systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

19. September 2015
von Tom Levold
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Ächtung des Selbstlobs und Probleme der Kompetenzdarstellung

Stefan Kühl

Stefan Kühl

In einem spannenden Beitrag für den von Thomas Kurtz und Michaela Pfadenhauer 2010 im VS Verlag herausgegebenen Band „Soziologie der Kompetenz“ befasst sich Stefan Kühl, Soziologe und Systemtheoretiker an der Universität Bielefeld (Foto: uni-bielefeld.de) mit dem Problem der Kompetenzdarstellung von Professionellen. Seine These lautet, „dass es in vielen Bereichen notwendig ist, vom Klienten als kompetent wahrgenommen zu werden, um überhaupt seine Kompetenzen anwenden zu können. Jeder, der mit Klienten arbeitet, ist gezwungen, nicht nur kompetent zu agieren, sondern bei den Kunden auch Kompetenzvermutungen zu mobilisieren: Ein Friseur ist darauf angewiesen, seinen Kunden Kompetenz zu signalisieren, damit ihm diese eine möglichst störungsfreie Beschneidung ihrer Haare erlauben. Ein Beratungsteam muss dem Klienten die Sicherheit vermitteln, dass es ein Problem lösen kann – und zwar auch dann, wenn es das erste Mal auf so ein Problem stößt und keine bewährten Routinen für dessen Lösung hat.“ Es bedarf also nicht nur des Vorhandenseins von Kompetenzen, sondern auch einer Kompetenzdarstellung, die es den Klienten ermöglicht, Kompetenzen den Professionellen zuzurechnen. „Eine Psychoanalyse setzt eine Aneinanderreihung gelungener Interaktionen zwischen Analytiker und Klient voraus. Damit die Interaktion mit dem Klienten gelingt, ist es notwendig, dass dieser die Aneinanderreihung von „Hmms“, „Hmms“ nicht als Sprachfehler des Analytikers, sondern als kompetente professionelle Gesprächsführung begreift. Auch der Erfolg eines Gesprächs zwischen Supervisor und Supervisand, zwischen Coach und Coachee stützt sich darauf, dass der Klient dem Berater eine Kompetenzvermutung entgegenbringt. Aber wie macht man das? Wie erzeugt man beim Klienten eine Kompetenzvermutung?“ Offensichtlich ist man als Angehöriger einer Profession nicht gut beraten, die eigene Kompetenz zu direkt („Selbstlob“) in den Blick zu rücken, weil dies Zweifel und Irritationen darüber weckt, wie es denn mit der Kompetenz bestellt ist, wenn so nachdrücklich auf sie hingewiesen wird. Es zeigt sich, dass das Problem der Kompetenzdarstellung Paradoxien eröffnet, die nicht ohne weiteres grundsätzlich zu lösen sind. Der Text ist auf der website von Stefan Kühl zu lesen, und zwar hier…

18. September 2015
von Tom Levold
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Warum die Beschäftigung mit Philosophie für Psychotherapeut(inn)en nützlich sein mag

Peter Kaimer

Peter Kaimer

Ich lese momentan mit großem Interesse und Gewinn „Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik“ des Philosophen Michael Hampe, der an der ETH in Zürich lehrt. Das Buch ist 2014 im Suhrkamp-Verlag erschienen und kontrastiert die Tradition einer behauptenden mit der einer erzählenden Philosophie. Dabei ist ihm die sokratische Perspektive des radikalen Fragens und in-Frage-Stellens ein Leitmotiv. In der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung (4/2014) hat Peter Kaimer aus Bamberg (Foto: psychotherapie-stadler-kaimer.de) einen schönen Rezensionsessay über diesen lesenswerten Band verfasst, der auch auf seiner website zu lesen ist, und zwar hier…

17. September 2015
von Tom Levold
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International Systemic Research Conference Heidelberg University, March 8-11 2017

forschungskogress-2017-first_announcementIm März 2017 wird der zweite Internationale Systemische Forschungskongress in Heidelberg stattfinden, der gemeinsam mit der Forschungstagung 2014 die lange deutschsprachige Tradition der Heidelberger systemischen Forschungstagungen in ein europäische Kongressformat überführt hat. Jetzt ist die erste Ankündigung der Kongresspräsidenten Jochen Schweitzer und Matthias Ochs heraus:

„Dear Colleague:

Encouraged by the quality and atmosphere of the March 2014 European Systemic Research Conference with 300 participants, it is with pleasure that we now announce the 2017 conference. It is intended to become an international conference, with sponsoring associations and participants even beyond Europe. The conference venue will be the same: New University building in Heidelberg Old City. It will be slightly longer, from Wednesday to Saturday, allowing for more in-depths discussions and informal exchange. Fees will vary by countries, to enable colleagues from low income countries to attend. Weiterlesen →

16. September 2015
von Tom Levold
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Unbegleitete Einreisen Minderjähriger aus dem Ausland lassen Inobhutnahmen 2014 stark ansteigen

Im Jahr 2014 hat die Zahl der Minderjährigen, die aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen wurden, stark zugenommen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, kamen 2014 rund 11 600 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung einer sorgeberechtigten Person über die Grenze nach Deutschland, das waren 5 000 Minderjährige oder 77 % mehr als im Jahr 2013 und sechsmal mehr als im Jahr 2009.

Rund 10 500 dieser jungen Menschen (90 %) waren männlich, dagegen reisten nur etwa 1 100 Mädchen unbegleitet nach Deutschland ein. Von den 11 600 eingereisten unbegleiteten Minderjährigen haben im Jahr 2014 laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 4 400 (38 %) einen Asylantrag gestellt.

Insgesamt haben im Jahr 2014 die Jugendämter in Deutschland knapp 48 100 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 5 900 Minderjährige (+ 14 %) mehr als 2013. Der Zuwachs bei den Inobhutnahmen im Jahr 2014 resultierte mit einem Anteil von 85 % ganz überwiegend aus den unbegleiteten Einreisen aus dem Ausland.

Quelle: Pressemitteilungen – Unbegleitete Einreisen Minderjähriger aus dem Ausland lassen Inobhutnahmen 2014 stark ansteigen – Statistisches Bundesamt (Destatis)

16. September 2015
von Tom Levold
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Was soll’s? – Eine Annäherung an »systemisch-plus«

loth_06Unter diesem Titel befasst sich Wolfgang Loth mit der Frage nach der Essenz (und der Zukunft) des Systemischen Ansatzes in einem Text für die Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung aus dem Jahre 2010. Im abstract heißt es: „Die Prägnanz des Begriffs »systemisch« vermag zu täuschen. Die Diskussionen um systemisches Störungswissen zeigten das auf. Sowohl ontologistische als auch konstruktivistische Positionen können im Prinzip sinnvoll mit systemischen Perspektiven in Verbindung gebracht werden. Im vorliegenden Beitrag versuche ich daher, die entsprechenden Prämissen zu entwirren. Es lässt sich ein Kern herausfiltern, der systemische Prämissen zusammenfasst und ein weites Feld von Handlungsoptionen eröffnet (das Fokussieren auf Kontexte als notwendiges Bei-Werk von Systemen, sowie auf das Organisieren von Hilfe über das Berücksichtigen von Sinngrenzen als Hort der System-Umwelt-Dynamik). Die jeweilige Auswahl aus diesen Optionen lässt sich aus dem Kern jedoch nicht eindeutig ableiten. Hier wirken andere Orientierungen. Ich bevorzuge daher die Verknüpfung des Begriffs »systemisch« mit einem »plus«. Das »plus« stände dann für die Absicht, wie ich zu einem systemisch angelegten Hilfegeschehen beisteuern möchte. Ich bevorzuge dabei eine »existenzielle« Orientierung.“

Der Text ist mit freundlicher Erlaubnis des verlag modernes lernen in der Systemischen Bibliothek des systemagazin zu lesen, und zwar hier… 

15. September 2015
von Tom Levold
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Kultur und Migration 2015 – Wege zwischen Flucht und Gestaltung

ZSTB 33(3) - 2015

ZSTB 33(3) – 2015

Aktueller geht es nicht. Momentan ist die Situation der Flüchtlinge in Deutschland und Europa das allbeherrschende Thema. Cornelia Tsirigotis ist als Herausgeberin der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung seit langem an diesem Thema dran – und die aktuelle Ausgabe der ZSTB ist dankenswerterweise wieder diesem Thema gewidmet. In ihrem Editorial schrieb sie im Mai (!): „Während der Vorbereitung zu diesem Heft ertrinken beinahe täglich Flüchtlinge im Mittelmeer und in anderen Weltmeeren, in die Flucht getrieben von Krieg, Armut, Folter, Unterdrückung und unmenschlichen Lebensbedingungen, Die Zahlen aus dem Editorial von ZSTB 3-2014 sind noch gestiegen – und es geht nicht um Zahlen, Kontingente und Verteilung, Hinter jedem einzelnen Menschen auf der Flucht liegt ein Schicksal, liegen Leid und weiteres Leiden und es gibt nur wenig Hilfe zur Bewältigung, Zugleich werden in unserem Land sehr unterschiedliche Bewegungen deutlich: Schulen bemühen sich um pädagogische Konzepte, die Kindern und Jugendlichen, die unfreiwillig unterwegs sind. Teilhabe an Bildung zu ermöglichen, Jugendhilfeeinrichtungen denken sich neue Angebote für Kinder und Jugendliche aus, die u unbegleitet bei ihnen ankommen, ein ganzer Ort bereitet sich mit ehrenamtlichen Helferinnen darauf vor, Menschen, deren Flucht hier ein(vorläufiges) Ende haben soll, einen Ort, ein zu Hause und Hilfen anzubieten, ein Dorf gibt Jugendlichen mit einem Musikprojekt das Gefühl, wichtig und willkommen zu sein. Solange die Arbeit mit Menschen mit Migrationsbiografien und aus fremden kulturellen Kontexten in der psychosozialen Hilfe, in Therapie und Beratung eine Herausforderung bedeutet, bedarf das Thema Kultur und Migration auch weiterhin einer besonderen Aufmerksamkeit. Weiterlesen →

13. September 2015
von Tom Levold
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2014: Jugendämter führten rund 124 000 Gefährdungseinschätzungen für Kinder durch

Die Jugendämter in Deutschland führten im Jahr 2014 rund 124 000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, bedeutet dies einen Anstieg um 7,4 % gegenüber dem Vorjahr. Von allen Verfahren bewerteten die Jugendämter 18 600 eindeutig als Kindeswohlgefährdungen („akute Kindeswohlgefährdung“). Dies ist gegenüber 2013 ein Anstieg um 8,2 %. Bei 22 400 Verfahren (+ 4,7 %) konnte eine Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden („latente Kindeswohlgefährdung“). Der stärkste Anstieg (+ 9,8 %) betrifft 41 500 Fälle, in denen die Fachkräfte des Jugendamtes zu dem Ergebnis kamen, dass zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein weiterer Hilfe- oder Unterstützungsbedarf vorlag. In fast ebenso vielen Fällen (41 600) wurde weder eine Kindeswohlgefährdung noch weiterer Hilfebedarf festgestellt, allerdings mit einem geringeren Anstieg gegenüber 2013 von 6,1 %.
63,6 % der Kinder, bei denen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vorlag, wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf. In 27,2 % der Fälle wurden Anzeichen für psychische Misshandlung festgestellt. Etwas weniger häufig (23,6 %) wiesen die Kinder Anzeichen für körperliche Misshandlung auf. Anzeichen für sexuelle Gewalt wurden in 4,6 % der Fälle von Kindeswohlgefährdung festgestellt. Mehrfachnennungen waren möglich.
Die Gefährdungseinschätzungen wurden in etwa gleich häufig für Jungen und Mädchen durchgeführt. Kleinkinder waren bei den Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls besonders betroffen. Beinahe jedes vierte Kind (24,2 %), für das ein Verfahren durchgeführt wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet. Drei- bis fünfjährige Kinder waren von einem Fünftel (20,0 %) der Verfahren betroffen. Kinder im Grundschulalter (6 bis 9 Jahre) waren mit 22,2 % beteiligt. Mit zunehmendem Alter nehmen die Gefährdungseinschätzungen ab: Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren hatten einen Anteil von 18,3 % an den Verfahren, Jugendliche (14 bis 17 Jahre) nur noch von 15,3 %.
Am häufigsten, nämlich bei 20,4 % der Verfahren, machten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft das Jugendamt auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aufmerksam. Bei 13,1 % der Verfahren gingen Jugendämter Hinweisen durch Bekannte oder Nachbarn nach, bei 12,5 % der Verfahren kamen die Hinweise von Schulen oder Kindertageseinrichtungen. Gut jeden zehnten Hinweis (11,5 %) erhielten die Jugendämter anonym.
Hinweise
Eine Gefährdungseinschätzung gemäß Paragraf 8a Absatz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) wird vorgenommen, wenn dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines/einer Minderjährigen bekannt werden und es sich daraufhin zur Bewertung der Gefährdungslage einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind beziehungsweise Jugendlichen sowie seiner Lebenssituation macht. Diese Abschätzung des Gefährdungsrisikos erfolgt in den Jugendämtern in Zusammenwirkung mehrerer Fachkräfte. Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes/Jugendlichen bereits eingetreten ist oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist und diese Situation von den Sorgeberechtigten nicht abgewendet wird oder werden kann.

Quelle: Pressemitteilungen – 2014: Jugendämter führten rund 124 000 Gefährdungseinschätzungen für Kinder durch – Statistisches Bundesamt (Destatis)

11. September 2015
von Tom Levold
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Die Wunderfrage

Steve de Shazer

Steve de Shazer

Heute vor 10 Jahren ist Steve de Shazer überraschend bei einem Besuch in Wien gestorben.  Im systemischen Feld haben er und sein Milwaukee-Team mit der Begründung des lösungsorientierten Ansatzes einen festen Platz eingenommen. Neben seinen theoretischen Arbeiten haben auch einige Interventionen einen Stammplatz in der systemischen Praxis bekommen, unter anderem die Wunderfrage. Die Vorgehensweise bei der Wunderfrage ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Auf der schweizer website froschkoenige.ch findet sich eine sehr ausführliche Beschreibung des Vorgehens bei der Wunderfrage im Kontext eines Coachings, die aber auch auf andere Beratungskontexte übertragen werden kann. In Erinnerung an Steve de Shazer sei hier auf diesen Text verwiesen, der hier online gelesen werden kann…

9. September 2015
von Tom Levold
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Feldkräfte im Hier und Jetzt. Kurt Lewin zum 125. Geburtstag

Klaus Antons & Monika Stützle-Hebel (2015): Feldkräfte im Hier und Jetzt

Klaus Antons & Monika Stützle-Hebel (2015): Feldkräfte im Hier und Jetzt

Heute vor 125 Jahren wurde Kurt Lewin geboren. Er war einer der wichtigsten und einflussreichsten deutschsprachigen Psychologen des 20. Jahrhunderts, der 1947 im Alter von nur 56 Jahren viel zu jung gestorben ist. In den zwanziger Jahren war er gemeinsam mit Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka ein wichtiger Pionier der Gestaltpsychologie. Als jüdischer Hochschullehrer erfasste er früh die Gefahr durch den Nationalsozialismus und knüpfte rechtzeitig Kontakte in die USA. 1932 erhielt er eine halbjährige Gastprofessur an der Stanford University in Kalifornien und emigrierte dann 1933 endgültig in die Vereinigten Staaten. Dort knüpfte er schnell Kontakte und war unter anderem mit Margaret Mead und Gregory Bateson befreundet, mit denen er gemeinsam auch an der Auftaktveranstaltung der legendären Macy-Konferenzen in New York 1946 teilnahm, die eine wichtige Weichenstellungsfunktion für die sich entwickelnde kybernetische Bewegung innehatte. Heute ist er in erster Linie als ein Wegbereiter der der Gruppendynamik und Pionier der Human-Relations-Bewegung in Erinnerung, eine etwas einseitige Perspektive, die der Breite des vielfältigen Theorie- und Forschungsspektrums Lewins nicht gerecht wird.

Zum 125jährigen Geburtstag ist nun im Carl-Auer-Verlag ein von Klaus Antons und Monika Stützle-Hebel herausgegebener Sammelband zu Ehren Lewins erschienen. Beide arbeiten als Trainer und Dozenten für Gruppen- und Organisationsdynamik und haben eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen versammelt, die sich dem feldtheoretischen Ansatz von Kurt Lewin verpflichtet fühlen. In seinem Geleitwort zum Buch unterstreicht Heiner Keupp die Vielseitigkeit Lewins: „Wenn wir einen aktuellen Psychologieprofessor und sein Fachprofil mit dem von Kurt Lewin vergleichen, dann fällt zuerst auf, was für einen breiten Bildungshintergrund Kurt Lewin hatte: neben unterschiedlichsten Teilbereichen der Psychologie war er auch in der Philosophie, der Medizin, in der Physik oder der Biologie verankert und hat dieses Wissen auch in unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt. Heute sind akademische Hochschullehrerkarrieren offensichtlich nur noch in einem engen Fachkorridor möglich, gefördert wird Expertenschaft in einem hochspezialisierten Teilbereich und nicht selten entsteht daraus auch ein fachlicher Tunnelblick. Es dürfte wenige Psychologen geben, die in so unterschiedlichen Bereichen wie der Wahrnehmungspsychologie, der Gestaltpsychologie, der Methodologie, der Jugendforschung, der Gruppendynamik, der Motivationspsychologie, der ökologischen Psychologie oder der Führungsforschung weltweit beachtete Impulse gegeben haben“ (S. 6). Dem kann man nur zustimmen. Insofern ist es sehr erfreulich, dass der dezidiert systemische Carl-Auer-Verlag das Jubiläum zum Anlass nimmt, an Kurt Lewin zu erinnern. Weiterlesen →

6. September 2015
von Tom Levold
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Als die Psychiatrie laufen lernte

Meine ersten Erfahrungen mit der Psychiatrie machte ich Mitte der Siebziger Jahre. Eine Freundin absolvierte ihre Ausbildung als Krankenschwester in der rheinischen Landesklinik Langenfeld. Dort holte ich sie öfter von der Arbeit ab. Auf dem Gelände bot sich dem Besucher das klassische Bild der alten Psychiatrie: schwer sedierte Menschen schlurften auf den Wegen an einem vorbei, oft in unwürdigen Outfit. Man hatte das Gefühl, auf einem anderen Stern zu sein, der nach völlig unterschiedlichen Gesetzen funktionierte.
Meine Freundin arbeitete im Rahmen ihrer Ausbildung eine Zeit lang in der gerontopsychiatrischen Abteilung. Ich erinnere mich an einen großen, gekachelten Saal, in dem eine Gruppe von alten, inkontinenten Frauen ohne jede Bekleidung auf blanken Pritschen angeschnallt lagen und gelegentlich von einem Pfleger mit einem Wasserschlauch abgespritzt wurden, um sie „sauber zu machen“. Eines Tages erdreistete sich meine Freundin, die Frauen aus den Gurten zu befreien, ihnen etwas anzuziehen und mit ihnen einen Spaziergang auf dem Gelände zu machen. Wegen dieser Eigenmächtigkeit wurde sie von ihrer Vorgesetzten übel zusammengestaucht.
An diese Geschichte musste ich denken, als ich das Interview mit Rainer Kukla und Arndt Schwendy las, das in der neuen Ausgabe der Psychosozialen Umschau erschienen ist, und in dem die Beiden von von der Umsetzung der Psychiatrie-Enquete im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland erzählen. Im September 2015 – also diesen Monat – wird die Psychiatrie-Enquete 40 Jahre alt. Rainer Kukla war als Soziologe enger Mitarbeiter des Vorsitzenden dieser Enquete, Caspar Kulenkampff (wo gibt es heute schon noch Soziologen in der Psychiatrie? Als ich mein Studium 1978 beendet hatte, hatte jedes Landeskrankenhaus des LVR eine Soziologenstelle!), Arnd Schwendy leitete das Presseamt des Landschaftsverbandes Rheinland. Bei der Umsetzung der Enquete ging es um nichts weniger als um die Überführung der Psychiatrie aus der Tradition der Ausgrenzung und Menschenverachtung, die sich aus der nationalsozialistischen Zeit nahtlos in die Bundesrepublik fortgesetzt hatte, in eine humanere und professionelle Gestaltung der Beziehungen mit Menschen in psychischen Notlagen. Weiterlesen →

3. September 2015
von Tom Levold
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Instant Hamlet — A family tragedy in one act

Ziemlich genau vor 30 Jahren, im Mai 1985, fand in Heidelberg eine denkwürdige Veranstaltung statt. Das Heidelberger Institut für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie an der Universität Heidelberg unter der Leitung von Helm Stierlin, einer der zentralen Ausgangspunkte der Entwicklung der Systemischen Therapie in Deutschland, feierte sein 10. Jubiläum mit einer Tagung „Familiäre Wirklichkeiten“ mit über 2000 Teilnehmern, an der viele Pioniere der Familientherapie und Systemischen Therapie teilnahmen, von denen leider die meisten nicht mehr leben. Höhepunkt der Tagung war das Fest im Heidelberger Schloss, an das ich mich noch gut erinnern kann. Helm Stierlin hatte ein Theaterstück „in elisabethanischem Englisch“ verfasst, das die familientherapeutische Prominenz zum Vergnügen der Teilnehmer auf die Bühne brachte – ohne vorher Gelegenheit zu einer Probe zu finden. Gottseidank ist dieser Teil des Festes (sowohl auf als auch hinter der Bühne) auf Video aufgezeichnet worden und der Carl-Auer-Verlag hat dieses Video auf seiner youtube-Seite veröffentlicht. Zu sehen sind u.a. neben Helm Stierlin: Carl Withaker, Paul Watzlawick, Lyman Wynne, Ivan Boszormeny-Nagy, Gianfranco Cecchin, Jürg Willi, Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Rosmarie Welter-Enderlin und Josef Duss von-Werth – aus dem Off ist auch Gunther Schmidt klar zu vernehmen. Man versteht nicht alles, aber alleine die Protagonisten bei ihrem Tun zu sehen, macht schon Spaß genug!