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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Pubertiere und andere Viechereien

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Wolfgang Traumüller, Osthofen:

Nicht nur Professionellen sondern allen, die sich mit Problemen und Lösungen von Heranwachsenden abmühen, tut es gut, einen Blick auf das evolutionäre Gepäck zu werfen, das sie und wir alle mit uns herum tragen. Nicht zuletzt aber sicher auch diesen Jungen selbst! Die Verfasserinnen haben das auf der Basis von unglaublich reichhaltigem Material und eigenen Forschungen auf ungewöhnliche und spannende Weise unternommen.

Was im Englischen den Titel „Wildhood“ trägt und damit Bezug nimmt auf abgegrenzte klassische Begriffe wie „childhood“ oder „adulthood“ und sich zugleich originell und qualitativ von ihnen absetzt, ist dieser Tage in deutscher Sprache erschienen und verfolgt die Absicht, dem Wesen der Adoleszenz auf den Grund zu gehen, dem die Verfasserinnen sich im Vergleich entwicklungsgeschichtlich über Arten und Lebensspannen hinweg nähern. Vielfältige Forschungsergebnisse aus aller Welt werden dabei durch eigene Erhebungen und Interviews ergänzt und miteinander verwoben. Der Ertrag ist im strengen Sinn gottlob kein „Lehrbuch“, wie es der unglückliche deutsche Untertitel vermuten lassen könnte, sondern eine Sammlung von 1001 Fingerzeigen, die uns auf einer abenteuerlichen Entdeckungsreise durch zunächst fremd erscheinende Welten manches Aha-Erlebnis nicht vermeiden helfen.

Barbara Natterson-Horowitz ist Gastprofessorin am Institut für menschliche Evolutionsbiologie in Harvard und Professorin für Medizin und Kardiologie an der University of California in Los Angeles (UCLA), wo sie das Programm für Evolutionsmedizin mitbegründet hat. Ihr TED-Talk über artenübergreifende medizinische Forschung hat Millionen Zuschauer erreicht. 

Kathryn Bowers ist Wissenschaftsjournalistin und hat an der UCLA Medizinisches Schreiben und vergleichende Literaturwissenschaft gelehrt. Sie ist Future Tense Fellow von New America in Washington, DC.

Beide haben gemeinsam den New-York-Times-Bestseller „ Zoobiquity“ geschrieben (dt. „Wir sind Tier. Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können“, Knaus-Verlag, München 2014), was schon im Titel das inhaltliche Rückgrat ihrer neuesten Publikation und ihre neue Sichtweise markiert: das Tier (gr. „zoon“, Lebewesen; lat. „ubique“, überall) ist überall, auch in uns und wir in ihm.

An vier real existierenden, sehr artverschiedenen Tiergestalten exemplifizieren sie wesentliche Lebensthemen Heranwachsender: dem Königspinguin Ursula in der Antarktis, der Tüpfelhyäne Shrink im tansanianischen NgoroNgoro-Krater, dem Buckelwalfräulein Salt vor der nord- und mittelamerikanischen Ostküste und dem Wolf Slavc in Slowenien und den österreichischen und italienischen Alpen. Sie alle wurden auf Zeit vermittels persönlicher Beobachtung und modernster Technik in jahrzehntelangen Detailerhebungen von Forscherteams auf ihren Wegen als „Pubertiere“ begleitet.

Ihre sorgfältig beforschten Entwicklungs- und Wanderwege werden beschrieben um vier wesentliche Grundthemen des Lebens: Sicherheit, Status, Sex und Selbständigkeit.

Viele Einzelthemen werden hier abgehandelt: Unerfahrenheit und „Naivität qua Nativität“ inmitten risikoreicher Umwelten, die Natur der Angst, die Begegnung mit (Fress-)Feinden, die Herausbildung von Selbstbewusstsein und (Schwarm-)Intelligenz in der Schule des Überlebens. Das Erleben von Bewertungen, Erlernen von Gruppenregeln, Privilegien vs. Mangelerleben in Hierarchien, Freuden und Schmerzen sozialen Auf- und Abstiegs, Mobbings und Ausgegrenztwerdens, Bedeutung und Macht von Freundschaft und sozialer Kompetenz. Sexuelle Liebe und Zuneigung, Begehren und Zurückhaltung, das „erste Mal“, Zwang und Zustimmung, Kompetenz und Inkompetenz der Paarung. Bindung und Ablösung, ihre variablen Sozialgestalten und Ambivalenzen, Sorgen für den eigenen Lebensunterhalt, Kunst und Bedingungen des Ganz-Allein-Seins und zu sich selbst Findens. Das ganze nicht als eine lineare Entwicklung, sondern in einer relativen Zirkularität natürlicher Schleifen, die Anfang, Mitte und Ende oft vage, weil auch beobachterabhängig, erscheinen lassen.

Wer wäre zumindest einigen von diesen Phänomenen in seinem Leben noch nicht begegnet? Unterwegs schlagen die Verfasserinnen immer wieder Brücken zur menschlichen Entwicklung sowie vielerlei Beispielen aus der reichen Tierwelt und ihren Kinderstuben, konturieren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Manchmal kann man sich der Idee nicht erwehren, es dämmerten Zeiten herauf, wo der Anruf mit einem Tiernamen nicht mehr einer Beleidigung, sondern einem Kompliment gleichkäme. Frans de Waals umfangreiche Forschungen an Primaten und Großsäugern haben solch komparativen Ahnungen schon längst den Weg gebahnt. Wenn, ja, wenn da nicht auch die dunklen Seiten wären: List, Schikanen, Nötigung, Gewalt, erzwungener Sex und brutale Vergewaltigungen, außerhalb wie innerhalb der Grenzen des eigenen Geschlechts, gegenüber den eigenen Jungen und sogar artenübergreifend, wie etwa antarktischer Seebär auf Königspinguin oder männlicher Seeotter auf jungem Seehund. Wie es unter Menschen gelegentlich recht tierisch zugeht, scheint es auch umgekehrt unter Tieren hier und da massiv zu „menscheln“, wenn man in der alten Nomenklatur bleiben will. So erscheint dann die Geschichte der Arten zugleich auch als deren Kriminalgeschichte. Zoobiquity!

Die Verfasserinnen bieten viele überraschende Einsichten, die oft heiter und gelassen stimmen, weil man sich ertappt fühlt und in Gemeinschaften gestellt, in denen man sich noch niemals sah, und weil es offenbar so ist, wie es ist – auch mit dem, was man Entwicklung der Arten nennt. Aber auch die Klippen und Gefährdungen des langen und sehr variablen Prozesses der Adoleszenz werden sehr deutlich, den nicht alle gut und ohne Makel überstehen, selbst wenn sie ihn überleben, was sehr viele Tierkinder keineswegs tun!

Wie auch Hirnforscher, wie z.B. Gerhard Roth, allzu großem pädagogischen und psychotherapeutischen Enthusiasmus entgegenhalten: Hirn ist Hirn und damit auch zu Materie geronnene individuelle und soziale Erfahrung aus der zurückgelegten Lebensspanne samt ihrem evolutionären Widerschein, die so schnell nicht zu unterlaufen oder zu toppen ist, sondern – wenn denn schon – zur Veränderung ihrer Bahnungen, i.e. materialen Substrats, sehr viel Zeit und neue Erfahrungen und Erkenntnisse braucht, um alte zu über- oder neu zu schreiben. Ein Riesenunternehmen und zugleich eine großartige Sache!

Ein unglaublich detailreiches, anregendes und nachdenklich machendes Buch für jeden kleinen Zweig am Baum oder gar der Krone der Schöpfung, wenn Mensch so will, sofern er des Lesens mächtig ist!

In systemischer Hinsicht bietet es aufgrund seines wie durch ein Prisma aufgefächerten Blicks reiches Material individueller und struktureller Beobachtungen, Vergleichspunkte und erweiterte Ansätze zur Hypothesenbildung, gerade weil es keinerlei pädagogischen oder therapeutischen Ambitionen verfolgt.

Anschauliche Skizzen und Grafiken, 52 Seiten minutiöse wissenschaftliche Anmerkungen und Quellenangaben, ein Glossar sowie ein Index runden das angenehm leicht lesbare Werk ab für diejenigen, die die Themen für sich weiter vertiefen wollen. Die deutsche Übersetzung von Susanne Warmuth hat all dem vorzüglich Rechnung getragen.

Wie gelegentlich im Leben, ergibt sich in diesen Tagen der Corona-Pandemie nicht nur die Möglichkeit, einer ebenso sinnvollen, unterhaltsamen wie bildenden Lektüre für Jung und Alt, sondern auch die auf leichte Art trostvolle Einsicht, inmitten der Fährnisse des Lebens in der Vielfalt der Arten, ihrer Lust und ihrem Leid alles andere als allein zu sein, ohne daß der liebe Gott auch nur von Ferne bemüht werden müsste. Auch das ist eine gute und existentiell bedeutsame Nachricht, die so beim Verfassen noch niemand im Blick haben konnte.

Ein Tierbuch, das es in sich hat, weil es uns alle als Tiere betrachtet. Und das ist gut so.

Barbara Natterson-Horowitz & Kathryn Bowers (2020): Junge Wilde. Was uns der Blick in die Tierwelt über das Erwachsenwerden lehrt. München (Penguin)

Hardcover, 424 S.
ISBN: 978-3-328-60037-4
Preis: 22,00 €

Verlagsinformation:

Erwachsenwerden: Lernen von der Natur. Ambitionierte Tiger Mom oder gelassene Panda Mom – was können wir wirklich aus dem Tierreich lernen, wenn es um das Thema Erwachsenwerden geht? Vor allem eins: Das Pubertier ist überall! Die „schwierige Phase“ zwischen Kindheit und Erwachsensein hält Pinguineltern, Wale und Wölfe auf Trab. Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers, Spezialistinnen auf dem Gebiet der artenübergreifenden Forschung, schildern erstaunliche Beobachtungen, von aufmüpfigen Hyänen, draufgängerischen Gnus und nesthockenden Adlern. Sie alle brauchen Übung und Erfahrung, um selbständig zu werden und ihr Überleben zu sichern. In Zeiten von überhitzten Erziehungsdebatten hält dieses Buch an zu Gelassenheit, Geduld und Nachsicht mit Heranwachsenden und gibt Eltern und Lehrern Grund zur Entspannung. Nature Writing mal anders!

Über die Autorinnen:

Barbara Natterson-Horowitz ist Gastprofessorin am Institut für menschliche Evolutionsbiologie in Harvard. Außerdem ist sie Professorin für Medizin und Kardiologie an der University of California, Los Angeles, wo sie das Programm für Evolutionsmedizin mitbegründet hat. Zusammen mit Kathryn Bowers hat sie den New-York-Times-Bestseller „Zoobiquity“ geschrieben, der bei Knaus unter dem Titel „Wir sind Tier“ erschien. Ihr TED-Talk über artenübergreifende medizinische Forschung hat Millionen Zuschauer erreicht.

Kathryn Bowers ist Wissenschaftsjournalistin und hat an der University of California Medizinisches erzählerisches Schreiben und vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet. Sie ist Future Tense Fellow von New America in Washington, DC, und Co-Autorin von „Wir sind Tier“.

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