systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

17. März 2016
von Tom Levold
3 Kommentare

Was ist der Fall? Und was steckt dahinter? Diagnosen in systemischer Theorie und Praxis

Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

an dieser Stelle ist bereits auf den großen systemischen Diagnostik-Kongress hingewiesen worden, der vom 25.-27.5.2017 unter Beteiligung von systemagazin stattfinden wird. Wir haben schon viel Resonanz aus dem Feld erfahren und spannenderweise wird das Kongress-Thema und der Kongress selbst schon diskutiert, lange bevor er eigentlich startet. Das ist für uns als Veranstalter und Organisatoren eine wunderbare Nachricht, denn um das Anschieben einer Debatte geht es uns ja – nicht um die Frage „Diagnostik oder nicht?“, sondern vielmehr um die Frage „Wie diagnostizieren wir eigentlich was – und was bedeutet das für die therapeutische und beraterische Praxis?“. Da in zwei Wochen die Frühbucherfrist abläuft, die es allen InteressentInnen ermöglicht, zu einem besonders günstigen Tarif von 295,00 € sich schon jetzt zur Tagung anzumelden, möchte ich hier noch einmal auf die inhaltlichen Überlegungen zurückkommen, die mich persönlich bewogen haben, an diesem gemeinsamen Projekt mit Hans Lieb, Matthias Ohler, Wilhelm Rotthaus und Bernhard Trenkle teilzunehmen.

Die systemische Therapie und Beratung steht derzeit vor besonderen Herausforderungen, deren Bewältigung für die Zukunft des Systemischen Ansatzes von großer Bedeutung ist. Eine Anerkennung als Richtlinienverfahren im Rahmen der gesetzlichen psychotherapeutischen Versorgung würde vielen Klienten die Möglichkeit bieten eine kassenfinanzierte systemische Therapie in Anspruch zu nehmen. Andererseits wäre sie mit einer massiven Relativierung verbunden, wenn nicht gar mit der Aufgabe klassischer systemisch-konstruktivistischer Positionen, von den möglichen fachlichen, berufsbezogenen und politischen Verwerfungen innerhalb des systemischen Feldes einmal ganz abgesehen.
Ich bin seit über 35 Jahren an der Entwicklung des Feldes durch Lehrtätigkeiten, fachpolitische Aktivitäten und zahlreiche Veröffentlichungen aktiv beteiligt und habe den Eindruck, dass die vor uns liegenden Herausforderungen einer intensiven inhaltlichen Debatte bedürfen.
In den vergangenen Jahren haben sich die systemischen Verbände vor allem für die Gleichstellung der systemischen Therapie und Beratung mit anderen Therapieverfahren eingesetzt, jetzt ist es an der Zeit, in die inhaltliche Diskussion einzusteigen. Deshalb freue ich mich, mit Hans Lieb, Wilhelm Rotthaus, Matthias Ohler und Bernhard Trenkle gemeinsam einen Raum der Begegnung unterschiedlicher Personen, Positionen und Praktiken für eine solche Debatte zu organisieren. Wie kaum ein anderes Thema ist das Thema Diagnostik und Fallverstehen geeignet, sowohl die Identität des systemischen Ansatzes als auch seine Überschneidungen und Berührungspunkte mit anderen Schulen und Konzepten herauszuarbeiten. Systemische Therapie und Beratung unterscheidet sich (wie alle anderen Therapie- und Beratungsverfahren) von einer alltäglichen Kommunikation über Probleme und Lösungen dadurch, dass sie aus einem Anliegen einen „Fall“ macht. Erst diese Transformation in eine auf bestimmte Weise formatierte Fallbearbeitung erlaubt es, Therapie und Beratung als professionelle Verfahren einzusetzen (und abzurechnen). Im Anschluss an Niklas Luhmann lässt sich aber nun jeweils fragen: Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?
Zum Selbstverständnis systemischer Therapie und Beratung gehört von Anfang an, ein ontologisches Problemverständnis zu hinterfragen, nämlich dass ein Problem, eine Störung oder eine Krankheit etwas bereits Vorhandenes sei, das mit Hilfe diagnostischer Verfahren und Methoden richtig erkannt und einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden könne. Die gesamte systemisch-konstruktivistische Epistemologie baut auf der Erkenntnis auf, dass Diagnosen, Fallbeschreibungen und Problemdefinitionen Beobachtungen darstellen, die keine Auskunft über eine beobachtungsunabhängige Problemwirklichkeit liefern, sondern selbst Konstruktionen sind, die ganz wesentlich von den relevanten und sich ändernden Beobachtungskontexten fachlich-disziplinärer, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Art abhängen.

In der klinischen Alltagskommunikation wird aber eine Diagnose schnell zu etwas, das ein Patient oder eine Klientin „hat“ oder „nicht hat“, z. B. eine „Störung mit Krankheitswert“, ohne die im Rahmen des Gesundheitssystems keine Leistung erbracht werden kann. Der systemische Fokus auf Kontext, Beziehung und Kommunikation als Rahmenbedingung für die Entstehung und Aufrechterhaltung von (zwischen)menschlichem Leid wird hier allenfalls als Randbedingung und Sonderfall berücksichtigt.

Sollten die Bemühungen um eine Anerkennung und Integration Systemischer Therapie in das bestehende System der Richtlinienverfahren erfolgreich sein, steht der systemische Ansatz vor einer schwierigen Aufgabe: Er muss in ein an die klassische Medizin angelehntes positivistisch-technizistisches Behandlungsmodell mit den entsprechenden diagnostischen und methodischen Implikationen einsteigen, ohne die genannten, für die eigene Identität zentralen Konzepte aufzugeben.

  • Wie soll das gelingen?
  • Worüber müssen wir dann reden oder streiten?
  • Was können wir von anderen lernen, wo sollten wir uns abgrenzen?

Die Fragen,

  • was eigentlich diagnostiziert wird und warum,
  • ob überhaupt diagnostiziert werden muss und was das bedeutet,
  • welche alternativen Konzepte von Diagnosen sinnvoll oder notwendig wären,
  • welche konzeptuellen und ideengeschichtlichen Entwicklungslinien den unterschiedlichen Vorstellungen von „Krankheit“, „Störungen“ oder „Problemen“ zugrundeliegen,
  • was die Unterschiede zwischen einem epistemologischen, klinisch-praktischen oder ökonomischen Zugang zu Fragen der Diagnostik und der daran anzuschließenden „Behandlung“ sind,
  • welche unterschiedlichen Konzepte von Diagnostik und Fallverstehen in den verschiedenen Bereichen systemischer Praxis zum Zuge kommen und
  • wie sich Systemische Therapie überhaupt im Kontext dieser Fragestellungen in den nächsten Jahren entwickeln wird,

all diese Fragen treffen Konzeption und Selbstverständnis des Systemischen Ansatzes ins Mark.
Aus diesem Grund haben wir einen Tagungsrahmen geschaffen, der es uns und Ihnen ermöglicht, sich mit diesen und vielen anderen Fragestellungen zum Thema schulenübergreifend auseinanderzusetzen und neue Perspektiven auf die eigene Praxis, aber auch für die Arbeit in Organisationen, im Gesundheitsbereich und im System Sozialer Arbeit zu entwickeln.
In der Heidelberger Stadthalle haben in den vergangenen Jahrzehnten schon einige richtungsweisende systemische Tagungen stattgefunden. Auch wenn die Details noch nicht feststehen, können wir Ihnen ein hochkarätiges Programm und drei spannende Tage im schönen Monat Mai 2017 versprechen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen – ich freue mich auf Ihr Interesse!

Herzliche Grüße
Tom Levold
Herausgeber systemagazin

17. März 2016
von Tom Levold
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Vier von zehn Hauptschulen innerhalb der letzten zehn Jahre geschlossen

WIESBADEN – Die Anzahl der Hauptschulen hat sich seit 2004/2005 um 42 % auf 3 039 im Schuljahr 2014/2015 verringert. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren von den Schließungen von Schulen in den letzten 10 Jahren primär die Hauptschulen betroffen. Bei den Realschulen belief sich der Rückgang auf 23 % und bei den Schularten mit mehreren Bildungsgängen auf 19 %. Die Zahl der Integrierten Gesamtschulen (+ 144 %) hat sich hingegen mehr als verdoppelt. Insgesamt gab es im Schuljahr 2014/2015 in Deutschland 33 600 allgemeinbildende Schulen. Dies waren 14 % oder 5 500 Schulen weniger als vor zehn Jahren.

Von den knapp 8,4 Millionen Schülerinnen und Schülern, die im Schuljahr 2014/2015 an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet wurden, gingen 33 % auf eine Schule des Primarbereichs. 50 % aller Schülerinnen und Schüler besuchte den Sekundarbereich I und 12 % den Sekundarbereich II. Im Vergleich zum Schuljahr 2004/2005 gingen die Schülerzahlen insgesamt um 13 % zurück. Insbesondere aus demografischen Gründen war die Anzahl der Schülerinnen und Schüler im Primarbereich (– 13 %) und in der Sekundarstufe I (– 18 %) niedriger als vor zehn Jahren. Immer mehr junge Menschen streben den Erwerb der Hochschulreife an: Im Schuljahr 2014/2015 besuchten 24 % mehr Schülerinnen und Schüler einen allgemeinbildenden Bildungsgang im Sekundarbereich II als im Schuljahr 2004/2005.

Aktuelle statistische Kennzahlen und deren Entwicklung im Zeitverlauf, unter anderem zu den Themen Bildungsbeteiligung, Erwerb von Fremdsprachen, sonderpädagogischer Förderbedarf, Wiederholeranteil, Lehrkräfte an Schulen, Absolventen und Abgänger sowie Ausgaben je Schüler, werden in der Broschüre „Schulen auf einen Blick“ zusammengefasst dargestellt und anschaulich beschrieben.

Quelle: Pressemitteilungen – Vier von zehn Hauptschulen innerhalb der letzten zehn Jahre geschlossen – Statistisches Bundesamt (Destatis)

16. März 2016
von Tom Levold
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Frauenanteil in Führungsetagen unverändert bei 29 %

WIESBADEN – 2014 waren 29 % der Führungspositionen in Deutschland von Frauen besetzt. Damit blieb der Anteil im Vergleich zu den beiden Vorjahren nahezu unverändert. Wie das Statistische Bundesamt anlässlich des internationalen Frauentags am 8. März weiter mitteilt, lag Deutschland damit im unteren Drittel aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Im EU-Durchschnitt war in Führungsetagen rund jede dritte Person eine Frau (33 %).

Lettland war mit einem Frauenanteil in Führungspositionen von 44 % EU-Spitzenreiter. In Ungarn (40 %), Polen und Litauen (jeweils 39 %) gab es ebenfalls relativ hohe Quoten. Schlusslicht war Zypern mit lediglich 17 %.

In Deutschland hatten 7 % der weiblichen Führungskräfte einen relativ niedrigen Bildungsabschluss (zum Beispiel Realschulabschluss). Der überwiegende Teil besaß jedoch einen mittleren Bildungsabschluss (48 %, zum Beispiel Abitur) oder einen höheren Bildungsabschluss (45 %, zum Beispiel ein abgeschlossenes Hochschulstudium).

Den niedrigsten Frauenanteil in Leitungspositionen hatte die Baubranche mit 13 %, den höchsten der Bereich Erziehung und Unterricht (62 %). Diese Quoten entsprachen in etwa den jeweiligen Frauenanteilen der betreffenden Branchen (13 % beziehungsweise 70 %).

Zu den Führungspositionen nach der internationalen Standardklassifikation der Berufe (ISCO) zählen Vorstände und Geschäftsführer/-innen sowie Führungskräfte in Handel, Produktion und Dienstleistungen.

Quelle: Pressemitteilungen – Frauenanteil in Führungsetagen unverändert bei 29 % – Statistisches Bundesamt (Destatis)

15. März 2016
von Tom Levold
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Funktionen von Coaching in Organisationen

In einem sehr spannenden Aufsatz beschäftigt sich der Soziologe Andreas Taffertshofer mit „offiziellen Wirkungen, informalen und latenten Funktionen“ von Coaching. In der Einleitung schreibt er: „Auffällig ist, dass für die beauftragende, ermöglichende und bezahlende Institution Organisation vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit entwickelt wurde. Management-Beratung wie Coaching findet aber nur statt, weil es Organisationen gibt. Inwieweit es dann zum Beispiel um ,ganze Personen’ oder nur Teile von Personen bzw. Rollen geht, ist dagegen eine sekundäre Frage. Teilweise greift die inzwischen einsetzende Evaluationsliteratur die Organisationsperspektive auf, versteht aber die Bedeutung von Coaching in Organisationen nicht hinreichend, wenn sie sich auf den Nachweis von Kosteneffekten in Unternehmen beschränkt (…). Die Wirkungen an Kostenersparnis, Konfliktbewältigung, Motivation, Verhaltensänderung usw., die man sich von Coaching verspricht, sind riesig. Die Behauptungen auf dieser Ebene spiegeln aber nur einen offiziellen, formalen Teil von Organisationen und ihren Problemen wider. Bei formalen Entscheidungen auf offizieller Ebene, etwa ob Coaching generell in einer Organisation eingeführt werden soll, sind diese Versprechen und ihre Seriosität sicherlich wichtige Kriterien (2).

Aber allein die Tatsache, dass Coaching schon jahrzehntelang eingesetzt wird, ohne auf überzeugenden Evaluationsmodellen und Wirksamkeitsnachweisen zu basieren, lässt die Begründung des Booms aus diesen Kriterien unbefriedigend und unvollständig erscheinen. Fragt man in Organisationen nach, erhält man Einblick in eine ganz andere Wirklichkeit, die sich neben und hinter der offiziellen Darstellung ausbildet. Hier geht es dann um taktische und instrumentelle Überlegungen, was man in bestimmten Situationen mit Coaching erreichen kann. Auch Machtfragen, das Thema der klassischen Kritik, spielen hier eine wichtige Rolle (3).

Letztlich kann man aus einer wissenschaftlich-theoretisch kontrollierten Perspektive Funktionen von Coaching in Organisationen erklären, die weder auf die gängigen Coaching-,Ideologien’ noch auf die informal diskutierten Funktionen Rücksicht nehmen. Während Wirkungen und Funktionen auf den beiden erstgenannten Ebenen noch relativ selbstverständlich akzeptiert und erforscht werden, fehlt der dritten Ebene die intuitive Einsichtigkeit. Nur aus einer theoretisch gut begründeten Perspektive lassen sich hier Funktionen von Coaching ausmachen, ohne dass diese üblicherweise in Organisationen kommuniziert werden (4).

Mit einem eigenständigen Blick für die Probleme in Organisationen lassen sich so weitere Funktionen von Coaching benennen, die in der bisherigen Diskussion, die fast ausschließlich durch positive Reflexionsbeiträge zur Professionalisierung geprägt ist, noch weitgehend fehlen. Insbesondere kann man so ein ideologisches Dilemma von Coaches erkennen (5).“
Der ganze Text ist im Netz zu lesen, und zwar hier…

14. März 2016
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Ralf Konersmann

„Aufklärung heute heißt demjenigen nachzuforschen, was oft gesagt und tausendmal wiederholt worden ist, ohne jemals begründet worden zu sein – Überzeugungen, Erwartungen und Behauptungen, die nicht deshalb Bestand haben, weil sie in einem rationalen Verständnis dieses Wortes wahr wären, sondern weil sie den Zeitgenossen unbestreitbar erscheinen. Mein Thema ist das stillschweigende, das implizite Wissen, das dem expliziten, dem ausformulierten Wissen vorgreift und es unbewusst konturiert – jenes tief eingewurzelte Immerschonverstandenhaben, das mit unseren Lebensäußerungen verschmolzen ist und über kulturelle Zugehörigkeiten entscheidet. Die primäre, die kulturelle Aufgabe heutiger Aufklärung besteht in der Verdeutlichung dieser blindlings übernommenen Grundsätze und Direktiven: in der Verdeutlichung dessen, woran selbst die Ungläubigen glauben. Sie ist also, genau gesehen, Selbstaufklärung. Der Anspruch einer solchen Vergewisserung zielt weniger auf die Richtigstellung des vermeintlich Abwegigen oder Falschen als auf die Ermittlung dessen, wer wir, indem wir diese oder jene Überzeugung ohne weiteres teilen, gemeinsam sind – wer also wir selber sind, die wir durch unsere besondere, unsere eigene Art des Sprechens, des Denkens und Verhaltens für uns selbst und für andere sichtbar werden.“

In: „Die Unruhe der Welt“, S. Fischer, Frankfurt a.M. 4. Aufl. 2015, Einleitung.

12. März 2016
von Tom Levold
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Helm Stierlin wird 90!

Helm und Satu Stierlin (Foto: Tom Levold)

Helm und Satu Stierlin
(Foto: Tom Levold)

Heute feiert Helm Stierlin seinen 90. Geburtstag. Schon gestern wurde im systemagazin darauf hingewiesen, verbunden mit einem Link auf einen ausführlichen Beitrag zum Werk Helm Stierlin. Heute ist es an der Zeit, dem Jubilar zu gratulieren (Hier auf einem Foto von 2003 mit seiner Frau Satuila). Lieber Helm, zum Geburtstag die herzlichsten Glückwünsche und alles Gute für die kommende Zeit – vor allem Gesundheit und weiterhin Freude und Interesse an dem, was im systemischen Feld und darüber hinaus in der Welt geschieht! Viele Kolleginnen und Kollegen werden heute an Sie denken – und einige bringen auch hier im systemagazin ihre Glückwünsche zum Ausdruck. Ich möchte Ihnen für die vielen Begegnungen und Impulse danken, die mich seit über 35 Jahren mit Ihnen verbinden!

Herzliche Grüße und alles Gute!

Tom Levold
Herausgeber systemagazin Weiterlesen →

11. März 2016
von Tom Levold
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Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen

Morgen wird Helm Stierlin (Foto: Carl-Auer-Verlag), über viele Jahre Spiritus Rector der Systemischen Therapie, 90 Jahre alt. Nach einem Doppelstudium der Medizin und Philosophie wechselte er als 1955 in die USA über, wo er als Psychoanalytiker in Kontakt mit vielen Begründern der Familientherapie kam und eine z.T. enge Zusammenarbeit mit ihnen einging. Seine theoretischen und praktischen Erfahrungen dieses langjährigen USA-Aufenthaltes brachte er nach seiner Rückkehr 1974 in die BRD in unterschiedliche Kontexte ein und bereitete damit neben anderen Pionieren der Familientherapie in Deutschland den Boden für eine sich explosionsartig ausbreitende familientherapeutische Bewegung, die sich nicht zuletzt mit seiner Unterstützung zunehmend von psychoanalytischen Konzepten freimachte und mit Beginn der 80er Jahre zu einem eigenständigen psychotherapeutischen Ansatz entwickelte. Wolf Ritscher, der Stierlin in seiner Zeit als junger Student in Heidelberg kennenlernte, hat in einer Übersichtsarbeit, die 2006 im Kontext erschien, Helm Stierlins Beiträge zur Entwicklung von Theorie und Praxis der Familientherapie unter dem Titel eines von Stierlins frühen Werken „in Form einer chronologisch verfahrenden Werkbiografie“ vorgestellt, die auch im Netz zu lesen ist, und zwar hier…

 

9. März 2016
von Tom Levold
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Gesundheitsausgaben im Jahr 2014 bei 328 Milliarden Euro

WIESBADEN – Im Jahr 2014 wurden insgesamt 328 Milliarden Euro für Gesundheit in Deutschland ausgegeben. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, bedeutet dies einen Anstieg von 13,3 Milliarden Euro oder 4,2 % gegenüber dem Jahr 2013. Auf jeden Einwohner entfielen 4050 Euro (2013: 3 902 Euro). Der Anteil der Gesundheitsausgaben. am Bruttoinlandsprodukt lag 2014 bei 11,2 %. Gegenüber dem Jahr 2013 blieb der Wert damit unverändert.

Die gesetzliche Krankenversicherung war 2014 der größte Ausgabenträger im Gesundheitswesen. Ihre Ausgaben beliefen sich auf 191,8 Milliarden Euro und lagen somit um 10,1 Milliarden Euro oder 5,6 % über den Ausgaben des Vorjahres. Der von der gesetzlichen Krankenversicherung getragene Ausgabenanteil erhöhte sich im Vergleich zum Vorjahr um 0,7 Prozentpunkte auf 58,5 %. Der Anteil des Ausgabenträgers private Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbszweck sank leicht auf 13,2 % (2013: 13,5 %). Auf diesen Ausgabenträger entfielen 43,2 Milliarden Euro im Jahr 2014, das war ein Zuwachs von 600 Millionen Euro oder 1,5 % im Vergleich zum Vorjahr. Der Anteil der privaten Krankenversicherung war mit 8,9 % ebenfalls leicht rückläufig (2013: 9,2 %). Auf sie entfielen 29,3 Milliarden Euro. Das entspricht einem Anstieg von 200 Millionen Euro oder 0,8 % im Vergleich zum Vorjahr.

Die Ausgaben für Güter und Dienstleistungen im ambulanten Bereich machten 2014 mit 163,5 Milliarden Euro fast die Hälfte der Ausgaben aus (49,8 %). Gegenüber dem Vorjahr erhöhten sie sich überdurchschnittlich um 5,2 %. Die stärksten Anstiege gab es in den ambulanten Pflegeeinrichtungen mit + 7,8 % auf 13,3 Milliarden Euro, in den Apotheken mit + 7,0 % auf 44,7 Milliarden sowie beim Gesundheitshandwerk/Einzelhandel mit + 6,7 % auf 18,9 Milliarden Euro.

Auf den (teil-)stationären Sektor entfielen 37,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben. Hier stiegen die Ausgaben um 4,7 Milliarden Euro oder 4,0 % auf 123,4 Milliarden Euro. Die wichtigsten (teil-)stationären Einrichtungen waren die Krankenhäuser (+ 4,3 % auf 85,9 Milliarden Euro), gefolgt von den Einrichtungen der (teil-)stationären Pflege (+ 3,2 % auf 28,5 Milliarden Euro). Die Ausgaben in den Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen betrugen 9,0 Milliarden Euro (+ 3,4 %).

Diese Ergebnisse der Gesundheitsausgabenrechnung folgen dem Konzept des „System of Health Accounts“, welches von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) zum Zweck der internationalen Vergleichbarkeit von Gesundheitsausgaben empfohlen wird. Gemäß den dort enthaltenen Definitionen umfassen die Gesundheitsausgaben sämtliche Güter und Leistungen mit dem Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, die Kosten der Verwaltung sowie Investitionen der Einrichtungen des Gesundheitswesens. Aufwendungen für Forschung und Ausbildung im Gesundheitswesen sowie Ausgaben für krankheitsbedingte Folgen (zum Beispiel Leistungen zur Eingliederungshilfe) und Einkommensleistungen, wie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, sind darin nicht enthalten. Begründet durch diese Abgrenzung weichen die Gesundheitsausgaben in der Gesundheitsausgabenrechnung von den Ausgaben der einzelnen Sozialversicherungsträger, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, ab.

Quelle: Pressemitteilungen – Gesundheitsausgaben im Jahr 2014 bei 328 Milliarden Euro – Statistisches Bundesamt (Destatis)

7. März 2016
von Tom Levold
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Systemisch bei?!

ZSTB-2015-04

„Systemisch bei. Bei was? ,Krankheit’, ,Diagnose’, ,Störung’ stand in den Anfängen der systemischen Therapie weniger im Fokus des therapeutischen Geschehens. Wie ,systemisch’ und ,Störung’ oder ,Krankheit’ zusammenpassen, ist im systemischen Diskurs nach wie vor nicht unumstritten.“ So beginnt Cornelia Tsirigotis’ Editorial zum 4. Heft 2015 der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung. Sie plädiert dafür, statt „systemisch bei“ eher „systemisch mit“ zu denken, statt zu „be-handeln“ Handeln-im-Kontext. Systemische Therapie als Rahmen für neue Handlungsmöglichkeiten ist der Fokus für die Beiträge zu diesem Heft. Beigesteuert haben sie Andreas Manteufel mit einem Text über die Arbeit mit Angehörigen auf einer psychiatrischen Akutstation, Amanda Worral über das „Wiederherstellen der eigenen Autorenschaft über die eigene Lebensgeschichte“ von Eltern, deren Kinder mit der Diagnose Kinderschizophrenie belegt werden, Ingo Spitczok von Brisinski, Sahra Suckut und Kurt Feld über Trichotillomanie, Anke Perband, Nadja Haupts und Josef Rogner über ein Fortbildungsprojekt für ErzieherInnen und Jan Müller mit einem Artikel zum Thema Entscheidung und Entscheidungsfindung aus systemischer Perspektive. Die bibliografischen Angaben und Zusammenfassungen zum kompletten Jahrgang finden Sie hier…

 

6. März 2016
von Tom Levold
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Trialogie 2016

Zagora am Rande der Wüste

Zagora am Rande der Wüste

In den letzten drei Wochen war es etwas still im systemagazin, die Pause hatte damit zu tun, dass ich in Zagora/Marokko mit der diesjährigen Trialogie-Tagung beschäftigt war. Wie es gelaufen ist, schildert Ilke Crone in einem poetischen Tagungsbericht, der seine besondere Art der Teilnahme am Schreibworkshop der Tagung verdankt, aber mehr sei hier nicht verraten (Fotos: Tom Levold).

Ilke Crone, Bremen: „Eine Auszeit für mich“

Sie hatte sich schon lange auf diese Reise gefreut. Und dann kam es am Ende doch anders – erstmal jedenfalls. Kurz vorher stand dann doch noch alles in Frage – so hatte sie bereits alles wieder abgesagt – Hotel storniert und auch die Reise selbst. Nun nachdem sie sicher wieder nach Hause zurück geehrt ist, ist Vera froh, doch gefahren zu sein. Am Ende war es dann doch passend, keine Reisrücktrittsversicherung abgeschlossen zu haben – so hatte sie bis zum letzten Moment die

Ilke Crone

Möglichkeit, doch noch in den Flieger zu steigen. Schon in der Planung der Anreise hatte sich Vera mehrfach verdacht – so hatte sie schließlich fünf Flüge zur Auswahl mit eben drei verschiedenen Daten zur Ankunft. Schließlich wollte sie, wenn sie dabei wäre, auch von Anfang an dabei sein. Und bis zum Schluss bleiben – und ja sie wollte ein Einzelzimmer, das sie dann doch abbestellt hat – und mit dem Formular zur Auswahl der Workshops war sie so gar nicht zurecht gekommen. Nur eines wusste sie genau – tanzen wollte sie nicht! Welche der anderen Themen nun ausgewählt werden wollten – da war sie sich unschlüssig – Theater, Ton, Video oder poetisches Schreiben? Schreiben fand sie gut – wie oder ob poetisch, das ließe sich ja rausfinden. So kam sich Vera insgesamt ziemlich umständlich herausfordernd vor und stellte beglückt fest, dass all ihre Unentschlossenheiten lächelnd, wohlwollend und zu ihrer vollsten Zufriedenheit beantwortet wurden. Weiterlesen →

16. Februar 2016
von Tom Levold
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Menschen sind keine „Fälle“ – prekäre Implikationen für den systemischen Diskurs

Der hier in der vergangenen Woche angekündigte Kongress „Was ist der Fall? Und was steckt dahinter? Diagnosen in Systemischer Theorie und Praxis“ hat schon jetzt eine enorme Resonanz erzeugt, offenbar haben wir mit diesem Thema einen Nerv getroffen. Hilarion Petzold hat hierzu folgenden Beitrag für das systemagazin verfasst, in dem er sich kritisch mit den Einladungstexten auseinandersetzt. Als Tagungsveranstaltern ist uns der Hinweis wichtig, dass wir mit den Einladungsschreiben einen ersten Impuls setzen wollten, das inhaltliche Programm ist damit noch in keiner Weise umrissen – im Gegenteil, wir freuen uns über Reaktionen und Rückmeldungen, die uns helfen, die vielen Perspektiven des Diagnose-Themas aufzugreifen und miteinander in Verbindung zu bringen. Petzold lenkt hier in seinem lesenswerten Text die Aufmerksamkeit vor allem auf die Perspektive der Ethik und der Macht im „Diagnostik-Geschäft“ und setzt sich kritisch mit der Verwendung des Fallbegriffes auseinander.

Hilarion Petzold, Hückeswagen:

Der angedachte Kongress „Was ist der Fall?“ ist ein interessantes Projekt, zu dem ich jetzt, in einem frühen Stadium einen Diskussionsbeitrag leisten möchte aus einer „integrativ-systemischen Sicht“ und im Sinne „weiterführender Kritik“ (Petzold 2014e), auch wenn er nicht aus dem Mainstream deutscher therapeutischer Systemik kommt. Nach der Lektüre der vorbereitenden Briefe meine ich: Das Thema ist höchst aktuell, man hat da ein Gefahrenpotential gespürt, das des Diskurses bedarf, der breit ausgreifen muss. Über Diagnosen müssen immer wieder interdisziplinäre Polyloge geführt werden. Zu oft und zu schlimm sind Menschen durch Diagnosen stigmatisiert worden mit furchtbaren Konsequenzen. 2015 das Jahr des Gedenkens an die Befreiung der Vernichtungslager, in der Opfer wahnwitziger rassenenhygienischer Diagnosen vernichtet wurden, sollte da Mahnung sein (Petzold 2015d), weil es aufweist: Der Kontext und die grundrechtliche bzw. menschenrechtliche Einbettung von Diagnosen muss sicher sein, denn andererseits kann kein Zweifel daran bestehen, dass „richtige Diagnosen“ im rechten Kontext immer wieder lebensrettend sind, wenn sie mit einer probaten Therapie verbunden werden können. Methodenentwicklungen für hilfreiche Therapien brauchen auch Diagnosen. Kontextdiskussionen (soziale, politische, ökologische Kontexte) werden deshalb unerlässlich und erfordern Diskurse der Perspektiven und Polyloge der Meinungspluralität. Weiterlesen →