Andreas Wern, Leverkusen: Weniger „Systemisches“ ist manchmal mehr – Beobachtungen aus der Provinz
Auch wenn ich mich im Laufe der letzten Jahre beruflich immer mehr vom Arbeitsfeld „Beratung und Therapie“ entfernt habe, blieb der systemische Ansatz nach den ersten Berührungspunkten während meines Studiums zentraler Bestandteil meines professionellen Denkens und Handels.
Aus diesem Abstand zur systemischen Landschaft stolperte ich kürzlich fast zufällig über die Internetpräsenz der beiden systemischen Fachverbände. Es war nicht zu übersehen. In wenigen Jahren muss die Anzahl der angeschlossenen Institute deutlich angestiegen sein. Die Systemische Gesellschaft wurde 1993 von 8 Instituten gegründet. Heute sind es 45. Seit 1999 sind auch Einzelmitgliedschaften in der SG möglich. 2012 wurden laut Wikipedia knapp 800 Einzelmitglieder gezählt. Heute sind es nach Angaben der SG 2500. Die DGSF hat seit ihrer Gründung im Jahre 2000 ihre Mitgliedszahlen bis heute mehr als verfünffacht. Aktuell befinden sich ca. 80 Weiterbildungsinstitute unter ihrem Dach. Eine paar Zahlen zum Vergleich: Die beiden psychoanalytischen Verbände in Deutschland vertreten zusammen keine 30 Ausbildungsinstitute. Beim Dachverband der tiefenpsychologisch fundierten Therapie sind es ebenfalls weniger als 30.
Auffallend auch: Während zu meiner Ausbildungszeit Bereiche wie Organisationsberatung oder Coaching eher von wenigen darauf spezialisierten Instituten angeboten wurde, haben inzwischen viele Institute Weiterbildungen von Therapie bis Organisationsberatung im Programm. Die Größe mancher Institute beeindruckt zudem. 20 und mehr Dozenten (Spitzenreiter: 50) und Ausbildungen gleich an mehreren Standorten in Deutschland.
Neben diesen Entwicklungen im etablierten Feld der beiden großen Fachverbände stieß ich zudem auf eine schwer überschaubare Zahl an nicht zertifizierten Fortbildungsangeboten in unterschiedlichstem Umfang und zudem auf spezielle Anwendungsfelder bzw. Methoden wie Systemische Mediation, Systemische Moderation, Systemische Kunsttherapie, Systemische Körpertherapie, Systemische Reittherapie, Systemische Energiearbeit, Systemisches Gestalt-Coaching usw. Für vierbeinigen Familienmitglieder gibt es auch die Systemische Tieraufstellung.
Unterm Strich kann man vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen annehmen, dass der systemische Ansatz sowohl im Bereich der Behandlung psychischer Leiden als auch der Bewältigung verschiedenster psychosozialer Probleme, der Lösung von Konflikten in Ehe und Familie sowie im Arbeitskontext seinen Platz gefunden hat. Aufs Ganze betrachtet ist die systemische Landschaft beeindruckend expandiert. „Systemisch“ wird als Begriff oder Etikett fast inflationär gebraucht. „Systemisch“ zu arbeiten, scheint auf dem Markt der Hilfs- und Beratungsangebote inzwischen sehr vorteilhaft zu sein und für sich alleine Qualität zu versprechen. Weiterlesen →