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systemagazin Adventskalender: Wie ich lernte, systemisch zu denken – Eine Einredung

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19adventHeiko Kleve, Potsdam: Wie ich lernte, systemische zu denken – eine Einredung

Ich habe bis zur Wiedervereinigung, also bis zum 3. Oktober 1990, in der DDR gelebt, in einem Land, in dem es für die meisten Menschen mindestens zwei, wenn nicht drei äußerst relevante soziale Wirklichkeitskontexte gab: 1. die private, familiäre oder Nischenwirklichkeit, die häufig auch von der medialen Wirklichkeit des Westfernsehens geprägt wurde; 2. die offizielle realsozialistische Wirklichkeit, die in den Betrieben, Behörden, Schulen oder anderen öffentlichen Bereichen beobachtet werden konnte und 3. – für bewusst politisch Oppositionelle – die kritische Kirchenwirklichkeit. Jeder dieser unterschiedlichen Realitätskontexte forderte eine andere Denk- und Handlungsweise sowie die Beachtung anderer, ja sich widersprechender Kommunikationsregeln.

Ich selbst bin in einer kleinen Stadt in Mecklenburg in einer Handwerkerfamilie aufgewachsen. Im Kreis der Familie, unter Freunden und Bekannten wurde viel über die Verhältnisse in der DDR gemeckert, z.B. darüber, dass in den Geschäften ein so karges Warenangebot besteht, so dass es dieses oder jenes schon wieder nicht zu kaufen gab. Davon ausgehend schwärmten die meisten von dem reichhaltigen Warenangebot des Westens, welches wir in der Werbung von ARD oder ZDF täglich zu sehen bekamen. Außerdem wurde sich über die westdeutschen politischen Verhältnisse unterhalten, während die Politik der DDR kaum interessierte, da sich dort keine kommunikativ relevanten Ereignisse abzuspielen schienen.

In der Schule erlebte ich eine in Bezug zur familiären Wirklichkeit diametral entgegengesetzte Realität. In wöchentlich von uns Schülern durchzuführenden Politikinformationen wurden die Errungenschaften des Sozialismus angepriesen, z.B. dass es im Gegensatz zur BRD in der DDR keine Armut, keine Obdach- und Arbeitslosigkeit gab. Um nicht aufzufallen, durften die im familiären Kreis relevanten Themen in der Schule nicht angesprochen werden, zumindest nicht in der Art, dass Lehrer dies hörten. Es musste ein Anschein der hundertprozentigen Konformität gewahrt werden, wenn man seine Ruhe haben wollte, und die wollten die meisten haben.

Ich lernte bereits sehr früh, dass es, um diese Ruhe zu erhalten, nötig ist, zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten erfolgreich switchen zu können. Wichtig war in diesem Zusammenhang zu beobachten, wie in den unterschiedlichen Kontexten beobachtet wurde, um seine eigenen Beobachtungen darauf einzustellen. Deshalb waren die Übergänge von der einen Wirklichkeitssphäre in die andere genau zu beachten; denn man musste wissen: wann und wo kann man privat, und wann, wo und wie muss man offiziell beobachten. Diese Übergänge konnten glücklicherweise sehr leicht an Personen festgemacht werden. So erinnere ich mich z.B. an einen Elternbesuch meiner Lehrerin bei uns zu Hause. Kurz bevor die Lehrerin kam, wurde der Konverter versteckt; das war jenes Gerät, welches bei DDR-Fernsehgeräten den Westfernsehempfang ermöglichte. Die Lehrerin sollte nicht sehen, dass bei uns ARD und ZDF angeschaut wurde. Dieses Beispiel ist keineswegs ungewöhnlich, denn es ging eigentlich permanent darum, Privates vor der Öffentlichkeit zu verstecken, weil man meinte, dies könnte aus der offiziellen Perspektive so beobachtet werden, dass es als nicht systemkonform, als staatsfeindlich bewertet wird. Die Menschen mussten sich gewissermaßen permanent zirkuläre Fragen stellen, z.B.: Was würden die anderen, vor allem die Vertreter des Staates denken und tun, wenn ich dies oder das sage, unterlasse, tue oder zeige? Die Menschen schienen sich klar darüber zu sein, dass nicht so sehr ihre subjektiven Intentionen ihrem Handeln soziale Relevanz gaben, sondern vielmehr die sozialen, kommunikativen Zuschreibungsprozesse, die Attributionen der Öffentlichkeit, wie dies Niklas Luhmann (1984) in seiner Kommunikationstheorie betont. Das erwähnte permanente Stellen der zirkulären Fragen sensibilisierte mich für die Bi- bzw. Tri-Kontextualität der DDR; je nachdem in welchen Kontext ich mich befand, musste ich die Wirklichkeit verschiedenartig beobachten. Das, was in dem einen sozialen Kontext gesagt wurde, durfte in dem anderen kaum gedacht werden. So wurde ich empfindlich für die Relativität von Wirklichkeitskonstruktionen, und das in einem Land, in dem man offiziell Absolutheiten postulierte, in einem Land, in dem eine der großen Metaerzählungen der Moderne (vgl. Lyotard 1979), die Emanzipation des arbeitenden Subjekts von Unterdrückung und Ausbeutung, realisiert werden sollte. Getragen von der Hegelschen Vorstellung, dass das Ganze das Wahre sei (vgl. Welsch 1993, 173), versuchte man in der DDR alle Differenzen unter dem Banner der politischen Einheit einzuebnen, legitimiert von einem „Wissen“ das sich selbst als „wahr“ charakterisierte, indem es vorgab, das Bewusstsein dermaßen strukturieren zu können, dass es das gesellschaftliche Sein objektiv widerspiegeln könne.

Und mit einem Mal zersprang die Ganzheit, die es sowieso nur offiziell gab, die in privaten Diskursen seit jeher untergraben wurde. Mit dem Fall der Mauer brach die Totalität, brach das Festhalten an der Ganzheit zusammen. Plötzlich wurde ich überwältigt von einer Flut von Möglichkeiten und Differenzen. Nicht mehr offizielle Einheit bzw. inoffizielle Zweiheit, sondern Vielheit und Differenz waren plötzlich überall beobachtbar – und das in positiver wie in negativer Hinsicht. Plötzlich konnte ich aus meiner DDR-Biographie heraustreten und etwas anderes machen, ich konnte z.B. die vorgegebene Bahn meiner damaligen Berufswelt verlassen und Sozialarbeit/Sozialpädagogik studieren. Ich wurde damit konfrontiert, dass ich von nun an immer wieder neu und vor allem selbst entscheiden musste, wie mein Leben weitergehen soll; Ambivalenzen und die Angst, Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen, standen damit ebenfalls auf der Tagesordnung. Überdies sah ich mit dem Einbruch der „postmodernen Moderne“ (Welsch) in meine Lebenswelt allerdings ebenfalls, dass das plötzliche Blühen der Differenz auch die Konsequenz hatte, dass viele Menschen in die Arbeits- und Obdachlosigkeit fielen, verarmten etc. Jedenfalls konnte ich in dieser Zeit selbst erfahren, was ich einige Zeit später bei Philosophen wie Jean-François Lyotard (1979) oder Wolfgang Welsch (1993) las: das offensichtliche, nicht mehr aufhaltbare soziale Zersplittern der krampfhaft festgehaltenen Einheit in Pluralität, Differenz und Heterogenität sowie die Unmöglichkeit, dauerhafte diskursive Konsense zu bilden, da schon im nächsten Moment der Widerspruch, der Dissens wahrscheinlich sein wird.

Das Beginnen und Enden von Diskursen mit Dissens und Widerspruch erlebte ich auch bei meinem politischen Engagement während der Wendezeit in Organisationen der linken DDR-Opposition. Hier gab es kaum einheitliche Vorstellungen über das politische Ziel, das nach dem tschechoslowakischen Motto der sechziger Jahre als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ umschrieben wurde. Vielmehr tobte der Streit darüber, was angesichts der „kapitalistischen Konterrevolution“, wie sich einige ausdrückten, für die Ost-Linke zu tun sei. Diese Konflikte verschärften sich noch dadurch, dass sie natürlich keineswegs in postmoderner oder konstruktivistischer Weise ausgetragen wurden. Denn meistens schien es mir, dass jede der diskutierenden Parteien sich das Urteil anmaßte, nur die eigene Meinung sei die legitime und wahre, während die Meinungen der anderen illegitim und falsch seien. Ich entdeckte auch in diesen Diskursen jenes Prinzip wieder, das in der DDR von offizieller Seite postuliert wurde: Es kann nur eine wahre Beschreibung geben; alles, was mit dieser nicht kompatibel ist, muss zwangsläufig falsch sein.

Wenn ich also heute zurückblicke und mich frage, wie der Konstruktivismus und die Theorie der Postmoderne für mich zur praktischen Theorien wurden, dann komme ich nicht umhin, die beschriebenen Erfahrungen als Kontext für meine theoretischen Interessengebiete anzusehen. Denn die für mich relevante Bi-Kontextualität der DDR forderte von mir bereits ein Denken, das die Erfahrung der Kontingenz von Sichtweisen ermöglichte. Ich musste in meine eigene private Perspektive die offizielle Perspektive aufnehmen und zwischen beiden adäquat wählen können. Die Komplexität und Relativität der sozialen Wirklichkeiten erfuhr ich dann insbesondere mit dem Zusammenbruch der DDR, der mich aus der übersichtlichen Dualität, die offiziell als Einheit kaschiert wurde, in eine unübersichtliche Pluralität der Wirklichkeits- und Lebensentwürfe katapultierte. So erlebte ich und natürlich auch alle anderen Ostdeutschen in kürzester Zeit den qualitativen Sprung von der einheitssüchtigen Moderne zur Postmoderne bzw. postmodernen Moderne, in der das konstruktivistische Denken besonders zu passen scheint, wie Theodor M. Bardmann (1995) in einem Aufsatz aus soziologischer Perspektive sehr anschaulich gezeigt hat.

Literatur:

Bardmann, Th. M. (1995): Konturen konstruktivistischen Denkens in der ‘postmodernen Moderne’. In: Kersting, H. J.; Hernández Aristu, J.; Budai, I. (Hrsg.): Ausbildung für die Soziale Arbeit auf europäischem Level. Mönchengladbach: FHN

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Lyotard, J.-F. (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen 1994

Welsch, W. (1993): Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie. 4. Auflg.

 

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