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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Du sein Künstler

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Nachdem gestern ein Beitrag aus Österreich den systemagazin Adventskalender bereichert hat, tut das heute ein Text von Martin Rufer aus der Schweiz:

Ich erzähle von einem Mädchen, das den Bombenangriff  auf Sarajewo zwar überlebte, aber unter posttraumatischen Symptomen litt. Zum Termin, den ich in unserer Beratungsstelle vereinbarte,  kamen Melina (deren Name ich geändert habe) und ihre Mutter, die aber beide kaum Deutsch sprachen. Die Mutter selber wollte meinen Praxisraum, trotz freundlicher Einladung, auch nicht betreten, gab mir aber zu verstehen, dass Melina später vom Vater hier abgeholt würde.
Aufgrund der Verständigungsprobleme, aber spürbarer Offenheit und Neugier, entschied ich mich, mit Zeichnungen zu arbeiten. Melina begann auch sofort zu zeichnen und es gelang ihr wider mein Erwarten erstaunlich gut, ihre Traumageschichte (Luftangriff, Schutzraum, Angst, Ressourcen…) zu Papier zu bringen, so dass wir nach kurzer Zeit eine Anzahl Zeichnungsblätter vor uns liegen hatten.
Genauso wie die Eltern – sowohl im Prozess des Zeichnens  (in sensu), wie schliesslich auch auf den Zeichnungen selber (figürlich) – präsent waren, genauso wurde für mich beobacht- und spürbar, was in der Literatur als„Resilienz” oder bei Antanovsky als„sence of coherence” beschrieben wird.
Ich war in dieser auch für mich ungewohnten Stille tief berührt und somit selber in leichter Trance, als plötzlich die Türe aufgestossen wird und ein grosser, kräftiger, sichtlich überraschter Mann, den ich sofort als Melinas Vater identifiziere, in meinem Praxisraum steht, auf mich zukommt und sagt:„Ich habe gedacht, meine Tochter gehen zu Doktor und jetzt ich sehen Du sein Ki(ü)nstler“. Er drückt mir fest und fast freundschaftlich die Hand, nimmt seine Tochter liebevoll in die Arme, bedankt sich und beide – in sichbar entspannter Mimik und Gestik – verabschieden sich…
Geblieben sind mir die Zeichnungen und eine berührende Erinnerung, was Psychotherapie ausmacht (Selbstorganisation!) und warum ich bis auf den heutigen Tag gerne systemisch„therapiere“…

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