Luc Ciompi, Belmont (CH): Zehn Thesen zur Systemtheorie der Emotionen

Luc Ciompi
(Foto: T. Levold)
Vorbemerkung: Dieser Text stammt aus einem bisher unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel „Schlussbetrachtungen zum ,Grossen Ganzen’. Persönliche, wissenschaftliche und weltanschauliche Reflexionen am Lebensende”. Sein Ziel ist die Klärung des systemtheoretischen Stellenwerts von Emotionen. Für praktische Anwendungen wird auf frühere Publikationen verwiesen (s. Literaturverzeichnis 1-4, ferner 11, 12)
Meiner Ansicht nach bedarf das systemtheoretische Verständnis von psychischen und sozialen Phänomenen, das im deutschen Sprachraum vorherrscht und (zu?) stark von den Konzepten des Soziologen Niklas Luhmann geprägt ist, in mehrfacher Hinsicht einer gründlichen Revision und Klärung. Insbesondere was den Stellenwert von Emotionen und ihre Wechselwirkungen mit den kognitiven Funktionen anbetrifft, scheinen mir die gängigen Konzepte – wie etwa dasjenige der „emotionalen Rahmung“ von Rosmarie Welter-Enderlin (12), oder auch Fritz Simons Verständnis der Emotionen als “symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien”(9) – noch zu unscharf, um praktisch wie theoretisch von grossem Nutzen zu sein. Viel zu wenig berücksichtigt wird fast durchwegs die energetisch-dynamische Rolle von Emotionen. Auch das informationsreiche neue Buch von Elisabeth Wagner und Ulrike Russinger über emotionszentrierte systemische Psychotherapien (11) bringt theoretisch meines Erachtens noch keine genügende Klärung.
Sehr unbefriedigend ist (wie ich vor Jahren bereits im Artikel “Ein blinder Fleck bei Niklas Luhmann?…” genauer analysiert habe, vgl. 5) namentlich Luhmanns Behauptung, dass Emotionen, weil dem psychischen Bereich zugehörig, in der Soziologie nicht von Belang wären, abgesehen davon dass sie zuweilen als Stör- und Alarmfaktoren wirken würden (7,8). Aus meiner Sicht dagegen spielen Emotionen gerade auch im sozialen Feld eine zentrale Rolle: Von kollektiven Emotionen geschürte Konflike und Spannungen funktionieren immer wieder als die entscheidenden Motivatoren und Energeieliferanten, welche die (von Luhmann erstaunlich wenig beachtete) Dynamik von mikro- wie makrosozialen Prozessen aller Art vorantreiben. Familienfehden, Massenpanik oder -begeisterung, Protestbewegungen oder Revolutionen liefern dafür spektakuläre Beispiele. Aber auch langfristige soziale Wandlungen wie etwa die jahrzehntelange allmähliche Veränderung der Rolle der Frau in der Gesellschaft werden letztlich von emotionalen Energien angetrieben. Des weiteren sind Emotionen, wie Simon postuliert, auch als Medium der Kommunikation – einem eminent sozialen Phänomen – ganz unentbehrllch. Meines Erachtens gilt sogar, dass Kommunikation ohne Emotion (oder “emotionale Rahmung”) praktisch unwirksam bleibt, das heisst gar nicht in unser Denken in-formiert wird. Und nicht zuletzt wirken positive oder negative emotionale Wertungen auch im sozialen Bereich, ganz gleich wie im psychischen, als wichtigste Verhaltensregulatoren und Komplexitätsreduktoren. Weiterlesen →





Heute feiert Wilhelm Rotthaus seinen 80sten Geburtstag, eine Zahl, die man gar nicht glauben mag, die aber ein großartiger Anlass ist, ihm an dieser Stelle von Herzen zu gratulieren.
Der gemeinsame Forschungspreis 2018 von Systemischer Gesellschaft (SG) und Deutscher Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) wird an Dr. Susanne Witte verliehen. Sie erhält die Auszeichnung für ihre Forschung über Geschwister im Kontext von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung.
Qualität der Geschwisterbeziehung und psychische Belastung“ veröffentlicht. Susanne Witte hat anhand einer umfangreichen Befragung von Erwachsenen und Geschwisterpaaren zu ihren Kindheitserfahrungen Faktoren herausgearbeitet, die das Erleben von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung begünstigen.
In einem hervorragenden Überblicksartikel in Ausgabe 8(1) der Online-Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft kritisiert Volkmar Aderhold, Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin sowie Lehrender für Systemische Therapie und Beratung (DGSF), die De-Kontextualisierung und Medikalisierung psychischer Probleme – ein Text, der zur Pflichtlektüre aller Psychotherapeuten gehören sollte. Im abstract heißt es: „Diagnosemanuale der zurückliegenden Jahrzehnte bewirkten oder beabsichtigten eine fortschreitende De-Kontextualisierung psychischer Störungen, die mit einer fortschreitenden Biologisierung der Psychiatrie einherging, die letzten Endes eher der Pharmaindustrie als den PatientInnen dient. Dabei ist die Befundlage der biologischen Psychiatrie alles andere als ermutigend, insbesondere auch deshalb, weil die diagnostischen Kategorien zu wenig valide sind. Das neue System der Research Domain Criteria (RDoC), das von funktionellen neuronalen Teilsystemen des gesunden Gehirns ausgeht, könnte die Neurobiologie weiterbringen. Ob dies gelingt, ist nicht absehbar. Klinische Diagnosen dagegen sollten in erster Linie dem Verstehen und der Verständigung dienen. Da sie grundsätzlich Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses sind, sollte ein dialogisches Ko-Konstruieren mit den bedeutungsvollen Anderen in der sozialen Welt des Betroffenen im Zentrum stehen. Notwendig und unhintergehbar ist dabei eine innere und äussere Polyphonie dieser Wirklichkeitskonstruktionen. Psychotherapeutisches Expertenwissen ist Teil dieser Polyphonie.“