24. Dezember 2018
von Tom Levold
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Alexander Trost, Aachen: Vier Kerzen in Flammen, und dann der ganze Baum?
Wozu sind Adventskalender gut? Sie führen uns Tag für Tag mit neuen Überraschungen in die schwärzeste Nacht des Jahres, verbunden mit der Hoffnung, dass danach etwas wirklich Großes geschieht, das den Menschen Eintracht und Frieden, Erlösung von Verstrickung und Blindheit verspricht. Das zumindest war das ursprüngliche Narrativ der Vorweihnachtszeit.
Für uns SystemikerInnen ist mit der sozialrechtlichen Anerkennung das erste Kerzchen aufgeleuchtet. Das zweite wird vermutlich die Anerkennung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sein. Aber was ist mit der dritten und vierten Kerze für unser systemisches Mikro-System, aber auch fürs System Erde? Die Vier steht ja bekanntlich für die vollendete Gestalt, das Ganze. Werden systemische Therapie und Beratung in zehn Jahren wirklich DIE Bedeutung haben? Da darf man skeptisch sein…
Lassen wir doch einmal die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie beiseite. So wichtig das für’s systemische Ego und, bei aller Ambivalenz, erfreulich auch für die Anbieter*innen kassenfinanzierter Leistungen ist: das systemische Feld war gerade auch im Ringen um die eigenen therapeutische/beraterische Identitäten und Profile lebendig, kreativ und produktiv, und das wird hoffentlich auch so bleiben!
Nochmal zurück zum Endpunkt der Adventsgeschichte: Weihnachten! Verstörend daran ist doch (natürlich auch im systemischen Sinn) die verrückte Idee, dass ein mittelloses hilfloses Kind von obdachlosen Migranten das Heil der Welt in sich tragen soll!
Naja, so ganz abgedreht ist das aus heutiger Perspektive nicht: Neurowissenschaften, Säuglingsforschung und Bindungstheorie haben mittlerweile sehr gut belegt, dass die Fähigkeit eines Menschen sich selbst in Affekten, Impulsen, Gedanken und Handlungen zu regulieren, entscheidend von seinem personalen, emotionalen und sozialen Kontext von Beginn des Lebens an abhängt. Eine dialogisch-resonante, respektvolle und gleichzeitig haltgebende Beziehung in den ersten Jahren stellt die Weichen, ob jemand sein Leben in sozialer Kooperation und im Einklang mit seinem Denken und Fühlen gestalten kann, oder nicht. Ob jemand das umsetzen kann was sie/er als richtig und notwendig erkannt hat, und nicht nur seinen archaischen Überlebensimpulsen folgen muss, um nicht unterzugehen, egal was das kostet. Autoren wie Sven Fuchs, Politikwissenschaftler an der Uni Köln, haben aufgezeigt, dass „als Kind geliebte Menschen … keine Kriege an(fangen)“ (2012). Im Umkehrschluss neigen früh traumatisierte, vernachlässigte Kinder, deren Eltern ja oft in starker Verunsicherung Gefahr und Belastung leben und auch sozial nicht sicher sind, eher als eben „geliebte Kinder“ zu binären, einsinnigen, nicht kooperativen, und bis hin zu gewaltsamen Lösungen. Bindungssicherheit ist nicht alles, aber die erste und wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Leben im weiteren Verlauf gelingen kann, welchen Zumutungen der betreffende Mensch auch ausgesetzt sein mag.
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