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Diagnose: Besonderheit

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S. Klar & L. Trinkl (Hrsg.) (2015): Diagnose Besonderheit

S. Klar & L. Trinkl (Hrsg.) (2015):
Diagnose Besonderheit

Schon im vergangenen Jahr habe ich im systemagazin auf das von Sabine Klar & Lika Trinkl herausgebene Buch „Diagnose: Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm“ hingewiesen, das 2015 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist. Dort gibt es auch mein Vorwort zu diesem Band zu lesen. Wolfgang Loth hat nun eine Rezension verfasst, die mit einer Empfehlung schließt: „Ich empfehle dieses Buch uneingeschränkt zur Lektüre und zur weitergehenden Beschäftigung damit. Dies aus zwei Gründen: zum einen wegen der faszinierenden Fülle von hilfreichen Anregungen im Hinblick auf lebensvalide Problemsituationen, für die es – wenn man redlich damit umgehen will – keine vorgefertigten Antworten geben kann. Zum anderen, weil dieses Buch drei zentrale Qualitäten systemischen Denkens und daraus abgeleiteten Handelns verdeutlicht: unerschrockenes Respektieren (sensu Jürgen Hargens) sowie: jeden Ausgangspunkt als Grundlage für einen nächsten guten Schritt zu würdigen. Und schließlich: ein lebendiges Bündnis zwischen Forschergeist und Blick für Würde. Unbedingt Lesen!“ Aber lesen Sie selbst…

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

„An den Rändern der Norm“ zeigt sich in der Regel, was „wirklich“ in einem Ansatz steckt, in einer Idee, und insbesondere in Ideen und Konzepten darüber, was es in der Not braucht, um hilfreich zu wirken. Im Inneren der Norm, sozusagen, innerhalb ihres wohlgeordneten Sortiments an Prämissen, Methoden und Instrumenten, verteidigt sie, die Norm, ihr Sosein mit mehr oder weniger selbstbewusstem Gestus: Man hat sich anzupassen an die Hilfegegebenheiten, sonst funktioniert es nicht. Und so haben sich in den letzten Jahrzehnten Mittel und Wege etabliert, dieses Hilfehandeln zu kanalisieren, wissenschaftlich zu definieren, sozialrechtlich zu ordnen und ausbildungstechnisch zu einem sicheren Geschäft zu machen. Helfen findet in geordneten Bahnen statt. Sofern es gelingt. Im Alltag des Hilfehandelns ergeben sich jedoch oft genug Konstellationen und Situationen, die, selbst unter ansonsten „normalen“ Umständen, zu irritieren vermögen – was Martin Hautzinger, Hochschullehrer und Aushängeschild der kognitiven VT, seinerzeit zu dem Ausruf veranlasste: „So wie es im Lehrbuch steht, funktioniert es nicht“[1].

Das vorliegende Buch erweist sich nun als ein Kompendium von Erfahrungen und Ideen, wie es gehen kann, wenn man sich nicht von normierten Vorstellungen des Helfens einschüchtern lässt – und auch nicht von Anlässen, die herkömmliche Vorstellungen von einem einigermaßen tragfähigen Leben unterlaufen, womöglich attackieren. Sabine Klar und Lika Trinkl haben mehr als ein Dutzend Autor_innen gewinnen können, aus ihren außergewöhnlichen Arbeitsbereichen zu berichten. Das Außergewöhnliche besteht hier nicht in der inneren Not der betroffenen Personen „an sich“ – das ist schließlich Alltag auch im üblichen psychosozialen Hilfehandeln. Das Außergewöhnliche sind hier die Kontexte, in denen sich dieses Hilfehandeln zu bewähren hat, und für die es nicht selten erst einmal Türen öffnen muss, nicht zuletzt bei denen, denen die Hilfe gelten soll. Durch die Bank handelt es sich um Beschreibungen, die nicht abgehoben daherkommen, sondern den Stallgeruch des unmittelbar Erfahrenen an sich haben. Sie verlieren sich dabei jedoch nicht im – was ja denkbar wäre – Aufwühlenden der jeweiligen Zustände, sondern vermitteln auf eine ruhig-konzentrierte Weise, wie auch im Außergewöhnlichen ein guter Zugang zu den Menschen möglich ist, um die es da geht. Dem praktisch-genauen Blick der AutorIinnen für einzelne Themenbereiche und Personen fügt Tom Levold in seinem Vorwort eine zusammenfassende Bemerkung hinzu. Er kennzeichnet die systemische Perspektive als die „gemeinsame Klammer aller Beiträge […], die es erlaubt, die sozialen und politischen Kontexte von Wahrnehmen, Fühlen und Verhalten konsequent in den Blick zu nehmen, anstatt die Schwierigkeiten der Klienten individualdiagnostisch zu entkontextualisieren“ (S.8).

Auf andere, wenn auch ebenfalls treffsichere Weise bündelt die Mitherausgeberin Sabine Klar am Ende ebenfalls die Eindrücke, die sich aus den versammelten Beiträgen ergeben. In ihrem Aufsatz „Zugang zu Menschen finden. Eigenarten in den Blick bekommen“ heißt es z.B.: „In einer Psychotherapie, wie dieses Buch sie versteht, wird jedes Besondere in seiner jeweiligen Eigenart normal – und das heißt auch ihm entsprechend und damit besonders – behandelt“ (S.213). Humanethologische Erwägungen schaffen hier einen reizvollen Rahmen für systemische Erkundungen dessen, was miteinander geht, wenn nichts mehr zu gehen scheint. Der Metapher des „Viechs“ entspringen kräftigende und anregende Impulse im Umgang mit Menschen, die „sich sozusagen in ihrer geistigen Umwelt selbst verloren“ gehen (S.217). Über Orientierungsthemen wie Macht/Ohnmacht, Identität, Raum, Imponieren/Beschwichtigen (u.a.) erschließt sich letztlich das „therapeutische Gespräch als Ort der Beheimatung“ (S.228).

Die inhaltlichen Themen dieses Readers sind vielfältig. Sie reichen von der Arbeit mit Kindern der Shoa-Überlebenden, Regenbogen- und Queere Familien, Gerontopsychosoziale Hilfen, über die Arbeit mit blinden Personen, Arbeitssuchenden, Obdachlosen, Asylsuchenden und Flüchtlingen, zur ambulanten Drogenhilfe und mobiler Psychotherapie, schließlich zu einem Erfahrungsbericht über die Arbeit im Psychotherapieprojekt „Therapeut_inneninitiative für Randgruppen und andere Menschen“ (TIRAM). Zwischendrin findet sich ein Interview mit Ferdinand Wolf zur Bedeutung der Inklusion von Kleinkindern in die systemische Therapie, auch sie eine Randgruppe im Therapiegeschäft, wenn auch meist unter anderen Prämissen.

Jeder dieser Beiträge vermittelt in sowohl nachvollziehbarer, als auch erhellender Art und Weise, worauf es ankommt, wenn herkömmliche (oder „einfache“) Zugangswege verstellt erscheinen. Vermitteln, wie ein zugewandtes, ungekünsteltes Sich-zur-Verfügungstellen die Bedingung der Möglichkeit eröffnet, dem Besonderen der jeweiligen Lebenssituation etwas abzugewinnen, was vielleicht weiterhilft. Dieses „vielleicht“ meine ich dabei nicht als Einschränkung, sondern vielmehr als Validierung der jeweiligen Ansätze. In keinem der Beiträge werden Orden verteilt oder Gewissheiten verkündet. Es handelt sich durch die Bank um glaubwürdige und Hoffnung stiftende „Versuche“. Ein unverdrossenes Umgraben des Weinbergs, immer wieder neu, immer wieder achtsam, konzentriert – und mit der Bereitschaft, das füreinander „in Frage zu stellen“. Im besten Sinne: zur Reflexion zur Verfügung stellen. Es soll die anderen Beiträge in keiner Weise schmälern, wenn ich aus einem Beitrag etwas genauer zitiere. Johannes Schneller schreibt über „Das Auftragsdilemma zwischen Betreuung, Beratung und Psychotherapie“ (S.90ff.). Es geht hier um Erfahrungen mit „einfach strukturierten Menschen“ im betreuten Wohnen. Wie Schneller sich hier mit der von Ludewig vorgeschlagenen Differenzierung psychosozialer Hilfen (Anleitung, Beratung, Begleitung, Therapie) auseinandersetzt und dies in einer akut zugespitzten Situation wirksam werden lässt, ist schon beispielhaft. Zu der hier dargestellten Situation gehört die Erkenntnis, dass die „Vertrauensbeziehung, die sich zwischen mir und der Klientin entwickelt hat, […(von Behörden, Anm. WL)] als Mittel im Dienst der Durchsetzung gesellschaftlicher Vorstellungen benutzt (wird), ihr Intimbereich gestört, was sie entmachtet, ihre Identität gefährdet und vielleicht zu weiteren Krisen führt“ (S.100). „Wenn das Gesundheitsamt kommt, wird ausgeräumt oder sie verliert die Wohnung. Kann Frau E. ihren restlichen Spielraum, ihre restliche Handlungsfreiheit nutzen? Muss ich wissen, was richtig ist, und eingreifen? Entspricht das meiner systemischen Haltung?“ (S.99). Genau so, genauso ernsthaft, genauso konsequent bedacht und (im weiteren Verlauf) genauso konsequent umgesetzt stelle ich mir eine kompetente und reflektierte Umsetzung systemischen Denkens in professioneller psychosozialer Praxis vor. Das bringt weiter. Weiter als jede normative Vorausentscheidung.

Ich empfehle dieses Buch uneingeschränkt zur Lektüre und zur weitergehenden Beschäftigung damit. Dies aus zwei Gründen: zum einen wegen der faszinierenden Fülle von hilfreichen Anregungen im Hinblick auf lebensvalide Problemsituationen, für die es – wenn man redlich damit umgehen will – keine vorgefertigten Antworten geben kann. Zum anderen, weil dieses Buch drei zentrale Qualitäten systemischen Denkens und daraus abgeleiteten Handelns verdeutlicht: unerschrockenes Respektieren (sensu Jürgen Hargens) sowie: jeden Ausgangspunkt als Grundlage für einen nächsten guten Schritt zu würdigen. Und schließlich: ein lebendiges Bündnis zwischen Forschergeist und Blick für Würde. Unbedingt Lesen!

[1] Martin Hautzinger (1999) So wie es im Lehrbuch steht, funktioniert es nicht! Psychotherapeut 44(1): 44-45

(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 1/2016)

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