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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Zitat des Tages: Niklas Luhmann

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“Im Rahmen der Theorie selbstreferentieller Systeme ergeben sich ganz andersartige Möglichkeiten, den Sinn der politischen Wahl zu begreifen. Ein erster Schritt liegt in der Neudefinition von Demokratie als Austauschverhältnis von Regierung und Opposition, also als Zweitcodierung politischer Amtsmacht. Darüber muß in der politischen Wahl entschieden werden. Auch nach diesem Konzept bleibt also die politische Wahl der Kern des Demokratieverständnisses. Dazu gehört, daß die politische Wahl politisch nicht kontrolliert werden kann, also frei und geheim durchgeführt wird. Das Verhindern einer politischen Kontrolle der politischen Wahl durch die regierenden Parteien erzeugt einen Strukturbruch, eine Selbstreferenzunterbrechung im politischen System. Dadurch wird gesichert, daß das politische Geschäft nicht einfach in der Kontinuität bisheriger Politik weiterläuft. Statt dessen wird, und das ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft konfrontiert. Das schließt es nicht schlechthin aus, daß man zu erraten versucht, welche politischen Entscheidungen eine positive Resonanz finden und eine Wiederwahl bzw. eine Übernahme der Regierung durch die bisherige Opposition begünstigen könnten. Es geht also nicht um eine Art Blindflug ohne Geräte und auch nicht, in alter Weise gesprochen, um die Reduktion von Politik auf fortune. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Es gibt natürlich nach wie vor auch die Unsicherheit, die aus einer turbulenten, übermäßig komplexen Umwelt resultiert, also etwa aus der Eigendynamik von Wirtschaft und Wissenschaft, aber diese Unsicherheit wird zunächst aufgefangen dadurch, daß das System selbst eigene Ungewißheit produziert und sich insofern nicht (oder nur mit Vorbehalt von Änderungen) festlegen kann. Im Verhältnis zur Umwelt erreicht das System so„requisite variety”, aber nur dadurch daß es die Unbestimmtheit der Umwelt durch eigene Unbestimmtheit kompensiert. Der Vorteil ist, daß man mit interner Unbestimmtheit besser umgehen kann als mit externer, und zwar durch Entscheidungen“ (In: Die Politik der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002).

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