ist ja Interesse: Interesse und Neugier als Voraussetzung für Exploration und Begegnung mit dem Unbekannten. Angst, Scham und Wut sind aber starke Antagonisten von Interesse – sie fördern das Trennende.

Ich möchte Sie daher gerne einladen, Ihre Gedanken zum Thema des diesjährigen Adventskalenders beizusteuern. Die damit verbundenen Fragen könnten lauten: Wie wird uns das Fremde vertrauter? Wie können wir das Fremde im Vertrauten erkennen? Welche Erfahrungen in und mit der Fremde haben wir in unterschiedlichen privaten und beruflichen Kontexten gemacht und welche Schlüsse daraus gezogen? Was hat uns geprägt, angezogen, abgestoßen? Welche Rolle spielen dabei unsere eigenen kulturellen und milieugebundenen Vorerfahrungen? Wie ergeht es uns in der Arbeit mit Klientensystemen, die uns nicht ohne weiteres verständlich sind, weil sie ihre Werte und ihre Praxis aus uns fremden Bezugssystemen der Religion, Kultur und Weltanschaung beziehen? Welche Erfahrungen haben uns dabei bereichert, welche auch vorsichtiger gemacht? Welche Haltungen und Vorgehensweisen haben uns in der Auseinandersetzung mit diesen Themen unterstützt und geholfen? Wie sind unsere Klienten mit uns als Fremden zurechtgekommen und umgegangen?

All dies sind Fragen, die viele von uns beschäftigen. Ich bin sicher, dass Ihnen noch viel mehr dazu einfällt. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie Ihre Erfahrungen und Einschätzungen mit den Leserinnen und Lesern des systemagazin teilen – ob Sie einen langen oder kurzen Text schicken, theoretische Überlegungen oder persönliche Erfahrungen und Geschichten einbringen, bleibt ganz Ihnen überlassen: jedes Türchen ist anders …, aber sollte etwas mit dem Thema zu tun haben.

Schicken Sie mir einfach Ihren Beitrag an levold@systemagazin.com – alle Texte werden nach Möglichkeit berücksichtigt.

Herzlichen Dank schon jetzt und Beste Grüße

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

4. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Emotionsbasierte systemische Therapie

Wagner-Russinger-emotionsbasierte-systemische-therapieElisabeth Wagner und Ulrike Russinger beschäftigen sich seit langem mit der stärkeren Integration affektdynamischer Konzepte in die Systemische Therapie. Bei Klett-Cotta haben sie nun ihre Ideen in einem Buch mit dem Titel „Emotionsbasierte systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln. Emotionsbasierte systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln“ veröffentlicht. Luc Ciompi hält es für einen „hoch interessanten Versuch, in das Gestrüpp des gegenwärtigen systemisch-therapeutischen Wissens eine praktisch nützliche Ordnung zu bringen und insbesondere die Dynamik der Emotionen besser zu integrieren“. Konrad Peter Grossmann hat das Buch gelesen und eine schöne Rezension verfasst – sein Resümee: „Ein Fazit des Buchs ist, dass das Hervorrufen von positiven states, von Ressourcen, von adaptiven Gefühlsmustern sich als eine der Kernaufgaben von Psychotherapie lesen lässt. (…) [Den Autorinnen] ist mit ihrem Buch ein wegweisender Text gelungen, der nicht nur die Theorie und Praxis (längerer) systemischer Einzeltherapie beeinflussen wird, sondern auch in anderen Kontexten – jenen der Paar-, Familien- und Gruppentherapie und in therapienahen Arbeitsfeldern – wirksam werden wird.“ Die Rezension ist in den Systemischen Notizen der Wiener Lehranstalt für Systemische Familientherapie erschienen und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung derselben. Eine weitere Rezension von Johanna Schwetz-Würth ist in den Netzwerken, der Mitgliederzeitschrift der ÖAS in Wien erschienen, auch diese ist hier mit freundlicher Genehmigung zu lesen! Weiterlesen →

1. November 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Mit Kindern und Jugendlichen (lösungsorientiert) arbeiten

ZSTB-2016-04

Mit Kindern und Jugendlichen (lösungsorientiert) arbeiten, das ist das Thema der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung (Heft 4/2016).  Cornelia Tsirigotis schreibt in ihrem Editorial: Am Befinden von Kindern und Jugendlichen zeigt sich, in welchem Zustand sich die ganze Gesellschaft befindet. Die Lage der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland hat sich, aktuellen Kinder- und Jugendberichten zur Folge, nicht verbessert. Eine im April 2016 vorgestellte Studie des UNICEF-Forschungszentrums Innocenti stellt eine wachsende Ungleichheit beim Kindeswohl in Industrieländem fest. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die Ungleichheiten beim Einkommen, beim Schulerfolg, bei selbst berichteten Gesundheitsproblemen und bei der persönlichen Lebenszufriedenheit. Auch der Armutsbericht der Wohlfahrtsverbände spricht eine deutliche Sprache: „Alle Verantwortlichen kennen seit Jahren den nicht akzeptablen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsabschlüssen in Deutschland. Alle Verantwortlichen kennen die Spirale der Armut, diesen teuflischen Kreislauf von elterlicher Armut, Kinderarmut, schlechten Bildungschancen in unserem Schulsystem und eigener späterer Einkommensarmut.-“ Grund also, sich in diesem ZSTB-Heft damit zu beschäftigen, was Kindern und Jugendlichen guttun und in ihrer Entwicklung voranbringen könnte.“ Beigetragen zum Heft haben Martin Lemme & Bruno Körner mit einem „Leitfaden zum Vorgehen im Konzept der Neuen Autorität“, Susanne Kade mit einem Text über „Möglichkeiten der Integration der kinderorientierten Familientherapie in den Rahmen einer lösungsfokussierten Haltung“, Daniel Pfister-Wiederkehr schreibt über den „Tod der Erziehung“. Außerdem gibt es ein Gespräch zwischen Heinz Graumann und Jürgen Hargens über Lösungsorientierung im (sonder-)pädagogischen Alltag. Alle bibliografischen Angaben und abstracts wie immer hier…

30. Oktober 2016
von Tom Levold
1 Kommentar

Was ist der Fall? Und was steckt dahinter? Diagnosen in systemischer Theorie und Praxis

Bildschirmfoto 2016-02-11 um 19.20.04

 

In der letzten Ausgabe der netzwerke, der Mitgliederzeitschrift der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS) wurde ein Gespräch über den Kongress „Was ist der Fall? Und was steckt dahinter? Diagnosen in systemischer Theorie und Praxis“ vom 25.-27. Mai 2017 in Heidelberg veröffentlicht, das Johanna Schwetz-Würth mit mir als Mitveranstalter geführt hat, und das an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung der netzwerke wiedergegeben wird:

In Deutschland stehen durch die mögliche Anerkennung der systemischen Psychotherapie als Richtlinienverfahren große Veränderungen für die systemische Therapie an. Diese würde erstmals in Deutschland eine kassenfinanzierte systemische Therapie erlauben. Was auf der einen Seite ein Riesenerfolg wäre, kann auf der anderen Seite auch als mögliche Relativierung oder Gefahr für das Selbstverständnis systemisch-konstruktivistischen Arbeitens gesehen werden. Denn wenn die Systemische Therapie ins deutsche Gesundheitswesen will, muss sie mit Diagnosen operieren. Manche sehen darin eine Verletzung der systemischen Identität.

Aus diesem Dilemma und den damit verbunden Diskussionen in der systemischen Community heraus haben sich Tom Levold (systemagazin), Hans Lieb, Wilhelm Rotthaus, Bernhard Trenkle und Matthias Ohler (Carl-Auer-Akademie) zusammengetan, um eine Tagung auf die Beine zu stellen, die sich mit dem Thema Diagnostik und Fallverstehen schulenübergreifend auseinandersetzen und neue Perspektiven auf die eigene Praxis ermöglichen will.

Als in Österreich tätige systemische Therapeut_innen ist es für uns selbstverständlich, für Kassenanträge mit Diagnosen und dem ICD 10 zu operieren. Die „Gefahr“, die manche deutsche Kolleg_innen sehen, ist für uns in Österreich vielleicht nur zum Teil nachvollziehbar.

Wieso es trotzdem spannend sein kann, nach Heidelberg zu fahren, und was dort erwartet werden darf, habe ich Tom Levold gefragt. Weiterlesen →

20. Oktober 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Luhmanns Zettelkasten und die digitale Revolution in den Geisteswissenschaften: Chancen und Herausforderungen

Niklas Luhmanns Zettelkasten

Niklas Luhmanns Zettelkasten

Der Zettelkasten von Niklas Luhmann ist legendär. Von Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit an hat Luhmann seine Lektüre-Rezeption sowie Notizen zu all seinen wissenschaftlichen Projekten auf tausenden von Zetteln niedergelegt, die in einem besonderen System von Querverweisen miteinander vernetzt sind und damit eine unglaublich komplexe Hypertext-Struktur zur Generierung von Ideen und Zusammenhängen darstellen. In Bielefeld wird gegenwärtig daran gearbeitet, den kompletten Nachlass Luhmanns, zu dem neben dem Zettelkasten auch noch zahlreiche bislang unveröffentlichte Manuskripte und Vorlesungstexte gehören, zu digitalisieren. Einerseits ist das kein leichtes Unterfangen, andererseits lässt sich der Zettelkasten eigentlich als eine Art Vorwegnahme computergestützter Wissensdatenbanken verstehen. In einem Beitrag für die Zeitschrift soziale Systeme (2013/2014, Heft 19/1) beschreibt Johannes F. K. Schmidt vom Niklas-Luhmann-Archiv Bielefeld ausführlich die erste Sichtung des Nachlasses von Niklas Luhmann. Zum Zettelkasten schreibt er: „Durch das multiple storage-Prinzip und die an Hyperlinks erinnernde Verweisungstechnik simulierte Luhmann trotz der analogen Speichertechnik also schon seit den 1950/60er Jahren ein modernes, computergestütztes Datenbanksystem. Damit waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Zettelkasten mit dem Erreichen einer kritischen Masse von Notizen Anfang/Mitte der 1970er Jahre zunehmend als eine Publikationsmaschine fungieren konnte. Darüber darf aber nicht übersehen werden, dass die Sammlung für Luhmann auch ein Denkwerkzeug war. Entsprechend wurde eben nicht (nur) gesichertes Wissen abgelegt, sondern auch ein Prozess der Theoriegenese dokumentiert, inklusive möglicher Irrtümer und Holzwege, die durch spätere Eintragungen revidiert, nicht aber eliminiert wurden, da die ursprünglichen Zettel immer im Kasten verblieben.“

Ein digitalisierter Nachbau des Zettelkasten ist also in Arbeit, der dann auch über das Internet zugänglich sein soll. Am 29.10.2016 findet am Nachmittag in Hannover eine Veranstaltung mit Vorträgen und Gesprächen zur Digitaltechnik in den Geisteswissenschaften statt, in denen Johannes Schmidt gemeinsam mit Martina Gödel und Sebastian Zimmer über diese Form der Digitalisierung sprechen wird.

Auf der Internetseite der Veranstaltung heißt es dazu: „Ziel dieses Prozesses ist eine Reproduktion der Sammlung, die die Möglichkeiten der modernen digitalen Technik nutzt, um sie lesbar und ihre Genese nachvollziehbar zu machen. Das Projekt ist aufgrund der Masse und der Heterogenität des Materials sowie des datenbanksimulierenden Ansatzes des Luhmannschen Zettelkastens nicht nur fachwissenschaftlich, sondern auch technisch eine Herausforderung.

Als Basis für die digitale Präsentation des Zettelkastens werden hochstrukturierte XML-Dateien erstellt, die die Möglichkeit bieten, den transkribierten Text mit Informationen anzureichern. Jeder Zettel wird semantisch als freie, einzelne Gedankeneinheit begriffen, die in Verbindung mit anderen Einheiten steht. Implizit enthaltene Informationen werden durch Zettel-IDs und Schlagwortregisterverlinkungen explizit gemacht. Darüber hinaus soll der Nutzer auch die Zettelreihungen nachvollziehen können und so z.B. Auffälligkeiten wie Konzentrationen, aber auch ‚schwarze Löcher‘ im Zettelbestand für ihn sichtbar werden. Das von Luhmann nicht im Detail und im Voraus geplante Wachstum der Sammlung wird so in seinem ganzen Ausmaß transparent und die Gedankenentwicklung nachvollziehbar. Neben einer Arbeitsoberfläche, die es Fachwissenschaftlern ohne tiefere Technologiekenntnisse erlaubt, weiterführend mit dem Zettelkasten zu arbeiten, werden die Daten im weiteren Verlauf der Nachlasserschließung im Projektportal veröffentlicht. Ziel des Vortrags ist, den Bestand und die Funktionalität des von Luhmann hinterlassenen Zettelkastens zu beschreiben, um dann in einem zweiten Schritt jenes Vorhaben der Digitalisierung genauer darzustellen.“

18. Oktober 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Geburtenziffer 2015: Erstmals seit 33 Jahren bei 1,50 Kindern je Frau

WIESBADEN – Die zusammengefasste Geburtenziffer erreichte 2015 in Deutschland 1,50 Kinder je Frau. Ein ähnlich hoher Wert wurde nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zuletzt 1982 für das Gebiet des heutigen Deutschlands mit 1,51 Kindern je Frau nachgewiesen. Im Jahr 2015 wurden im Vergleich zur Geburtenziffer 2014 von 1,47 Kindern je Frau 27 Babys pro 1 000 Frauen mehr geboren. Die seit 2012 beobachtete positive Entwicklung setzte sich damit fort.

Der Zuwachs ist 2015 allerdings nur halb so stark ausgefallen wie im Jahr 2014 mit einem Plus von 56 Geborenen pro 1 000 Frauen. Vor allem bei den Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit nahm die Geburtenziffer nur geringfügig von 1,42 Kindern je Frau im Jahr 2014 auf 1,43 Kinder je Frau im Jahr 2015 zu. Bei den Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit stieg sie dagegen deutlich von 1,86 auf 1,95 Kinder je Frau und trug damit zum Anstieg der zusammengefassten Geburtenziffer aller Frauen wesentlich bei.

In 13 Bundesländern nahm die Geburtenziffer 2015 zu. Lediglich in Berlin ist sie unverändert geblieben sowie in Brandenburg und Niedersachsen geringfügig gesunken. In den ostdeutschen Bundesländern war sie mit 1,56 Kindern je Frau höher als im Westen Deutschlands (1,50). Das Land mit der höchsten zusammengefassten Geburtenziffer von 1,59 Kindern je Frau war Sachsen. Die niedrigste Geburtenziffer von 1,38 Kindern je Frau wies das Saarland auf.

Das durchschnittliche Alter der Mütter bei Geburt des Kindes war 2015 mit 31 Jahren lediglich um einen knappen Monat höher als im Jahr 2014. Bei den Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit stieg es um rund 2 Monate auf gut 31 Jahre, bei den ausländischen Müttern sank es um etwa 3 Monate auf 30 Jahre. Die Mütter der Erstgeborenen waren 2015 durchschnittlich 29 Jahre und 7 Monate alt. Beim zweiten beziehungsweise dritten Kind waren die Mütter knapp 32 beziehungsweise 33 Jahre alt.

Die zusammengefasste Geburtenziffer wird zur Beschreibung des aktuellen Geburtenverhaltens herangezogen. Sie gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre, wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr. Die Frage nach Zahl der Kinder, die Frauen im Laufe ihres Lebens tatsächlich bekommen haben, kann für Frauenjahrgänge beantwortet werden, die das Ende des gebärfähigen Alters erreicht haben, das statistisch mit 49 Jahren angesetzt wird. Im Jahr 2015 waren es die Frauen des Jahrgangs 1966. Ihre endgültige durchschnittliche Kinderzahl betrug 1,53 Kinder je Frau.

Quelle: Pressemitteilungen – Geburtenziffer 2015: Erstmals seit 33 Jahren bei 1,50 Kindern je Frau – Statistisches Bundesamt (Destatis)

17. Oktober 2016
von Tom Levold
2 Kommentare

Entsozialpädagogisierung der Jugendhilfe?

Holger Ziegler (Foto: Uni Bielefeld)

Holger Ziegler (Foto: Uni Bielefeld)

Das SGB VIII soll reformiert werden, Entwürfe zur Reform liegen vor und sind aus gutem Grund strittig, laufen sie doch auf nichts anderes hinaus als auf eine stillschweigende Änderung der grundlegenden Arbeitsphilosophie der Kinder- und Jugendhilfe und der Hilfen zur Erziehung. Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld, hat diese Entwicklung, die gleichzeitig mit einer Medikalisierung von Problembeschreibungen in der sozialpädagogischen Praxis einhergehen würde, in einer klugen und lesenswerten Analyse untersucht. Dabei würden in Zukunft Leistungen nur noch nach einer medizinanalogen individuellen Diagnosestellung im Rahmen der Jugendhilfe gewährt und finanziert. Er schreibt: „Standardisierte Diagnose- und Klassifikationsinstrumente sind immer dann problematisch, wenn sich ihre notwendigerweise selektive Aufmerksamkeit nicht nur klar definierte und spezifisch begrenzte Symptomatologien richtet, sondern diffuse, ambige, deutungs- und interpretationsbedürftige Praktiken und Situationen erfasst werden sollen. Soziale Arbeit, die sich dem Gegenstand nach mit Lebensführungspraktiken von Akteur_innen beschäftigt und entsprechend nicht für ein eng umgrenztes Spektrum von spezifischen Problemen zuständig ist, setzt im Gegensatz zu spezialisierten helfenden Berufen gerade keine eingegrenzte diagnostische Semantiken voraus.“ und: „Der Entwurf ist nun offensichtlich von der Idee beseelt, dass es für die Kinder- und Jugendhilfe – erfreulich, dass diese nicht in Kinder- und Jugendentwicklungsdienst umbenannt werden soll – den Einsatz von systematischen Arbeitsprozessen und standardisierte Arbeitsmittel braucht. Selbst wenn man dies akzeptieren würde, ist fraglich ob eine ‚sozialer‘ gemachte, medizinische Diagnostik, die zwar auf Teilhabe, aber eben nur mit Blick auf gesundheitliche oder gesundheitsbezogene Domänen abhebt und die weder in der Lage ist sozio-ökonomische zu erfassen noch personenbezogenen Kontextfaktoren näher definieren und klassifizieren wirklich tauglich ist für eine sozialpädagogische Ermittlung des individuellen Bedarf des Kindes, des Jugendlichen oder des jungen Volljährigen ist.“

Der Autor schließt mit der optimistischen Bemerkung: „Aus fachlicher Sicht ist der Entwurf ‚below the threshold‘. Aber es Grund zur Hoffnung: Es ist nicht erwartbar, dass dieser Entwurf je Gesetz wird.“ Das wollen wir mal hoffen. Jedenfalls ein guter Grund, die Frage der Fallkonstruktion und Diagnostik in der Jugendhilfe auch auf der Tagung „Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?“ im Mai 2017 in Heidelberg gründlich zu diskutieren. Den ganzen Text von Holger Ziegler können Sie hier lesen…

15. Oktober 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Michel Foucault (15.10.1926 – 25.6.1984)

Heute würde Michael Foucault 90 Jahre alt. In seinen Abschiedsvorlesungen kurz vor seinem Tod hat er sich noch einmal intensiv mit den klassischen Philosophen der Antike beschäftigt. In seiner Rezension in der ZEIT von April 2010 schreibt Thomas Assheuer:

„All diese Verfinsterungen muss man vor Augen haben, um die intellektuelle Souveränität zu ermessen, mit der Foucault in den Jahren vor seinem Tod versucht, gegen den suggestiven Sog seiner Prämissen doch noch einen Ort der Wahrheit und des Menschen ausfindig zu machen – den Ort eines „freimütigen“ und eigensinnigen Daseins, das mehr ist als das Abziehbild „liberaler“ Herrschaftstechniken und das dumpfe Double des medialen Geplappers. Wie viele Denker, die glauben, die Gegenwart sei mit ihrem Latein am Ende und metaphysisch erschöpft, sucht Foucault den rettenden Ausweg in der Antike, in den sokratischen Ouvertüren des Ich-Sagens, des „Wahrsprechens“ und der „Sorge um sich“. Anfang der achtziger Jahre beginnt er im Collège de France Sokrates und Plato zu lesen, später die Kyniker und die frühen christlichen Denker. Diese Vorlesungen, deren zweiten Teil der Suhrkamp Verlag unter dem Titel Der Mut zur Wahrheit veröffentlicht, sind erstaunliche Dokumente. Foucault, den nahen Tod vor Augen, nimmt sich darin alle Zeit der Welt, er ist von schier unendlicher Geduld mit seinen Gegenständen, seine Deutung ist liebevoll pedantisch und bis an die Grenze der Redundanz erschöpfend. Der von Studenten aus aller Welt umlagerte Star der philosophischen Szene macht die antiken Texte gegenwärtig, ohne sie brachial zu aktualisieren, sein Ton hat etwas Inständiges, seine Exegesen sind auf trügerische Weise verständlich (und überdies geschmeidig übersetzt). Im Zentrum steht die Idee der Parrhesia, des freimütigen „Wahrsprechens“, und das ist für Foucault die Angel, um die sich alles dreht. Politisch gesehen, ist Parrhesia der „Freimut“ vor der Macht; ethisch betrachtet, ist es der „Freimut“ vor sich selbst, die Selbstbindung des Einzelnen und die Anstrengung, dem Leben eine Bestimmung zu geben – so wie Sokrates, der genau die Lehre lebt, die er öffentlich verkündet.

Man sieht, Parrhesia ist ein zweipoliger Begriff. Mal meint das „Wahrsprechen“ eine Form von Selbstbeglaubigung und zielt auf eine „Ästhetik der Existenz“, die nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch ist, weil sie die anderen Polis-Bewohner gleich mit verändern soll. Dann wiederum meint Parrhesia den Mut des Bürgers, sich öffentlich ins Spiel zu bringen und etwas aufs Spiel zu setzen. In beiden Fällen ist das „Wahrsprechen“ eine demonstrative Distanz zum Allgemeinen und markiert einen heilsamen Abstand zu gesellschaftlichen Denkroutinen, zu Üblichkeiten, Opportunitäten und Mehrheitsmeinungen. Das „Wahrsprechen“ stört das Konzert der Lüge und der Heuchelei, es bekämpft die Pest der Anpassung und die Epidemie des Vorurteils.“

In diesem Sinne seien hier die Foucaultschen Vorlesungen „Der Mut zur Wahrheit“ zur Lektüre empfohlen.

11. Oktober 2016
von Tom Levold
Keine Kommentare

Das Besondere der Allgemeinmedizin – und wie es durch andere und durch uns selbst bedroht wird

Heinz-Harald Abholz

Heinz-Harald Abholz

In einem sehr lesenswerten Text aus dem Jahre 2009 befasst sich Heinz-Harald Abholz, mittlerweile emeritierter Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Düsseldorf, mit den problematischen Entwicklungen in der medizinschen Versorgung der letzten Jahrzehnte, die immer mehr zu einer Deprofessionalisierung der ärztlichen Tätigkeiten führe. Im abstract schreibt er: „Es wird die Medizin-Geschichte der letzten 30 Jahre als eine der zunehmenden Industrialisierung und Partikularisierung dargestellt, die eine Entprofessionalisierung und Proletarisierung der Ärzteschaft zur Folge hat. Die Ärzteschaft hat an diesem Prozess ungewollt selbst mitgewirkt. Modelle der Gegenwehr sind: der Betrug, der Kaufmann und die eigens betriebene Proletarisierung über „Arbeit nach Vorschrift“. „Reflective practitioners“ stellen eine weitere Form der Gegenwehr mit Ziel des Festhaltens an den Werten der Profession dar. Es wird ein Katalog zur strategischen Orientierung der Gegenwehr von verfasster Ärzteschaft und „reflective practitioners“ vorgestellt.“ Ein Text, der nicht nur für Ärzte von Interesse ist, sondern für alle, die Professionalisierung mit Standardisierung, Manualisierung und Spezialisierung verwechseln, ein Trend, der gelegentlich auch unter Psychotherapeuten zu beobachten ist. Hier geht es zum vollständigen Text….