systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

14. Februar 2016
von Tom Levold
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Wie wirksam sind Techniken der Energetischen Psychotherapie, die Exposition mit sensorischer Stimulierung verbinden?

Im systemischen Feld werden Techniken der energetischen Psychotherapie (z.B. Klopftechnik; Abb. www.dr-michael-bohne.de) auch schon seit einiger Zeit mit Gewinn eingesetzt. Besondere Bekanntheit hat hier zum Beispiel die Arbeit von Michael Bohne erlangt, der seine Adaptation dieser Methoden Prozessorientierte Energetische Psychologie und neuerdings als Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie (PEP) bezeichnet. In einem Beitrag für das Psychotherapie-Journal aus dem Jahr 2014, der auf der website von Michael Bohne zu finden ist, hat der Verhaltenstherapeut Christoph Eschenröder sich mit der Wirksamkeit dieser Techniken auseinandergesetzt. Im abstract heißt es: „Das Interesse für verschiedenartige Ansätze der Energetischen Psychotherapie ist bei deutschen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten1 in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Es gibt aber auch kritische Stellungnahmen zur Energetischen Psychotherapie, in denen sie als esoterisch oder unwissenschaftlich eingestuft wird. In diesem Artikel stelle ich die grundlegende therapeutische Strategie von Ansätzen der Energetischen Psychotherapie dar. Die Behauptung, die Wirkung dieser Behandlungen gehe nicht über einen Placebo-Effekt hinaus, wird auf der Grundlage der bisher veröffentlichten randomisierten kontrollierten Studien überprüft und zurückgewiesen. Es gibt unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze für die therapeutische Wirksamkeit der Energetischen Psychotherapie. Erklärungen auf der Grundlage des energetischen Paradigmas orientieren sich an Konzepten der Traditionellen Chinesischen Medizin. Aufgrund der Parallelen von Methoden der Energetischen Psychotherapie zur systematischen Desensibilisierung, zum Eye Movement Desensitization and Reprocessing und zu Therapiemethoden, die die Bedeutung der Selbstakzeptierung betonen, erscheinen mir theoretische Konzepte sinnvoller, die sich an bekannten psychologischen und neurophysiologischen Prinzipien orientieren (z. B. reziproke Hemmung dysfunktionaler emotionaler Reaktionen). Die Stimulierung von Punkten der Körperoberfläche bei gleichzeitiger Aktivierung belastender Emotionen kann als eine wirksame Technik der Gegenkonditionierung betrachtet werden.“

Zum vollständigen Text geht es hier…

12. Februar 2016
von Tom Levold
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DGSF kritisiert Einschränkung des Familiennachzugs im Asylpaket II

Köln, 12.2.2016: „In dem gerade von der Bundesregierung vorgelegten Asylpaket II geht es unter anderem darum, den Familiennachzug bei Flüchtlingen mit sogenanntem subsidiärem Schutz für zwei Jahre auszusetzen. Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) kritisiert dieses Vorhaben, auch wenn jetzt „Härtefälle“ ausgenommen werden sollen.

„Schon bei erwachsenen Flüchtlingen, die sich in Deutschland befinden, ist eine solche Regelung als grenzwertig anzusehen, für die nach Deutschland gekommenen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ist sie allerdings völlig inakzeptabel“, erklärt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie Dr. Björn Enno Hermans. In den Clearingstellen und Wohneinrichtungen gibt es nicht wenige 13- und 14-jährige, die unter „subsidiären Schutz“ fallen und denen nun eine Zusammenführung mit der Familie nur in besonderen „Härtefällen“ möglich sein soll.

„Wir können nicht einerseits betonen, welch wichtige Bedeutung die Familie für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat, gerade auch bei der gemeinsamen Bewältigung von traumatischen Erfahrungen und andererseits die Einführung einer solchen Regelung akzeptieren“, so Hermans. Bei allein geflüchteten Minderjährigen, deren Eltern tausende Kilometer entfernt in zumeist sehr unsicheren Verhältnissen leben, handele es sich immer um „Härtefälle“, betont Hermans: „Wir fordern die Bundesregierung daher dringend auf, hier entsprechende Veränderungen und Nachbesserungen vorzunehmen.“ (Quelle: DGSF.org)

11. Februar 2016
von Tom Levold
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Diagnosen in Systemischer Theorie und Praxis

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Liebe LeserInnen und Leser des systemagazin,

heute möchte ich Sie auf einen ganz besonderen Kongress aufmerksam machen, der zur besten Jahreszeit vom 25.-27. Mai 2017 in der Heidelberger Stadthalle stattfinden wird. Dieser Kongress wird als Kooperationsprojekt von Tom Levold (systemagazin), Hans Lieb, Wilhelm Rotthaus, Bernhard Trenkle und der Carl-Auer Akademie (Matthias Ohler) durchgeführt und beschäftigt sich mit der Frage: „Was ist der Fall? Und was steckt dahinter? – Diagnosen in Systemischer Theorie und Praxis“. Wir wollen offen, schulen- und berufsübergreifend dieses Thema als ein Schlüsselthema systemischer Identität diskutieren, das von großer Bedeutung für die Zukunft des gesamten systemischen Ansatzes ist. Wir greifen damit Fragen auf, die im systemischen Feld nach einer langen Debattenlethargie seit einiger Zeit wieder intensiv diskutiert werden – im systemagazin und anderswo. Frühentschlossene können sich bis zum 31. März 2016 zu einem äußerst günstigen Sonderpreis von nur 295,00 € dafür anmelden. Danach erst werden wir die ersten Flyer drucken und das ganze KollegInnen-Feld informieren.
 
Mit einer Vorabanmeldung zahlen Sie weniger und bekommen dafür eine bessere Tagung. Warum? Je früher wir die Anmeldungen haben, desto besser können wir planen und – entscheidend –: Je mehr Anmeldungen wir zu einem frühen Zeitpunkt haben, desto eher können wir prominente ExpertInnen aus den unterschiedlichsten Bereichen motivieren, in Heidelberg dabei zu sein. Deswegen gilt: Weniger zahlen und mehr bekommen. Und – Sie helfen uns bei der stressfreien Organisation.
 
Damit Sie sich aber dennoch schon ein ziemlich genaues Bild davon machen können, was wir vorhaben, haben wir alle aus unserer jeweiligen Perspektive formuliert, was uns als Veranstalter bewogen hat, diesen Kongress auszurichten. Ein PDF mit unseren Briefen finden Sie hier…
 
Anmelden können Sie sich ab sofort auf unserer Tagungswebsite: www.wasistderfall.de
 
Ich freue mich darauf, viele von Ihnen gemeinsam mit meinen Kollegen in Heidelberg begrüßen zu können.
 
Tom Levold
Herausgeber systemagazin

10. Februar 2016
von Tom Levold
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Niklas Luhmann and Cybernetics

Michael Paetau

Im Journal of Sociocybernetics hat Michael Paetau aus Bonn und Direktor des Zentrums für Soziokybernetische Studien (Foto: sociocybernetics.eu) einen Text (in englischer Sprache) über Niklas Luhmann und die Kybernetik veröffentlicht. Im abstract heißt es: „Even though Niklas Luhmann himself never declared his own approach as a cybernetic one, and even if the relationship between systems theory and cybernetics is still not clearly defined in every way, it seems to be legitimate to classify Luhmann’s Theory of Social Systems into the field of cybernetics approaches, more precisely as a socio-cybernetic one. Beside the concept of autopoiesis by Maturana and Varela there are various systems thinkers and cyberneticists like Wiener, Ashby, Shannon, Bateson, von Foerster who influenced Luhmanns work deeply. Certainly he fits the cybernetic principles into his theory rather idiosyncratically and partly after some significant revisions, but one can argue that Luhmann’s Theorie of Social Systems is the conclusion of a confrontation of the mayor issues of cybernetic discourse with the European philosophical tradition. In the following article it is discussed the question in what extent we can include Luhmann’s work into the cybernetic tradition. Which are the significant connection-points between cybernetics and Luhmann’s work? What is the relevance of this connection for Luhmanns own theoretical development? Which are the congruences and which are the differences? To what extent is Luhmann’s Theory of Social Systems even though his critical distance – integrable into the spectrum of the approaches of ,New Cybernetic’ (as Geyer & van der Zouwen formulated in 1986)? After a short discussion on what is characterizing a theory as a cybernetic one, the article reconstructs Luhmann’s critical debate on the most important theoretical problems of cybernetics and finally it will sketch out Luhmanns answer to this debate, which he gives in his own concepts. For Luhmann the fascination of cybernetics consists in explaining the problem of constancy and invariance of systems in a highly complex and dynamical world by observing communication processes. This makes cybernetics to a definitive non-ontological approach and brings it near to the functionalistic sociology.“

Der Text kann hier heruntergeladen werden… 

3. Februar 2016
von Tom Levold
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Systemische Interaktionstherapie und unterstützende Methoden in der Praxis

V. Rhein (Hrsg.): Systemische Interaktionstherapie und unterstützende Methoden in der Praxis

V. Rhein (Hrsg.): Systemische Interaktionstherapie und unterstützende Methoden in der Praxis

Johannes Herwig-Lempp, Halle:

Bereits der Kontext, in dem dieses Buch bzw. die gesamte Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ erscheint, ist bemerkenswert: In der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH wird seit über zehn Jahren die „Systemische Interaktionstherapie (SIT)“ in unterschiedlichen Projekten und Angeboten angewandt. Es handelt sich um ein „elternaktivierendes“ (genau genommen kann man wohl, auch aus der SIT-Perspektive, davon ausgehen, dass die Eltern bereits aktiv sind und nicht erst „aktiviert“ werden müssen) Konzept, das von Michael Biene (Berlin) für die Jugendhilfe entwickelt wurde. Die vom Geschäftsführer der Einrichtung, Volker Rhein, herausgegebene Reihe versammelt Beiträge der Mitarbeiter/-innen, in denen diese die praktische Umsetzung dieses Konzept in ihrem Arbeitsalltag darstellen.

Band 4 wird mit einem Beitrag eröffnet, in dem der Erziehungsleiter Thomas Paluszek gemeinsam mit den beiden externen Beratern Mathias Schwabe und Michael Biene eindrücklich zeigt, wie das SIT-Modell anhand von zwei ganz unterschiedlichen Familien sinnvoll angewendet werden kann. Bei der einen Familie hatte sich zuvor zwischen Profis und Eltern – anhand einer Typologie der Autoren – ein „Kampfmuster“ entwickelt, bei der anderen wurde ein „Abgabe-Abnahmemuster“ festgestellt. Der Beitrag rekonstruiert im Detail und sehr gut nachvollziehbar, wie in beiden Fällen SIT den Profis ermöglicht, eine andere, „nützlichere“ und kooperativere Haltung einzunehmen. Insbesondere wird deutlich, dass es nicht die Klientinnen sind, die sich als erstes „ändern müssen“. Vielmehr geht man bei diesem Modell davon aus, dass die Profis die Verantwortung für Veränderung zunächst vor allem bei sich selbst sehen – und sie dadurch leichter wirklich werden lassen. Die multiperspektivische Darstellung, bei der neben den Berichten der Mitarbeiter und der externen Berater auch die Sichtweisen der Eltern und der Jugendamtskolleginnen aufgegriffen und zudem um Kommentare aus SIT-Sicht ergänzt werden, bereichert das Fallverstehen der Leserinnen. Weiterlesen →

2. Februar 2016
von Tom Levold
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Supervision unter bestimmten Bedingungen wieder umsatzsteuerbefreit

Wie auf der DGSF-website nachzulesen ist, ist seit vergangenem Jahr für Supervisionsleistungen eine Umsatzsteuerbefreiung nach den EU-Mehrwertsteuerbestimmungen möglich: „Das hatte der Bundesfinanzhof in Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung 2014 entschieden. Das Finanzgericht Köln hat nun 2015 in einer Einzelfallentscheidung, die mittlerweile rechtskräftig ist, Supervisionsleistungen als umsatzsteuerfrei beurteilt, ohne dass eine nationale Umsatzsteuerbefreiung greift. Es ging um Leistungen aus den Jahren 2000 bis 2006, der Rechtsstreit war vom Bundesfinanzhof wieder an das Finanzgericht Köln zurückverwiesen worden. (…) Wenn freiberuflich arbeitende Supervisorinnen und Supervisoren ihre Arbeit als umsatzsteuerfreie Lehrtätigkeit einstufen analog der Arbeit von Privatlehrern, werden sie allerdings gleichzeitig rentenversicherungspflichtig! Das Urteil ist eine Einzelfallentscheidung.“ Details gibt es hier zu lesen…

1. Februar 2016
von Tom Levold
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Kommunikation an der Grenze des Sozialen

Florian Muhle (Foto: Uni Bielefeld)

In der neuen Ausgabe des Forum Qualitative Sozialforschung FQS ist ein interessanter Artikel von Florian Muhle zu lesen, der sich mit der Frage beschäftigt, wie eine sich als reflexiv verstehende Sozialwissenschaft „1. selbst ihren Gegenstandsbereich begrenzt und wie 2. Grenzziehungen zwischen sozialen und nicht-sozialen Wesen und Beziehungen in einer angemessenen, d.h. ergebnisoffenen Perspektive untersucht werden können“. Muhle arbeitet als Akademischer Rat an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Grenzen des Sozialen und dem Verhältnis von Medienentwicklung und Personalität in der modernen Gesellschaft. Im abstract zu seinem Text heißt es: „Im Zentrum von Soziologie im Allgemeinen und interpretativer Sozialforschung im Besonderen stehen in der Regel unhinterfragt Menschen und ihre Weltdeutungen. In aktuellen sozialtheoretischen Debatten und empirischen Forschungen wird die Zentralstellung des Menschen in soziologischen Analysen jedoch zunehmend infrage gestellt. Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie Sozialität jenseits der Fixierung auf menschliche Akteur/innen konzipiert werden kann und wie sich Grenzziehungen zwischen Sozialem und Nicht-Sozialem in gegenstandsangemessener Perspektive untersuchen lassen. Hierzu werden in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Überlegungen (insbesondere der Akteur-Netzwerk-Theorie und Ansätzen, die subjektive Sichtweisen von Akteuren und Akteurinnen fokussieren), eine kommunikationstheoretische Perspektive auf die Grenzen des Sozialen und eine darauf aufbauende Methodologie entwickelt, die ergebnisoffene Forschung an und zu den Grenzen des Sozialen anleiten können. Wie sich entsprechende empirische Analysen konkret umsetzen lassen, wird exemplarisch an einem Fall der Mensch-Maschine-Kommunikation in einer virtuellen Welt gezeigt.“

Der vollständige Text kann hier gelesen und heruntergeladen werden …

29. Januar 2016
von Tom Levold
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Warum das Wiener Jugendamt seinem Erziehungsberater nicht folgte

August Aichhorn (27 Juli 1878 – 13. Oktober 1949) war einer der bedeutendsten Pädagogen des  20. Jahrhunderts. Zunächst Volksschullehrer, entwickelte er nach dem Ersten Weltkrieg Konzepte zu einer Reform der sogenannten „Besserungsanstalten“, in denen verwahrloste Jugendliche einer gewalttätigen Zwangsbehandlung unterzogen wurden. In den zwanziger Jahren machte er eine psychoanalytische Ausbildung und wurde Leiter der Wiener städtischen Fürsorgeanstalten. er war nicht nur der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik, sondern auch als Leiter der Wiener psychoanalytischen Erziehungsberatung einer der maßgeblichen Wegbereiter der Erziehungsberatung überhaupt. Sein Enkelsohn, der Wiener Psychoanalytiker Thomas Aichhorn, hat nun gemeinsam mit Kar Fallend, Professor für Sozialpsychologie in Graz, die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse für Erziehungsberatung und soziale Arbeit seines Großvaters erstmals veröffentlicht. In der Verlagsbeschreibung heißt es:

„Wien, Herbst 1945.  Die Stadt liegt nach der untergegangenen nationalsozialistischen Diktatur in Schutt und Asche. Ihre BewohnerInnen versuchen wieder einen Alltag zu leben, eine neue Zukunft aufzubauen und an historische Traditionen anzuknüpfen, die der Faschismus zerstört hatte. So auch der 68-jährige Freud-Schüler, August Aichhorn, der als einer der ganz wenigen Psychoanalytiker während der NS-Zeit in Wien verblieb und sich nun bemüht, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wieder zu beleben sowie die Ausbildung in der Erziehungsberatung und sozialen Fürsorge auf neue Beine zu stellen. In 13 Vorlesungen – von September bis Dezember 1945 – versucht er jungen Studierenden die Freud’sche Psychoanalyse für ihre zukünftige praktische Arbeit näherzubringen. Zwei Stenographinnen notieren seine Ausführungen, die transkribiert – von August Aichhorn selbst redigiert – bis heute im Aichhorn-Nachlass liegen.“

Reinhard Sieder (Foto: T .Levold)

Reinhard Sieder
(Foto: T .Levold)

Den Band beigefügt ist ein Essay des Wiener Historikers Reinhard Sieder, einem der wichtigsten deutschsprachigen Familien-, Sozial- und Kulturhistoriker, der sich schon seit längerem mit der Geschichte der Jugendhilfe und der Heimerziehung in Wien auseinandersetzt. Nachdem vor einigen Jahren – nach der Aufdeckung ähnlicher Zustände in deutschen Kinderheimen – die systematische Misshandlung von Kindern und Jugendlichen auch in Wiener Heimen von den 1950ern bis weit in die 1970er Jahre die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit fand, wurde Sieder von der Stadt Wien beauftragt, in einer großen Studie das Ausmaß der Gewalt an Kindern und Jugendlichen vor den Reformen des Erziehungswesens in den 1990 er Jahren zu untersuchen. Der umfangreiche Abschlussbericht dieser Untersuchung liegt seit 2012 vor und ist auch online zu lesen. Sein Essay über Aichhorn, den systemagazin mit freundlicher Genehmigung des Löcker-Verlages hier veröffentlicht, ist nicht nur von historischem Interesse, sondern überraschend aktuell. Schon in den 1920er Jahren zeichnete sich eine zunehmende Divergenz zwischen einer therapeutisch-psychoanalytischen Haltung, wie sie Aichhorn vertrat, und einer psychiatrisch-psychopathologischen Konzeption jugendlichen Problemverhaltens ab. Letztere wurde mit dem fortschreitenden Siegeszug des Nationalsozialismus in Österreich dominant und zur Grundlage bürokratisch organisierter Fürsorgepraxis: „Der Logik der Medikalisierung des Sozialen folgend, beauftragte der amtsführende Stadtrat und Mediziner Julius Tandler Heilpädagogen, Psychologen und Juristen, die Arbeit des Jugendamtes, insbesondere die „Kindesabnahmen“ und die Überstellungen von Kindern in Erziehungsheime und Pflegefamilien fachlich zu überwachen und zu legitimieren. Allerdings bildeten die Leiter und die Fürsorgerinnen der Bezirksjugendämter, die Psychiater der Heilpädagogischen Station an der Kinderklinik, die Psycholog/inn/en und Juristen in der Zentrale des Jugendamtes und der Kinderübernahmsstelle (KÜSt) offenbar sehr bald einen hermetischen Legitimationszirkel, der weder eine Kontrolle der psychiatrischen und psychologischen Diagnosen noch der fürsorgerischen Maßnahmen, noch der pflegschaftsgerichtlichen Bescheide entstehen ließ.“ Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man hier nur das problematische Verhalten von Personen in den Vordergrund stellen wollte. Sieder schreibt weiter: „Dabei versteht Aichhorn früher als die politischen und professionellen Hauptakteure im Wiener Wohlfahrtsamt unter Tandler, dass dieses historisch konkrete Zuviel an Gewalt nicht bloß aus dem interpersonalen Geschehen zwischen nicht hinreichend erzogenen Kindern und nicht hinreichend ausgebildeten Erzieher/inne/n entsteht, sondern in bestimmten wissenschaftlichen Theorien grundgelegt ist. Diese waren seit den Anfängen der modernen Kinder- und Jugendfürsorge um 1910 rassenhygienisch und erbtheoretisch, im nationalsozialistischen Reich auch rassenanthropologisch. Gegen kritische Ansätze blieben sie weitgehend immun, solange eine Reihe von hochrangigen Berufen wie jene der Ärzte und Medizinwissenschaftler, der Psychologen und der Juristen in ihrem Namen agierten und materiell und sozial davon profitierten.“ Die diesen Strategien zugrundeliegenden Ideologien sind heute in der Jugendhilfe kaum mehr zu beobachten. Dennoch ist der Kampf um die Luft- und Deutungshoheit über „problematischem Verhalten“ von Kindern und Jugendlichen nicht vorbei. Die Medikalisierung psychischer und sozialer Problemlagen ist heute nicht weniger Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Diskurse. Der lesenswerte Essay Reinhard Sieders macht am historischen Beispiel die Gefahren einer bürokratisch-autoritären, strafenden Jugendhilfe im Verein mit einer pathologisierenden Behandlungsideologie deutlich. Aber lesen Sie selbst: Weiterlesen →

27. Januar 2016
von Tom Levold
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Filip Caby wird 60!

Filip Caby

Filip Caby

Heute feiert Filip Caby seinen 60. Geburtstag und systemagazin gratuliert ihm an dieser Stelle von Herzen. Geboren in Belgien, studierte er Humanmedizin in Kortrijk und Leuven und absolvierte seine Facharztausbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Marl und Dortmund. Seit 20 Jahren ist er Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Marienkrankenhauses in Papenburg, seit 2012 dort Ärztlicher Direktor. In dieser Funktion hat er mit seinem Team auf beeindruckende Weise systemische Konzepte in der stationären psychiatrischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt. Seine Kreativität hat sich in zwei vielverkauften Büchern („Psychotherapeutischen Schatzkiste“ I und II) niedergeschlagen. Darüber hinaus war Filip Caby immer auch fachpolitisch aktiv, u.a. viele Jahre als Vorsitzender und Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Systemische Kinder- und Jugendpsychotherapie und Jugendpsychiatrie. 2013 wurde er in den DGSF-Vorstand gewählt, hier ist er Ansprechpartner für Belange der Ärztinnen und Ärzte. Er engagiert sich besonders für die Verankerung systemischen Arbeitens und Systemischer Therapie in medizinischen Behandlungsleitlinien sowie in den ärztlichen Weiterbildungsordnungen.

Lieber Filip, zum Geburtstag alles Gute, Gesundheit und eine gute Balance von anregenden und entspannten Schaffens- und Erholungsphasen, die man ab 60 gut gebrauchen kann!

Dein Tom

25. Januar 2016
von Tom Levold
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Wachsame Sorge – Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind

Von Haim Omer ist mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zum Thema „gewaltloser Widerstand von Eltern“ im Umgang mit ihren Kindern erschienen (z.T. in Co-Autorenschaft mit Arist von Schlippe). Nun ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein neuer Band erschienen, in dem Omer sein Konzept noch einmal erweitert. Ilke Crone hat das Buch gelesen und empfiehlt die Lektüre.

Ilke Crone, Bremen:

Das Modell des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung, der elterlichen und professionellen Präsenz und der Neuen Autorität gewinnt seit nunmehr 15 Jahren auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung. Die „Stimme“ der Erwachsenen im Umgang mit besonders herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu stärken, scheint nicht nur im familiären Kontext wirksam, sondern erreicht auch andere Erziehungssysteme wie Kindergarten und Schule.

In „Wachsame Sorge“ widmet sich der Autor besonderen Problemstellungen in Familien, die sich in der Praxis bislang meist nur wenig überzeugend beantworten ließen und häufig ratlose Eltern – manchmal auch hilflose Elterncoaches – zurückließen. Wie sollen Eltern reagieren, wenn das Kind lügt? Wie können Eltern die Wahl der Freunde des Kindes beeinflussen? Wie begrenzen Eltern wirkungsvoll den übermäßigen Medienkonsum ihrer Kinder? Wie können Eltern ihre fast erwachsenen Kinder darin unterstützen, so etwas wie Selbstfürsorge zu entwickeln?

Anhand vieler anschaulicher Beispiele macht Haim Omer vor allem zwei Dinge deutlich: Eltern können ihre Kinder nicht kontrollieren – sie haben keinen direktiv steuernden Einfluss auf deren Verhalten – eher das Gegenteil ist der Fall: je massiver Eltern den „Gehorsam“ ihrer Kinder einfordern oder versuchen ihr Kind zu kontrollieren, desto größer wird die Gefahr, das Kind aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig ermutigt der Autor in sehr anschaulicher und überzeugender Weise Eltern dazu, ihre Werte zu vertreten. Die elterliche Sorge betrachtet Haim Omer als Verpflichtung und Berechtigung. Wie Eltern dies in deeskalierender Weise kommunizieren können, erfahren sie ebenfalls aus diesem Buch. Weiterlesen →