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Erinnerungen an Kopftuchzeiten …

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Sabine Klar, Lehrtherapeutin aus Wien, ist Autorin der Geschichte zum 10.12. im Adventskalender. Sie berichtet eindrucksvoll und freimütig vom Versuch eines inneren Kulturwechsels, der mißlang und gleichzeitig in eine andere Form innerer Unabhängigkeit führte:

Ich bin eine Grenzgängerin – man kann das als verrückt bezeichnen, als Narretei – für mich ist es der Versuch, der Vielfalt, der ich in meinem Leben begegne und begegnet bin, gerecht zu werden und mich dennoch verantwortlich zu entscheiden. Es war für mich immer schon so, dass mir viele verschiedene Wege gleichermaßen richtig erschienen, daß ich sie verstehen und nachvollziehen konnte. Zeitweise habe ich mich auf einen dieser Wege verpflichtet – weil ich ihn intensiver, sozusagen von innen heraus verstehen wollte. Zu anderen Zeiten habe ich mich von denselben Wegen gelöst – um andere Menschen besser begreifen zu können und um wieder mehr Weite und Freiheit zu erfahren.
Vor inzwischen etwa 15 Jahren bin ich ein Jahr lang „unter dem Kopftuch gegangen“ – im vollen Bewusstsein der Provokation, die damit für mein Umfeld verbunden war, denn ich war damals schon zehn Jahre lang Psychotherapeutin, fünf Jahre Lehrtherapeutin und voll in meinem Beruf und in das konstruktivistische Denken integriert. Ich konnte meine Entscheidung damals gut nachvollziehen, wollte Heimat in einer religiösen Bindung erleben und mich gleichzeitig mit „Haut und Schleier“ auf eine Liebesgeschichte mit einem Mann einlassen. Daher stürzte ich mich in den Fluss und schwamm an ein völlig unbekanntes Ufer, kehrte zu einem einfachen Kinderglauben zurück, trat ein in eine Welt, wo es Gerechtigkeit gibt, Ordnung, Vorherbestimmung und Sicherheit. Vieles war echte Suche und echtes Finden – sich einem Gott überlassen, von dem man sich kein Bild machen darf und in dieser Hingabe Frieden finden; die Integration dieser Haltung in den Alltag; die Einfachheit und Nüchternheit des Ritus. Ich wollte zuhause sein – bei dem islamischen Mann, bei den islamischen Frauen, in der religiösen Gemeinschaft. Außerdem war ich vom Exotischen fasziniert und habe bei manchen Aussagen genickt und gestrahlt, obwohl sich mein Denken und mein Gefühl dagegen sträubten. Ich habe zugestimmt, um dazuzugehören. In diesem Rollenverhalten hätte ich mich fast verloren. Ich wußte gar nicht mehr, wer ich war – zeigte mich in der Arbeit mit Klienten anders als in der islamischen Gemeinde, anders als bei meinen Verwandten, bei meinen Dienstgebern, bei meinen Freunden. Ich konnte mich selbst in den verschiedenen Kontexten meines Lebens nicht mehr wieder erkennen. Schließlich begann ich meine Kinder in eine Richtung zu beeinflussen, zu der ich nicht stehen konnte und auch meine Therapien verloren an Qualität.
Heute erscheint mir diese Phase nur mehr schwer nachvollziehbar. Es war sicher die eigenartigste und befremdlichste Zeit meines Lebens, gespickt mit komischen Situationen: Ich bin z.B. mit dem Kopftuch bis zur Türe meiner therapeutischen Praxis gegangen, habe es dort abgelegt, um die KlientInnen nicht zu verwirren, und es beim Weggehen wieder angelegt. Ich bin in der Mittagspause in die nahe Moschee beten gegangen und habe mich dort mit konvertierten Österreicherinnen getroffen und ihren Eheproblemen zugehört. Dieselben Frauen kamen dann mit ihren vorwiegend arabischen Männern zu mir in Paartherapie, weil sie mir vertrauten. Sie konnten gut akzeptieren, dass ich im Kontext meiner Arbeit kein Kopftuch trug, im Umfeld der Moschee und auf der Straße aber schon. Die Kenntnis der religiösen Vorschriften war sehr hilfreich bei diesen Paartherapien. Die österreichischen Frauen kannten sich besser damit aus als ihre arabischen Männer, was ihnen ermöglichte, diese auf einer ihnen entsprechende Weise zu anderen Verhaltensweisen anzuregen.
Als ich von neuem aufbrach, das Kopftuch ablegte und andere Beziehungswege beschritt, empfand ich Gefühle von Verrat und von schmerzlichem Verlust. Gleichzeitig erschien es mir ungeheuer befreiend, wieder unabhängig von diversen Normen und Bindungen denken und Menschen mit anderen Vorstellungen nahe kommen zu können. Ich spürte damals sehr deutlich, wie vorläufig meine Entscheidungen waren und wie sehr die Sichtweise, mit der ich mich jeweils identifiziere, zur Konstruktion meiner Persönlichkeit und der Welt, in der sie lebt, beitrug. Alte Bindungen lösten sich wieder auf, neue entstanden. Ich fühlte wie ein anderer Mensch, wusste eine Zeitlang gar nicht so recht, wer ich war.
Die Folge dieser Lebenserfahrung ist zum einen, dass ich kein Einzelnes mehr absolut setzen möchte, auch meine diversen Rollen, Meinungen und Glaubensvorstellungen nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder erkennen würde, wenn ich in einer anderen kulturellen Umgebung auf mich träfe und verstehe Menschen besser, die in solchen sozialen Kontexten leben. Andererseits widerstrebt mir seitdem die Idee noch mehr als früher, meine Identität ausschließlich relational aufzufassen oder als bloße Erzählung narrativ zu dekonstruieren. Ich habe erlebt, dass dieses Motiv zu einer Selbstauflösung führen kann, die in Handlungsunfähigkeit und großem Unwohlsein mündet.
Manchmal berichte ich anderen Menschen über die Geschichten meines Lebens. Die damit verbundene Resonanz bietet mir einen Ort für einen Hauch sozialer und damit nicht mehr einsamer Kontinuität meines Ichs. Gleichzeitig höre ich mir zu, wie ich über mich erzähle und erkenne mich wieder, was mir in aller Veränderung Stabilität verleiht. Schön wäre, wenn das Fließen und die Vergänglichkeit umgeben wäre von etwas, das zuwendend, warm und nicht gleichgültig ist. Ich wünsche mir immer noch ein Du, das zumindest die Kontinuität der Erinnerung bietet – und damit einen Hauch „Überleben“, ein Stück hinausgezögerte Sterblichkeit.

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