systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

29. Juni 2021
von Tom Levold
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Wolfgang Tschacher wird 65!

Foto: Tom Levold

Auch wenn Wolfgang Tschacher heute vor 65 Jahren in Hohengehren (Baden-Württemberg) geboren wurde, dürfte er nach dem wunderbaren Bukarester EM-Achtelfinale, in dem die Schweiz die favorisierten Franzosen in dieser Nacht per Elfmeterschießen aus dem Wettbewerb geschossen haben, schön in seinen Geburtstag hinein gefeiert haben, hat er seinen beruflichen und privaten Lebensmittelpunkt doch nun schon fast 30 Jahre in Bern. Sein Studium der Psychologie und einigen Semestern Philosophie an der Universität Tübingen schloss er 1990 mit der Promotion in Psychologie in Tübingen ab, woran sich eine Tätigkeit als Familientherapeut und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Tübingen anschloss, bis er 1992 die Position des Forschungsleiters an der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik (SPK) in Bern (Schweiz) antrat. 2002 gründete er die Abteilung für Psychotherapie an den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD). Er leitet die Forschungseinheit Experimentelle Psychologie der Universität und ist einer der herausragenden Psychotherapieforscher, die einem systemtheoretischen und synergetischen Ansatz verpflichtet sind. Von 2007 bis 2010 war er Präsident des European Chapter der Society for Psychotherapy Research (SPR).

Im Zentrum seiner Forschung stehen Embodiment, nonverbale Synchronie in der sozialen Interaktion und allgemein das Verhältnis zwischen Körper und Geist. Zusammen mit Günter Schiepek und Ewald Johannes Brunner begründete er 1990 die Konferenzreihe Herbstakademie zum Thema Synergetik, Systemtheorie und Embodiment in Psychologie und Sozialwissenschaft. Bis 2019 fanden 20 Herbstakademien unter Mitwirkung von Hermann Haken statt, zu Themen wie Embodied Cognition (2000) in Ascona mit Andy Clark, Thomas Metzinger und Esther Thelen oder Embodied Aesthetics (2017) an der Universität zu Heidelberg mit Thomas Fuchs, Vittorio Gallese, Hartmut Rosa, Winfried Menninghaus und anderen. Im Kontext synergetischer und phänomenologischer Konzepte eröffnet seine kreative Nutzung von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden neue Perspektiven auf die Wechselwirkungen von psychischen, sozialen und körperlichen Prozessen, die im systemischen Feld viel zu wenig rezipiert werden. „Die Bedeutung von Embodiment für Psychologie und Psychotherapie“ hat er 2012 in einem programmatischen Artikel mit Maja Storch verdeutlicht, seine neueste Veröffentlichung über den Zusammenhang von „Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching“ aus dem Jahre 2021 ist als Open Access in der Zeitschrift OSC erschienen und hier abrufbar.

Lieber Wolfgang, zum 65. Geburtstag herzliche Glückwünsche und weiterhin viel Erfolg für deine vielfältigen Forschungsprojekte, die unser Feld auf Dauer so großartig bereichern.

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

22. Juni 2021
von Tom Levold
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Wolfgang Loth zum 70.

(Foto: Tom Levold)

Heute feiert Wolfgang Loth seinen 70. Geburtstag. Die Riege der jungen Menschen, die sich in den 80er Jahren vom der Systemtheorie und dem systemischen Ansatz im therapeutischen und beraterischen Feld begeistern ließen, ist gemeinsam mit diesem Ansatz älter geworden – ohne den Enthusiasmus verloren zu haben. Schon zum 65. Geburtstag und seinem Ausscheiden aus der Praxis der Erziehungsberatung ist Wolfgang an dieser Stelle gewürdigt worden. Und nun ist das schon wieder fünf Jahre her. Wer ihn kennt, weiß, dass er kein Mensch der großen Bühne ist, auch im Seminarbetrieb hat er in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer eher Zurückhaltung an den Tag gelegt. Das mag dazu führen, dass sein Wirken vielleicht von denen unterschätzt wird, die sich ihr intellektuelles Futter primär über solche Quellen verschaffen. Allerdings kann der Beitrag, den er seit über 30 Jahren für den systemischen Diskurs geleistet hat, überhaupt nicht überschätzt werden. Ich kenne kaum jemanden, der das fachliche Feld, dass er bestellt, ganz abseits von jeder akademischen Einbindung so gründlich beackert hat wie er und das, was er in der Praxis leistet und geleistet hat (nicht nur im Feld der Erziehungsberatung) einer so rigorosen epistemologischen und praxeologischen Reflexion unterzogen hat wie er. Diese Haltung hat er nicht nur seinen eigenen Aktivitäten gegenüber aufgebracht, sondern auch dem systemischen Diskurs gegenüber auf ganz besondere Weise. Er war nicht nur lange Redakteuer der Weinheimer systhema, sondern hat als langjähriger Herausgeber der systeme, der Zeitschrift der ÖAS und der SG, dieses Journal in seiner Zeit ganz maßgeblich gestaltet. Seine vielen Veröffentlichungen haben immer wieder besondere (und oft übersehene) Akzente im systemischen Feld gesetzt. Seine Rezensionen haben nichts mit den leider verbreiteten Gefälligkeitsattesten zu tun, sondern sind gute Beispiele für eine publizistische Gattung, von der man selbst nicht nur Hinweise bekommt, sondern immer auch etwas lernt, weil er in seinen Texten tatsächlich die Auseinandersetzung mit den rezensierten Werken sucht – und das auf eine unglaublich belesene, neugierige, kritische aber eben auch immer faire Weise. Schnellschüsse sind von ihm nicht zu erwarten – gründlich nachgedacht wird immer. Die Verknüpfung von Themen und Ideen, der aufrichtige und wahrhaftige Dialog und das radikale Ernstnehmen der Gesprächspartner sind Qualitäten, die nicht genug betont werden können. Unsere jahrelange Arbeit als Vertrauenspersonen für die kommunikative Bearbeitung von Konfliktfällen und Beschwerden für die Systemische Gesellschaft wurde von dieser Haltung getragen. Wie ich finde, bringt dieses Foto das alles gut zum Ausdruck.

Lieber Wolfgang, ich danke dir für die zahllosen Anregungen und unsere vielen Gespräche, seien sie auf Tagungen, Meetings, im Garten, in der Sauna oder online geführt worden, für deine Freundschaft und Zuneigung. Mögest du gesund und munter bleiben und deine Freiheiten nutzen, um auch zukünftig mit deinen Einwürfen und Beisteuerungen das systemische Feld hier und da etwas umpflügen zu können. Ich gehe davon aus, dass ich diesen Wunsch mit vielen Menschen teile, von denen sich einige auch hier zu Wort melden.

Herzliche Grüße, dein Tom

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19. Juni 2021
von Tom Levold
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systeme 1/2021

Das erste Heft des aktuellen Jahrgangs ist ein freies Heft, dessen Beiträge sich mit Themen wie „Freiheit und Zugehörigkeit“, die „Erfindung der ,Person’“, der Neurobiologie des Konstruktivismus und der systemischen Konzeption von Gesundheit beschäftigen, garniert mit Rezensionen, einem Nachruf auf Peter Fürstenau sowie Würdigungen für einige Jubilare. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…systeme 2021.

15. Juni 2021
von Tom Levold
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Das Elend der Verschickungskinder

Vor ziemlich genau 15 Jahren habe ich im systemagazin ein Buch des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski rezensiert, in dem sich dieser mit den systematischen Quälereien von Kindern und Jugendlichen in der bundesrepublikanischen Heimerziehung der Nachkriegszeit beschäftigte und mit dem er erstmals eine wirklich weitreichende gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema auslöste. Zu Beginn meiner Rezension stellte ich eine Verbindung mit meinen eigenen (kurzen) Erfahrungen mit diesem System als Verschickungskind in einer „Erholungsmaßnahme“ her. Ich schrieb: „Ich bin froh, dass sich meine Erfahrungen mit diesem System als fast Neunjähriger nur auf sechs Wochen beschränkten, die nicht einmal eine Erziehungsmaßnahme darstellten, sondern als Erholungskur deklariert waren. Sie gehörten dennoch zu den schlimmsten Wochen meines Lebens. Wir wurden von den Nonnen nicht geprügelt, aber mehr oder weniger zwangsernährt (schließlich bestand der Erfolg der Maßnahme in der Gewichtszunahme), systematisch gekniffen, geschubst, gedemütigt, beschimpft und eingeschüchtert, nachts brutal geweckt, wenn wir auf der falschen Seite schliefen (um schlechte Träume zu vermeiden!), strengen Strafen für Kleinigkeiten unterworfen (stundenlanges Stillsitzen, für 50 Kinder Schuhe putzen usw.). Das Schlimmste aber war, dass meine heimwehgetränkten Briefe an die Eltern zerrissen und neu diktiert wurden, und die Eltern meine Erfahrungen lange Zeit nicht glauben wollten: „Du hast doch immer so schön geschrieben!“

Mittlerweile ist klar, dass ich diese (und noch viel schlimmere) Erfahrungen mit Abertausenden von Menschen teile, denen ein aktuelles Buch gewidmet ist, dass Anfang des Jahres im psychosozial-Verlag erschienen ist. Die Autorin, Anja Röhl, Jg. 1955, Sonderpädagogin, Germanistin und Autorin, ist die Tochter des Journalisten und Autors Klaus Rainer Röhl und Stieftochter von Ulrike Meinhof. In den frühen 60er Jahren war sie selbst mehrfach der Verschickung in solche Kinderkuren ausgesetzt. Schon 2009 beschrieb sie ihre diesbezüglichen Erfahrungen in einem Artikel für die „Junge Welt“ und startete später eine eigene Website verschickungsheime.de, die ein Sammelbecken für Erfahrungsberichte von vielen Betroffenen wurde. Im November 2019 organisierte sie auf Sylt eine Tagung für Betroffene und legt nun mit ihrem Buch eine erste Bestandsaufnahme ihrer Recherchen vor – eine Veröffentlichung, die es zu diesem Thema und in diesem Umfang bislang nicht gegeben hat. Weit über 3000 Betroffene haben in einen Fragebogen Fragen nach ihrem Jahrgang, den Namen der Heime, den Gefühlen während der Heimverschickungen und ihren Erinnerungen an die drei negativsten Erlebnisse berichtet, die sie aus dieser Zeit erinnern. Eine Vielzahl von frei formulierten Berichten steht noch zur inhaltlichen Auswertung an. 

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9. Juni 2021
von Tom Levold
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„Journalismus macht aus allem Journalismus“

Im Jahr 2000 erschien in der Zeitschrift Communicatio Socialis ein interessantes Gespräch zwischen Bernhard Pörksen und Siegfried Weischenberg über Konstruktivismus, Systemtheorie und die Ethik der Medien. Siegfried Weischenberg ist Kommunikationswissenschaftler und Soziologe und leitete u.a. den Lehrstuhl Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, Von 1999 bis 2001 war er Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes. Bernhard Pörksen ist Medienwissenschaftler mit einem Lehrstuhl an der Universität Tübingen. Im systemischen Feld ist er durch seine Arbeiten zum Thema Konstruktivismus sowie durch seine Interview-Bände (mit Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Friedemann Schulz von Thun) bekannt geworden.

Das Gespräch kreist um epistemologische und ethische Fragen eines Journalismus, der sich innerhalb eines konstruktivistischen Selbstverständnisses bewegt. In seiner Einleitung schreibt Pörksen: „Es sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Konstruktivismus und Systemtheorie, die auch das folgende Gespräch zur Ethik der Massenmedien durchziehen: Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg, der die konstruktivistischen und systemtheoretischen Debatten wesentlich geprägt und inspiriert hat, schlägt nämlich vor, beide Theorien zu verbinden und das (journalistische) Individuum und die Welt der Medien, das psychische und das soziale System gleichzeitig im Blick zu behalten. Den Widersprüchen und Spannungen, die sich bei der Arbeit an einer solchen Theorie-Synthese notwendig einstellen, gibt er eine überraschend produktive Wendung. Er nutzt die paradoxale Ausgangslage als generatives Moment; Siegfried Weischenberg zeigt, wie sich die strukturelle Unvereinbarkeit zwischen der kleinformatigen konstruktivistischen und der großformatigen systemtheoretischen Perspektive, gerade wenn es um Medienethik geht, auf eine fruchtbare Weise nutzen lässt: Diese Unvereinbarkeit erzeugt – so das Argument – Diskussionsstoff, sie provoziert Fragen nach der Autonomie des Einzelnen und den grundsätzlich vorhandenen Zwängen, die sich aus der Arbeit im System der Medien ergeben; sie bringt ein angemessen komplexes Gespräch, das sich nicht auf Sonntagsreden und erhobene Zeigefinger beschränkt, überhaupt erst in Schwung. Die unauflösbare Spannung zwischen der ethischen Verantwortung des Individuums und den Imperativen des Mediensystems wirkt wie eine Art Diskursgenerator – und ist, so verstehe ich Siegfried Weischenberg, kein zu beseitigendes Übel, sondern äußerst nützlich und dem genauen, undogmatischen Nachdenken förderlich.“

Den vollständigen Text gibt es hier zu lesen…

1. Juni 2021
von Tom Levold
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Kontext 1/2021 – Neuere Aspekte systemischer Therapie und Praxis

Bevor in den nächsten Wochen das Kontext-Themenheft zur Psychiatrie-Kritik erscheint, sei hier noch schnell ein Blick auf das aktuelle Heft 1 des Jahres 2021 geworfen, das neben vielen Rezensionen in seinen Hauptbeiträgen „neuere Aspekte systemischer Therapie und systemischer Methoden“ vorstellt. Im Editorial heißt es dazu:

„So nimmt Ingrid Egger die pferdegestützte Therapie mit Menschen in den Blick, die schwere und traumatisierende Erfahrungen im Kontext von Krieg, Flucht und Gewalt gemacht haben und gezielt traumatherapeutische Behandlungsansätze benötigen. Therapeutische Arbeit auf der Basis des Gesprächs ist hier oft nur schwer möglich, geht es doch darum, das häufig tief erschütterte Vertrauen in die Tragfähigkeit von sozialen Beziehungen erst wieder herzustellen. Für Egger stellt der Einbezug »eines Lebendigen«, wie sie es bezeichnet, eine ausgezeichnete Möglichkeit dar, von massiven Traumafolgen betroffenen Menschen einen anderen Zugang zu den schmerzhaften Erlebnissen und den damit verbundenen tiefen Erschütterungen ihrer »Selbst- und Welterfahrungen« zu ermöglichen. Auf der Grundlage von ihr geführten Interviews mit Patientinnen und Patienten illustriert sie, wie die betroffenen Menschen durch den ergänzenden Einsatz von Pferden in der Therapie neue Ausdrucksformen die leidvollen Erfahrungen aber auch der dahinterstehenden Bedürfnisse nach positiven, nicht grenzverletzenden Beziehungserfahrungen finden können. Allerdings, und das nimmt zurecht großen Raum in den Ausführungen ein, ist der Einsatz von Pferden keine beliebig nutzbare Methode, sondern erfordert neben therapiegeeigneten Pferden vor allem auch umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit ihnen. Insofern kann deren Einsatz für pferdeaffine Therapeuten durchaus zu einem ergänzenden therapeutischen Instrument werden, das allerdings angesichts des immer wieder aufflammenden Hypes um tiergestützte Therapie auch durchaus kritisch betrachtet werden kann. Einige Anregungen dazu bietet der ironisch distanzierte Comic von Darren Fisher.

Eia Asen ist im systemischen Feld dadurch sehr bekannt geworden, dass er das ursprünglich aus einer psychoanalytisch fundierten Entwicklungstheorie stammende Konzept des Mentalisierens auf die therapeutische Arbeit mit Familien übertragen hat. Mit Mentalisieren bezeichnet er die Fähigkeiten, innerpsychische Zustände bei Anderen wahrnehmen und auch versprachlichen zu können. Diese Fähigkeit zur Perspektivenübernahme stellt soziologisch gesehen im Sinne von George H. Mead die grundlegende Basis jeder Form von Sozialität dar. Sie ist jedoch nie, darauf verweist das Konzept des Mentalisierens, nur ein kognitiv geprägtes Sich-Hinein-Versetzen in den Anderen, sondern ein imaginatives und affektives Wahrnehmen und gleichzeitiges Reflektieren dieses Wahrnehmens, das gerade in zwischenmenschlichen Krisen besonders herausgefordert wird. Insofern wird die Fähigkeit zu mentalisieren für Eia Asen zu einer Schlüsselfertigkeit, die es ermöglicht, tiefergehende Differenzen zwischen den inneren Zuständen aller Beteiligten in therapeutischen und anderen systemischen Settings zu erkennen und der Reflexion zugänglich zu machen. Die Förderung des Mentalisierens in der Familientherapie ist so auch eine Arbeit an der Beziehungsfähigkeit aller Beteiligten.

Unter der Rubrik »Aus der Praxis« finden von Zeit zu Zeit interessante Praxisberichte und neuere Methodenüberlegungen ihren Platz. In diesem Rahmen beschäftigt sich Michael Jakob in einem Artikel mit dem schönen Titel »Momo auf dem Zauberberg« mit dem Zeiterleben von Menschen. Im Rekurs auf die Arbeiten von Hartmut Rosa wird auch für ihn Beschleunigung zu einem zentralen Aspekt modernen Zeiterlebens.“

Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…

29. Mai 2021
von Tom Levold
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Jerzy Jakubowski gestorben

Am 26. Mai ist Jerzy Jakubowski überraschend gestorben. Er war Lehrtherapeut der Saarländischen Gesellschaft für Systemische Therapie und Mitbegründer des mittlerweile größten systemischen Weiterbildungsinstituts in Poznań in Polen. Wir sind uns nicht häufig, aber immer mit Sympathie und Respekt begegnet – auf den SG-Mitgliederversammlungen und anlässlich meiner Workshops bei der SGST im Saarland, wo er mir noch im November 2018 die Ehre gab, an einem Paartherapie-Seminar teilzunehmen, und in Poznań, wo wir uns gelegentlich miteinander auf ein Glas Wein getroffen haben. Auch wenn wir manchmal inhaltlich unterschiedliche Ansichten über Fragen der Therapie hatten, hat mich seine radikale Offenheit und Neugier sowie sein hintergründiger, fast schon schwejkhafter Humor immer sehr beeindruckt. Rudolf Klein, der seit über 30 Jahren mit Jerzy zusammen gearbeitet hat, hat für systemagazin einen Nachruf verfasst.

Rudolf Klein, Merzig: Nachruf auf Jerzy Jakubowski

Jerzy Jakubowski ist tot. Er starb vollkommen überraschend am 26. Mai 2021 in Saarbrücken. Er wurde 84 Jahre alt. Jerzy war ein langjähriger Kollege und Weggefährte in unserem Institut der Saarländischen Gesellschaft  für systemische Therapie.

Ich habe Jerzy Ende der 80er Jahre kennengelernt. Er arbeitete damals in einer Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige in Saarbrücken und interessierte sich für systemische Ansätze in der Psychotherapie. Da war die Idee naheliegend, ihn in unser gerade gegründetes systemisches Institut einzuladen. Sehr schnell lernten wir ihn als neugierigen und gleichzeitig erfahrenen Kollegen zu schätzen. 

Eine nähere kollegiale Beziehung entstand, als er mich gelegentlich einlud, mit ihm gemeinsam Familiengespräche mit seinen Patienten im Rahmen der stationären Therapie zu führen. Diese Kooperation wurde Anfang der 90er Jahre deutlich intensiver, als er mich fragte, ob ich bereit wäre, mit ihm gemeinsam einen Grundkurs in systemischer Therapie in seinem Heimatland Polen anzubieten. Wir ahnten damals nicht, welche Erfahrungen wir machen und was wir in Bewegung setzen würden. Mal ganz davon abgesehen, dass die ersten Seminare in einem unbeheizten Kindergarten auf Kinderstühlen abgehalten wurden, hat sich daraus heute, 30 Jahre später, aus Teilen der damaligen Ausbildungsgruppe das größte systemische Ausbildungsinstitut in Polen entwickelt. Jerzy war der Vater dieses gewaltigen Projekts. Er hat das schier unmögliche mit seinem unermüdlichen Einsatz, seiner findigen Art, seinem unerschütterlichen Optimismus und seiner außergewöhnlichen Kreativität möglich gemacht.  

Er brachte das Kunststück fertig, eine jugendliche Spannkraft, gepaart mit  einer fast kindlichen Neugierde und einer große Lebens- und Therapieerfahrung zu kombinieren. Diese Melange hat nicht nur viele unserer Ausbildungskandidaten tief bewegt und nachhaltig beeindruckt – mich hat das zutiefst bewegt. 

Natürlich zeigte er mit seiner Kraft, seiner Hartnäckigkeit, seinem Willen zur Freiheit und seiner kritischen Distanz zu Regelungen, Strukturen und Einschränkungen jeglicher Art auch Ecken und Kanten, die sich durchaus auf der Ebene der Institutsorganisation in manchen Spannungen und Differenzen Bahn brachen. Diese in den letzten Jahren ausgetragenen Differenzen verstellten mir  niemals den Blick auf den Menschen Jerzy, auf seine Art, das Schicksal und die Wiederfahrnisse seines Lebens zu tragen, die schönen Seiten seines Lebens zu genießen und mit Stolz auf seine Liebe zu seiner Frau Wanda und seinen Kindern Weronika und Radomir zu schauen. 

Nun ist er plötzlich und unerwartet weg, von uns gegangen, verschwunden. Vieles, was ich und wir noch hätten sagen können und müssen, bleibt nun ungesagt. Vieles, was er noch geplant hatte, wird nicht mehr umgesetzt werden können. Die gemeinsame Zeit ist zu Ende gegangen. Sein Tod lässt uns zurück, lässt uns mit dem nicht mehr Sagbaren alleine und lässt uns eine Lücke fühlen, die sich niemals schließen wird. Wir, und da spreche ich sicherlich für meine Kolleg*innen der SGST und für viele, die ihn aus anderen Kontexten kannten, werde ihn sehr vermissen. 

27. Mai 2021
von Tom Levold
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Deutscher Verlagspreis 2021 für den Carl-Auer-Verlag

Zum dritten Mal wird in diesem Jahr der Deutsche Verlagspreis vergeben. Preisgeber ist die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien in Partnerschaft mit der Kurt-Wolff-Stiftung und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. Ziel dieses Preises ist die Unterstützung der hervorragenden Arbeit unabhängiger Verlage in Deutschland. Drei Verlage werden mit einem Gütesiegel und einer Prämie in Höhe von jeweils 60.000 Euro bedacht, weitere 60 Verlage erhalten ein Gütesiegel verbunden mit einer Prämie in Höhe von jeweils 20.000 Euro. Welche drei Verlage in die erste Kategorie fallen, wird am 1.7.2021 bekannt gegeben. Die 63 Kandidaten für den Preis sind aber schon jetzt bekannt gegeben worden. Erfreulicherweise ist mit dem Carl-Auer-Verlag auch ein dezidiert systemischer Verlag unter den Preisträgern. In der Pressemitteilung der Kulturstaatsministerin Monika Grütters heißt es: „Mit ihrem Gespür für Leserinnen und Lesern und dem eigenen Kopf für Themen auch jenseits der ausgetretenen Pfade sorgen die kleinen, unabhängigen Verlage für eine einzigartige Vielfalt auf dem deutschen Buchmarkt. Gerade in diesen Zeiten der Krise haben sie echten Mut zum unternehmerischen Risiko bewiesen“. systemagazin gratuliert dem Carl-Auer-Verlag ganz herzlich!

12. Mai 2021
von Tom Levold
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Nachruf auf Humberto R. Maturana

Kurt Ludewig, Münster: Ein Menschenfreund ist von uns gegangen. Humberto Maturana verstarb am 6. Mai 2021

¡Hola!
¿De dónde eres?
De Chile, igual que tu.
¡Que bien!
[Hallo! -▸ Woher kommst Du? -▸ Aus Chile, so wie du -▸ Wie schön!]

Dieser knappe Wortaustausch zwischen Landsleuten im Ausland war der Auftakt zu einer Freundschaft, die sich über zwei Jahrzehnte erstrecken sollte. Die Begegnung fand im Frühjahr 1984 am Anfang einer Tagung in Calgary, Kanada, statt. Von seinem Gastgeber angeführt, betrat Humberto Maturana den Vorraum der Tagung und begrüßte jeden der im Kreis wartenden Teilnehmer mit Handschlag. Der kanadische Psychiater und Familientherapeut Karl Tomm hatte ihn und Heinz von Foerster eingeladen, im Rahmen einer zweitägigen Vortagung die live-Arbeit der Mailänder Familientherapeuten Luigi Boscolo und Giancarlo Cecchin zu beobachten und aus epistemologischer Sicht zu reflektieren. Zu der Vortagung war eine Reihe von prominenten Vertretern der systemischen Ansätze aus Nordamerika eingeladen, darunter Lyman Wynne, Harry Goolishian, James Gustafson und Sallyann Roth. Freundlicherweise hatte Tomm zudem alle ausländischen Teilnehmer zu der Vortagung eingeladen, darunter John Burnham, Alison Roper-Hall und Queenie Harris aus England, Laura Fruggeri und Massimo Matteini aus Italien sowie eine Gruppe von Japanern und mich aus Deutschland . Die anderen ortsnahen Teilnehmer kamen drei Tage später zu der eigentlichen Tagung.

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7. Mai 2021
von Tom Levold
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Humberto R. Maturana (14.9.1928-6.5.2021)

(Foto: Carl-Auer-Verlag)

Gestern ist Humberto Romesín Maturana im Alter von 92 Jahren gestorben. Mit seinen Untersuchungen zur Subjektabhängigkeit von Wirklichkeitskonstruktionen und der Entwicklung des Autopoiese-Konzeptes hat er in den 80er Jahren ganz entscheidende Impulse für die Entwicklung des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes gegeben und in der deutschsprachigen systemischen Szene durch viele Vorträge und Seminare weithin Bekanntheit erlangt. In den nächsten Tagen wird an dieser Stelle ein Nachruf von Kurt Ludewig erscheinen. Auch auf der Website des Carl-Auer-Verlages werden in den kommenden Tagen Erinnerungen an und Gedanken zu Begegnungen mit Maturana veröffentlicht werden, etwa Bernhard Pörksen, Fritz B. Simon und andere, die Maturana kennenlernen konnten.

5. Mai 2021
von Tom Levold
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Ängste bei Kindern und Jugendlichen aus funktionaler Perspektive

In den Systemischen Notizen 3/2019 beschäftigt sich Linda Seiwald, Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (SF) und Sporttherapeutin aus Linz in Österreich mit Angststörungen aus einer systemtheoretischen Perspektive. In der Zusammenfassung heißt es: „Richtet man den Blick auf verschiedene Formen von Angst, lassen sich hierzu verschiedene Funktionen ableiten. So ermöglicht etwa die Panikattacke dem psychischen System durch die fremdreferenzielle Beschäftigung mit dem Körper, ihre Grenzen zu stabilisieren und die selbstreferenzielle Krise zu überwinden. Der generellen Angststörung kann die Funktion zugeschrieben werden, dass ein Nicht-Fokussieren und der Verzicht auf thematische Substitutionen weniger Angst macht, als das Konkretisieren von ängstlichen Situationen. Bei Kinder und Jugendlichen kann Angst als Signal für anstehende Entwicklungsprozesse betrachtet werden. Geht man davon aus, dass ein Entwicklungsschritt des Kindes oder Jugendlichen ein koevoluativer Prozess mit den Bezugspersonen ist, sind Verbundenheit und zugestandene Autonomie in familiären und individuellen Entwicklungsprozessen wechselseitige Faktoren. Ein soziales System wird sich nur dann erhalten, wenn es sich in einem Spannungsfeld von Bewahrung und Veränderung gründet. Dies erfordert mitunter eine Veränderung von Rollen, Regeln und Umgangsformen etc. Angststörung kann ein Ausdruck eines „Reformstaus“ sein. Eine weitere Funktion von Angst ist die der Beziehungsregulierung, dabei kann Angst sowohl Nähe als auch Distanz erschaffen.“ Der vollständige Text kann hier gelesen und heruntergeladen werden…

2. Mai 2021
von Tom Levold
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Tom Andersen (1936-2007): „The Reflecting Team: Dialogue and Meta-Dialogue in Clinical Work“

Foto: Kurt Ludewig

Heute würde Tom Andersen, der 2007 mit 71 Jahren tragischerweise tödlich verunglückte, 85 Jahre alt (Hier der Nachruf aus 2007 im systemagazin). Der norwegische Psychiater und systemische Therapeut wurde mit der Entwicklung des „Reflecting Teams“ weltbekannt, welches aus den systemischen Konzepten der Zirkularität, der Beobachtung der Beobachter und der Multiperspektivität von Beschreibungen eine originelle Vorgehensweise in der Arbeit mit Familien entwickelte, die auch in anderen Bereichen der systemischen Beratung, Supervision, Coaching etc. Eingang gefunden hat. Sein Einfluss auf die Entwicklung systemischen Denkens ist gar nicht zu überschätzen. Die Rezeption und Anwendung seiner Konzepte hat sich weltweit verbreitet.

1987 erschien sein bahnbrechender Artikel, in dem er diese Vorgehensweise erläuterte, in der Family Process unter dem Titel „The Reflecting Team: Dialogue and Meta-Dialogue in Clinical Work“. Im abstract heißt es: „A „stuck“ system, that is, a family with a problem, needs new ideas in order to broaden its perspectives and its contextual premises. In this approach, a team behind a one-way screen watches and listens to an interviewer’s conversation with the family members. The interviewer, with the permission of the family, then asks the team members about their perceptions of what went on in the interview. The family and the interviewer watch and listen to the team discussion. The interviewer then asks the family to comment on what they have heard. This may happen once or several times during an interview. In this article, we will first describe the way we interview the family because the interview is the source from which the reflections flow. We will then describe and exemplify the reflecting team’s manner of working and give some guidelines because the process of observation has a tendency to magnify every utterance. Two case examples will be used as illustrations.“

Der Text ist auch online zu lesen, und zwar hier…

1. Mai 2021
von Tom Levold
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Ansichten wechseln: Meinungen – Konflikte – Streit(kultur)

„Ansichten wechseln“, das war der Titel der siebten Merseburger Tagung zur systemischen Sozialarbeit, die im November 2020 online stattfand. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung präsentiert einige Themen, die auf der Tagung behandelt wurden. Im Editorial schreibt Cornelia Tsirigotis: „Während der Vorbereitung dieses Heftes mangelt es weltweit nicht an Konflikten. Dazu gehören unter anderem die Auswirkungen der Wahl und das Umgehen mit unerwünschten Ergebnissen in Amerika, besonders fassungslos denke ich an die Eskalation durch den Sturm auf das Kapitol Anfang Januar und den Niedergang jeder politischen Kultur. Mir fiel ein, dass ich die Methode der „Amerikanischen Debatte“ immer gerne eingesetzt habe, um Meinungen verstehbar und austauschbar zu machen, das war einmal … Zeitschriften zusammenzustellen bedeutet für mich, Material zur Verfügung zu stellen, das für einen fachlichen Diskurs nötig ist. Fachlicher Diskurs findet aus meiner Sicht nicht im luftleeren Raum statt, egal ob politische Auseinandersetzung oder ein wissenschaftlicher Diskurs. Eine sich als systemisch verstehende Zeitschrift hat aus meiner Sicht nicht nur die Aufgabe, die Themenvielfalt und den aktuellen wissenschaftlichen und praktischen Diskurs im systemischen Feld öffentlich zu machen, sondern auch, den gesellschaftlichen Kontext, in dem Beratung, Therapie und professionelle psychosoziale Hilfeangebote geschehen, einzubeziehen bzw. den Blick explizit darauf zu richten.” Die Beiträge drehen u.a. sich um die Arbeit mit hochstrittigen Elternpaaren, mit einem emanzipatorischen Ansatz in der Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen und um den Umgang mit Verletzungen. Auch im systemischen Feld gibt es (viel zu wenig) Streit: Marie-Luise Conen spricht sich in der Auseinandersetzung um eine Fusion von DGSF und SG dagegen aus, Peter Luitjens kritisiert die Kritik von Johannes Herwig-Lempp in der Debatte um „Rechte Wörter“. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…