Barbara Kuchler ist Soziologin, Systemtheoretikerin und Systemische Familientherapeutin in München. Sie betreibt einen klugen Blog unter dem Titel familienknatsch.blog, in dem sie paar- und familientherapeutische und -theoretische sowie gesellschaftspolitische Themen behandelt. In den letzten Tagen hat sie aus der Perspektive der systemtheoretischen Konflikttheorie zum Krieg in der Ukraine Stellung bezogen. Ich konnte sie gewinnen, ihren letzten Text „Eskalation oder Warum wir Teil des Konflikts sind“ als Gastautorin auch hier im systemagazin zu veröffentlichen und hoffe, hier eine Diskussion in Gang zu bringen, die jenseits der momentanen dominanten Diskurse geführt werden sollten.
Barbara Kuchler, München: Eskalation oder Warum wir Teil des Konflikts sind
Was ist das für eine Dynamik, die jetzt zwischen Russland und dem Rest der Welt in Gang ist? In einem Versuch, das zu verstehen, greife ich auf systemisch-therapeutische Begriffe (I.) und auf systemtheoretisch-soziologische Begriffe (II.) zurück. Diese Denkweise habe ich u.a. von Fritz Simon gelernt (https://www.carl-auer.de/todliche-konflikte) und auch hier schon angewandt: https://familienknatsch.blog/2022/02/25/russland-und-die-nato/.
I. Symmetrische und Komplementäre Eskalation
Wir befinden uns in einer Eskalation, oder besser: in zwei Eskalationen gleichzeitig.
(1) Russland und die Ukraine befinden sich in einer symmetrischen Eskalation, wohlbekannt aus der Konfliktforschung. Das Prinzip ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schlag um Schlag, Tote um Tote, Rakete um Rakete, notfalls: Rakete um Molotowcocktail. Gleiches wird mit Gleichem vergolten, oder jedenfalls mit Ähnlichem.
(2) Russland und die westliche Welt befinden sich in einer komplementären Eskalation. Das ist eine Form von Eskalation, die Kriegsforschern normalerweise nicht bekannt ist, Paartherapeuten aber umso besser. Hier agieren die Beteiligten in verschiedenen und sogar gegensätzlichen Positionen, die sich aber trotzdem – oder: deswegen – so ineinander verschrauben, dass beide immer tiefer in ihre jeweilige Position hineingeraten und nicht mehr herausfinden. Jeder übernimmt seinen Pol des Spektrums, versteift sich immer mehr darauf und verstärkt dadurch auch den Anderen darin, in seinem Pol zu bleiben. Eine komplementäre Eskalation muss nicht unbedingt ein Konflikt sein, es kann durchaus eine freundlich-kooperative Beziehung sein, in Paaren z.B. nach dem Schema hilfsbedürftig vs. helfend, oder führend vs. folgend, oder spaßorientiert vs. pflichtorientiert, oder sonst irgendeine polare Rollenkonstellation. Eine Eskalation ist das nicht im Konfliktsinn, sondern nur in dem sehr abstrakten Sinn, dass jeder der Beteiligten mit der Zeit immer extremer in seiner Ausprägung wird und extremer in seiner Ausprägung wird, als er es ohne den Partner wäre.[1]
Ich versuche unten, die Positionen in einer Schemazeichnung darzustellen. Und ich versuche, sie möglichst deskriptiv und nicht-normativ darzustellen, also ohne Vorabfestlegung darauf, dass die westliche Position die „richtige“ ist, was natürlich ansonsten auch meine Meinung ist.
– Russland vertritt die Position der Macht, der nackten Gewalt, der militärischen Aggression, der Realpolitik, der Großmachtambition, der alten und unaufhebbaren Einsicht, dass Gewehre im Zweifel stärker sind als Kugelschreiber und Amtssiegel. Je stärker der Widerstand der Ukrainer und der solidarische Beistand des Westens, desto mehr verstärkt Russland seine Kriegführung, damit der einmal begonnene Kriegszug nicht erfolglos ist.
– Der Westen vertritt die Position des Rechts, hier: des Völkerrechts, das besagt: Staaten sind souverän, Gewalt darf kein Mittel der Politik sein, Angriffskriege sind verboten, und das Resultat kriegerischer Aggressionen darf unter keinen Umständen hingenommen werden.
Je brutaler die russische Kriegführung wird, desto entsetzter verweist der Westen auf das Völkerrecht, und desto entschlossener ist er, dieses Vorgehen und diese Art der Herstellung politischer Ergebnisse zu ächten.
Die beiden befinden sich in einer komplementären Eskalation, vermittelt über die Ukraine, die sich wiederum mit Russland in einer klassischen symmetrischen Eskalation befindet. Die beiden Eskalationszirkel hängen in der Weise zusammen, dass durch die Solidarität des Westens der Kriegswille der Ukrainer viel länger aufrechterhalten werden kann, als er es angesichts eines aussichtslosen militärischen Kräfteverhältnisses sonst könnte, und dass dies die Intensität und Brutalität der russischen Kriegführung anheizt, was wiederum die Solidarität des Westens anheizt, usw.
Abbildung 1: Gesamtsituation
Abbildung 2: Symmetrische Eskalation Ukraine-Russland
Abbildung 3: Komplementäre Eskalation Westen-Russland
An sich wäre in der gegebenen Lage die naheliegende Lösung die: Russland darf sich mit einer akzeptablen „Beute“ davonmachen – etwa Donezk, Luhansk, Krim, Asowsches Meer –, lässt dafür den Rest der Ukraine als unabhängiges Land bestehen (unter Druck der westlichen Sanktionen) und entkommt damit der gegenwärtigen Lage, die auch für Russland ein Schlamassel ist. Diese Lösung scheint vielen im Westen derzeit nicht akzeptabel, weil man damit einen Völkerrechtsbruch Russlands anerkennen müsste, eine gewaltsame Änderung der politischen Landkarte. Es kann doch nicht angehen, dass jemand, der nur skrupellos genug ist, sich einfach einen Teil des Nachbarlandes krallen kann.
Aber man kann wissen: Ohne Nachlassen (auch) in der eigenen Position kommt man aus einer Eskalationsspirale nicht heraus. Nur dass das Bestehen auf dem Völkerrecht und der Nicht-Anerkennung gewaltsamer Annexionen für uns wie eine eskalierende, konservative, status quo-bewahrende Position aussieht, verhindert nicht, dass sie in der faktischen Welt Teil eines Interaktionszirkels oder einer Eskalationsspirale ist.
Natürlich ist das vor allem etwas, was die Ukraine machen müsste: den Verlust von Teilen ihres Territoriums akzeptieren. Das ist nicht unsere Sache. Aber wir können auf Selenskyj so oder so einwirken. Wir können ihn dabei unterstützen, eine defensive Verhandlungsstrategie einzuschlagen, sich auf Kompromisse einzulassen und einen aussichtslosen Krieg aufzugeben, oder wir können Waffen liefern und ihm in seiner Unbeugsamkeit den Rücken stärken.
II. System und Rechtfertigung
Nun kann man sagen: Das läuft auf eine Rechtfertigung der russischen Aggression hinaus. Hübsch systemisch dekoriert, aber doch nichts anderes als eine Rechtfertigung der gewaltsam durchgeführten Großmachtambitionen oder Weltbeherrschungspläne Putins. Man braucht nur irgendwo einzumarschieren und sich ausreichend eskalationsbereit zu zeigen, schon sagen die Eskalationstheoretiker, dass es Kompromisse braucht und dass die Akzeptanz der geschaffenen Fakten die beste Lösung ist.
An diesem Punkt muss ich kurz auf Systemtheorie und Gesellschaftstheorie umschalten. Soviel ist klar: Das Völkerrecht ist eine großartige Sache, es ist eine Errungenschaft, es gehört unaufhebbar zur modernen Gesellschaft, wie die Demokratie, wie die romantische Liebe, wie der Individualismus des Individuums u.a.m. Aber es ist nur ein Ausschnitt aus der Welt, die daneben viele andere Dinge enthält, unter anderem Panzer, verrückte Potentaten und Atombomben, abstrakter gesagt: das Machtmedium, eine internationale Ordnung voller Großmächte und Großmachtanwärter und einen stark machtabhängigen, nicht als Weltregierung etablierten UN-Sicherheitsrat. Das Völkerrecht darf – wie alles andere auf der Welt – nicht verabsolutiert werden. Es ist ein Partialstandpunkt wie jeder andere, nämlich der Standpunkt des Rechts und der Rechtfertigung. Es ist riskant, zuzulassen, dass das Völkerrecht unseren gesamten Standpunkt in der Ukrainefrage definiert.
(Andere Standpunkte sind beispielsweise Menschenleben und Lebensglück, oder jedenfalls Verhinderung von Lebensunglück. Hierzu verweise ich auf meine letzten Blogeinträge: https://familienknatsch.blog/2022/03/07/die-wahren-helden/, https://familienknatsch.blog/2022/03/03/endwar-outwaitputin/, https://familienknatsch.blg/2022/03/08/the-end/
Soziologen wissen, dass das formale Recht oder die formale Ordnung immer nur einen Teil der sozialen Realität ausmacht. Schon jede Organisation enthält Rollen, Routinen, Kooperationsformen, die formal nicht vorgesehen, vielleicht sogar formal verboten sind und doch tragende Bedeutung für ihr Funktionieren haben. (Jeder kann hier an seinen eigenen Arbeitskontext denken.) Jedes politische System enthält Praktiken und Kommunikationskanäle, die nicht den offiziellen Mandaten, Blaupausen und Demokratielehrbüchern entsprechen, die nicht legitimiert und nicht legitimierbar sind und doch zur Stabilisierung und Balancierung der Gesamtordnung beitragen.
Das rechtfertigt nicht den russischen Angriff. Vielmehr besagt es: Soziale Systeme enthalten Aspekte, die nicht rechtfertigbar sind und die trotzdem real sind. Recht und Rechtfertigung ist nur ein ganz kleiner Teil der Welt. Nur bei Habermas ist das anders. Systemtheoretiker wissen, dass die Realität von Systemen immer über das hinausgeht, was in ihren offiziellen Strukturen und Prinzipien kristallisiert, und dass kein System alles rechtfertigen kann, was es tut. Kein Mensch, keine Organisation, kein Staat. Jedes System muss damit leben, dass es gelegentlich Dinge sagt oder tut, die seiner eigenen Glaubensordnung und Rechtsordnung widersprechen, die zu tun oder zu sagen es sich aber trotzdem in dem Moment entschließt. In den Worten von Niklas Luhmann: Es gilt, „daß jedes Sozialsystem … mehr Informationen besitzen muß, als es integrieren und legitimieren kann“.[2] Ein System ist das Gegenteil eines Prinzips. Diese Weisheit habe ich von Luhmanns Nachfolger André Kieserling gelernt.
Das ist nicht schön, aber das ist der Punkt, an dem wir stehen, glaube ich. Es ist nicht klug, an die Welt höhere Maßstäbe anzulegen, als jeder von uns an sich selbst und an sein eigenes Leben anlegt. Man kommt mit Prinzipien nur begrenzt weit. Das heißt nicht, dass Prinzipien unnütz sind und über Bord geworfen werden können. (Dann würde man ein Prinzip daraus machen, prinzipienfrei zu leben.) Es heißt nur, dass man Prinzipien nicht prinzipienhaft anwenden sollte, dass man sich ihrem Gegenteil: dem situativ Notwendigen, nicht verschließen sollte.
Aber kann dann nicht in Zukunft jeder beliebige machtgierige oder territoriumsgierige Potentat kommen und sich irgendetwas unter den Nagel reißen? Ich glaube: Das folgt nicht. Das wäre das Prinzip, das daraus abgezogen würde. Aber mein Punkt ist: Wir haben jetzt eine Situation, um nicht nach Prinzipien zu handeln. Prinzipien sind eine späte Errungenschaft. Situationen sind basaler als Prinzipien. Wir brauchen eine Situationslogik, die Prinzipien übersteigt, die mehr schon eine Überlebenslogik ist.
Wie sich eine Situation zur Situation qualifiziert, die es erlaubt oder empfiehlt, von Prinzipien abzusehen, kann man nicht genau definieren. Man kann es nur sehen. Im Moment geht es darum, einen Atomkrieg zu verhindern und gleichzeitig einen zerstörerischen Flächenkrieg in einem Land zu beenden. Das passiert nicht jeden Tag. Es ist eine Ausnahmesituation, die nicht zur Jedermanns- und Jedentags-Situation hochgeneralisiert werden kann. Das wissen auf irgendeiner Ebene auch die machtgierigen Potentaten dieser Welt. Jedenfalls ist es im Moment klüger, davon auszugehen.
Im Bedenken gegenüber Prinzipien deckt sich übrigens der systemische mit dem systemtheoretischen Ansatz. Paartherapeuten wissen: Menschen, die nur nach Prinzipien leben, sind prädestiniert, ins Unglück zu laufen. Solange in einem Paarkonflikt ein Partner auf Gerechtigkeit besteht, auf Ausgleich, auf Rückzahlung aller Schulden, solange kommt kein Frieden, keine Heilung, keine Beruhigung der Lage zustande. Gerechtigkeit und Tragik hängen zusammen, und ebenso hängen die Bereitschaft zum Nachlassen in Gerechtigkeitsansprüchen und die Chance auf Lebensglück zusammen. Im Moment wäre der Zeitpunkt, das auf Weltebene einzusehen.
[1] Den Gedanken der symmetrischen und der komplementären Eskalation entnehme ich Paul Watzlawick / Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Bern 1969. Dort ist, genau genommen, von „symmetrischer Eskalation“ und „komplementärer Rigidität“ die Rede. Die Verwendung des Eskalationsbegriffs für beide Formen scheint aber nicht sinnverzerrend, und jedenfalls kann in systemischen Kontexten ohne weiteres davon die Rede sein, dass sowohl symmetrische als auch komplementäre Interaktionsmuster ihre Risiken, Pathologien und Eskalationspotentiale haben.
[2] Niklas Luhmann, Spontane Ordnungsbildung, in: Fritz Morstein Marx (Hg.), Verwaltung, Berlin 1965, S. 163-183, hier S. 178.