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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Die Depressionsfalle

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Bereits 2021 ist das Buch „Die Depressionsfalle“ von Thorsten Padberg auf dem Markt und hat eine beträchtliche Resonanz ausgelöst. Jürgen Hargens hat diese Arbeit des systemisch orientierten Berliner Verhaltenstherapeuten gelesen und für systemagazin besprochen: mit einer klaren Lektüre-Empfehlung.

Jürgen Hargens, Meyn:

Dieses Buch, das muss ich „bekennen“, hat mich fasziniert. Das betrifft den Inhalt – fachlich kompetent – wie die Art der Darstellung: gut lesbar, gut verständlich und mit vielen Beispielen, auch aus der eigenen Praxis, angereichert. Was mich beeindruckte, waren die vielen (Fach-) Informationen, Ausschnitte von Gesprächen mit in- und ausländischen ExpertInnen und vor allem die klare Positionierung, die Padberg (er ist tätiger Psychotherapeut und praktiziert im Rahmen verhaltens- und systemtherapeutischer Ideen) gleich zu Anfang formuliert: „Wenn Depressionen leichter behandelbar und vermeidbar werden sollen, muss es einen anderen, einen lebensnahen Depressionsbegriff geben. Es ist die Aufgabe von Psychiatrie und Psychologie, für ein solches Konzept zu werben, das im Dienste der Veränderung und Prävention steht“ (S. 13).

So steht der Titel des Buches für das, worum es Padberg geht:  der aktuelle Umgang mit bzw. das „Bild“, das in der Öffentlichkeit (und der Fachwelt) aktuell vorherrscht, scheint eher störend und wenig hilfreich. Medikamentöse Behandlungen (auch als Ausfluss der Vorstellung, Depression „als Folge einer Stoffwechselstörung im Gehirn“, S. 28) – theoretisch aus entsprechenden Untersuchungen der Hirnforschung abgeleitet – beherrschen die Diskussion, haben aber wenig zur Aufklärung der Ursachen beigetragen und können somit auch keine klaren Angaben zu einer medizinischen Behandlung machen.

In der Alltagspraxis gilt derzeit vorrangig Serotonin als die medikamentöse Lösung, die helfen soll, (sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer [SSRI]), ausgehend von Befunden eines zu niedrigen Serotoninspiegels in einem „depressiven Gehirn“ (S. 30). Das lässt allerdings nicht den „Rückschluss [zu]…, das Fehlen von Serotonin sei die Ursache einer Krankheit, die wir Depression nennen.“ (S. 35) „Wenn“, so Padbergs Bild, „Aspirin erfolgreich gegen Kopfschmerzen eingenommen wird, bedeutet das nicht, dass vorher ein Aspirindefizit vorgelegen hätte. Und wer sich erst nach zwei, drei Gläsern Bier traut, beim Tanzen einen attraktiven Menschen anzusprechen, der litt vorher nicht unter chronischem Alkoholmangel.“ Was dann zu der Frage führt: „Warum sollte es Depressiven, denen es durch Zufuhr von Serotonin besser geht, vorher daran gefehlt haben?“ (S. 36)

Der „Biologie der Depression“ unter der Bezeichnung „Endstation Hirn“ widmet Padberg ein eigenes, das vierte, Kapitel. Dabei verdeutlicht er ein grundlegendes Dilemma: „Die Psychologie und ihre Erkrankungen hat es schwerer als viele andere Wissenschaften. Die Psyche und ihre Erkrankungen sind nicht ,greifbar’ – im Wortsinne.“ (S. 139) 

Verstehen und Erkennen, daran denke ich, wenn ich diesen Satz lese, werden in der deutschen Sprache mit dem Begriff begreifen beschrieben, also etwas Erkennbares, Materielles, Anfassbares. Nur lässt sich die Psyche, die Seele eben nicht anfassen – und bleibt damit eher schwer oder schlecht zu begreifen. Diese Frage hat Psychologie immer begleitet. 

Im 19. Jahrhundert hat sich Psychologie als Naturwissenschaft im Gegensatz zur Geisteswissenschaft durchgesetzt. Auf mögliche Folgen dieser Entwicklung hat Gergen aufmerksam gemacht: „Die Psychologen haben diesen Wandel hin zu kortikalen Erklärungen lange vorbereitet … Eine naturwissenschaftliche Psychologie erforderte eine neurophysiologische Fundierung mentaler Prozesse“ (Gergen, 2010, S. 2). Und so kann es wenig verwundern, wenn die Biologie des Gehirns zunehmend in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion rückte und mit entsprechenden Fördergeldern ausgestattet wird. Wobei, darauf weist Padberg nachdrücklich hin, die (natur-)wissenschaftlichen Ergebnisse zumindest bisher zu wünschen übriglassen. Auch der  Sonderberichterstatter für Menschenrechte der Vereinten Nationen, der Psychiater Professor Dr. Dainius Puras, sieht es so: „,Es gibt nun unabweisbare Evidenz für das Versagen eines Systems, das sich zu einseitig auf das biomedizinische Modell […] verlässt, bei dem in erster Linie exzessiv Psychopharmaka verschrieben werden.’“(S. 157)

Es sind solche Gedanken und Verknüpfungen, die mich auf jeden Fall zum Nachdenken anregen und mir helfen, meine eigenen Gewissheiten zu hinterfragen. Und – das ist das, was Padbergs Buch für mich besonders auszeichnet und wohltuend von vielen anderen unterscheidet – er verfällt nicht in eine Art „entweder-oder-Denken“. Er bietet Material an, verweist auf Folgerungen und präsentiert seine Konsequenzen als Angebot, als Möglichkeit, als Idee, als „so könnte es vielleicht auch sein“.

Er liefert gerade zur pharmakologischen Behandlung viel Material – und verweist u.a. auf die bekannte Tatsache, dass solche Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten großenteils von Pharmafirmen finanziert werden, die dann die Rechte in der Hinsicht haben, dass sie entscheiden, was wo veröffentlicht werden darf. Kirsch wertete 2008 entsprechende Studien aus und konstatierte, dass „von den Studien, die ein positives Ergebnis für Antidepressiva hervorbrachten, 91 Prozent veröffentlicht worden [waren]. Von den Studien, in denen die Medikamente nicht überzeugen konnten, wurden dagegen nicht einmal 10 Prozent publiziert.“ (S. 19)

Denn neben der Ausrichtung auf eine medikamentöse Behandlung hat sich auch die Diagnose und damit die Definition von Depression verschoben: „Im Jahr 1980 erscheint … das DSM-III“ und definiert „die Kriterien, nach denen man eine Depression diagnostiziert, vollkommen neu – und streichen dabei unter anderem ein Wort, das für unser Denken über Depressionen entscheidend ist: ,reaktiv’. Reaktiv, das bedeutet: als Reaktion auf die Umstände“ (S. 74), um zu ergänzen: „Wenn für das Leiden ein guter Grund zu finden war, dann galt das bis 1980 nicht als Depression.“ (S. 74)

Das zeigte Folgen, die Padberg pointiert beschreibt: „… mit einem Schlag wurde all das, was der depressiven Symptomatik vorausgegangen war, uninteressant“ (S.74).  Das ließe sich auch so verstehen, dass es keinen unmittelbaren oder direkten Einfluss auf die als depressiv diagnostizierte Person mehr geben konnte – alles müsste demnach letztlich im Inneren der Person ablaufen und war (s.o.) nicht wirklich greifbar. So kann es kaum wundern, dass Hirnforschung und die entsprechenden bildgebenden Verfahren, die sich abbilden und in Zahlen (statistisch) veröffentlichen lassen, zunehmend dominierten.

In diesem Zusammenhang beschreibt Padberg eine Geschichte von Hippokrates, die mich nachdenken ließ. Hippokrates kam zu König Peridiccas II. in Mazedonien, der unglücklich in eine der Konkubinen seines kürzlich verstorbenen Vaters verliebt war, was er wegen der aus einem solchen Verhältnis resultierenden Verstrickungen für zu prekär hielt, so dass er seine Liebe geheim hielt. „Hippokrates … verschrieb keines der damals üblichen Heilmittel für Melancholie … Stattdessen schlug er dem König vor, sich zu seiner Liebe zu bekennen und die Konkubine für sich zu gewinnen. Peridiccas war aus Sicht des Hippokrates nicht psychisch krank, sondern schlicht unglücklich – und die Therapie, die er verordnete, war Liebe“ (S. 74).

Das ist für mich eine wunderschöne Verdeutlichung dessen, was für Padberg in seiner Arbeit wichtig ist: „Meine Aufgabe zu Beginn einer Therapie besteht deshalb oftmals darin, gemeinsam mit meinen Klienten aus den ,Bruchstücken’ ihrer Erlebnisse eine Geschichte zu machen – mit Anfang, Mitte und Ende. Wenn das gut läuft, dann werden die Klienten zu Helden ihrer eigenen Erfolgsgeschichte. Und diese Geschichte wird dann damit enden, dass sie ihr Leid überwunden oder zumindest gebändigt haben“ (S. 107).

In sechs Kapiteln beschreibt Padberg die unterschiedlichen Sichten – Kapitel 1. Die Depression wird prominent: Die medikamentöse Behandlung der Depression; Kapitel 2. Nur eine Krankheit?  Die Geschichte der Depression; Kapitel 3. Gespräche gegen das Dunkel: Die Psychotherapie der Depression; Kapitel 4. Endstation Hirn: Die Biologie der Depression; Kapitel 5. Psychotherapie als Lebensmodell: Die Soziologie der Depression; Kapitel 6. Kann die Seele Schnupfen haben? Wege aus der Depressions-Falle. 

Es sind Kapitel, die ein wenig „gegen den Strich“ gehen, und – das hat mich sehr beeindruckt – ohne für die eigene Sicht zu missionieren oder andere Sichten abzulehnen. Padberg bleibt seiner Überzeugung treu, andere Sichten, andere Erkenntnisse und andere Möglichkeiten zu beschreiben und fordert so die LeserIn auf, zu ihrer eigenen Entscheidung zu kommen.

Ich fühlte mich nach dem Lesen an das Buch von Rutger Bregman (20202) erinnert, dessen Titel sein Programm ist: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Er beginnt das 1. Kapitel mit dem Satz „Dies ist ein Buch über eine radikale Idee“, nämlich die „[d]ass die meisten Menschen im Grunde gut sind (S. 19) und dazu bietet er unglaublich viel Material an, das viele überlieferte Geschichten über, ich nenne es einfach einmal, „böse und aggressive Menschen“ verändert. Was mich als Psychologe dabei wirklich schockiert hat, waren Geschichten, Belege, Berichte über das Gefängnis-Experiment von Zimbardo und das „Gehorsamkeits-Experiment“ von Milgram – für beide bietet Bregman viele Belege, dass die Versuchsleiter den Verlauf und die Ergebnisse beeinflusst und manipuliert haben.

Und ähnlich wirkt Padbergs Buch zumindest auf mich – es stellt eigene Gewissheiten infrage, die dann in Sprache, als Worte tradiert werden. Und da passt das Zitat von Wittgenstein, das Padberg dem Abschnitt „Ein anderes Bild der Depression“ voranstellt:

„Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“ (S. 237, Original: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 115).

Literatur

Bregman, Rutger (20202). Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt: Hamburg

Gergen, Kenneth (2010). The Acculturated Brain. Theory & Psychology, Vol. 20(6): 1-20

Die website des Autors

„Nicht jedes psychische Problem ist gleich eine Krankheit“ (ein 30-minütiges Interview mit dem Autor auf Deutschlandfunk-Kultur)

Eine Leseprobe des Buches

Eine weitere Rezension von Jürgen Karres für Soziale Psychiatrie

Thorsten Padberg (2021): Die Depressions-Falle. Wie wir Menschen für krank erklären, statt ihnen zu helfen. Frankfurt a.M. (S. Fischer)

272 S.
ISBN: 978-3-10-397076-0
Preis: 23,00 €
ebook: 19,99 €

Verlagsinformation:

In seinem einfühlsamen Plädoyer zeigt der renommierte Psychotherapeut Thorsten Padberg, dass es Auswege aus der Depression gibt – auch ohne Medikamente. Er erklärt, warum Antidepressiva keine Lösung sind, und zeigt Alternativen auf. In berührenden Fallgeschichten schildert er auch das Erleben betroffener Menschen. Die Ursachen für das Leid, so stellt Thorsten Padberg fest, sind meist im Leben selbst zu finden. Trennung, Tod, Jobverlust lassen uns grübeln, verzweifeln oder trauern. Depressionen haben gesellschaftliche Ursachen, die nicht ignoriert werden dürfen. Betroffene müssen dabei unterstützt werden, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Eine aufrüttelnde Botschaft, die sich nicht nur an Psychiater und Therapeuten richtet. Depressive Menschen und ihre Angehörigen finden hier neue Perspektiven auf ihr Leid und auf das Leben. Thorsten Padberg will Mut machen mit einer Erkenntnis, die Experten genauso bestätigen wie etliche Fälle aus seiner Praxis: Niemand muss ein Leben lang mit Depressionen kämpfen und Antidepressiva schlucken.

Über den Autor:

Thorsten Padberg, Jahrgang 1969, arbeitet seit mehr als 15 Jahren als Verhaltenstherapeut in Berlin und ist Dozent für Verhaltenstherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Er ist bekannt durch den Podcast »Therapieland« im Deutschlandfunk Kultur, der von »Zeit Online«, dem Bayrischen Rundfunk und Deezer zu den besten Podcasts 2019 gezählt wurde. 2020 erhielt »Therapieland« den Deutschen Sozialpreis und den Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Thorsten Padberg hat außerdem u.a. im »Zeit-Magazin«, in »Psychologie Heute« und im »Psychotherapeutenjournal« publiziert.

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6 Kommentare

  1. Stefan B. sagt:

    Von der nervtötenden Genderei abgesehen ein super Buch – das es übrigens auch gratis bei Spotify in der Hörfassung gibt. Der Autor beschreibt sich zwar selbst als Verhaltenstherapeut, benennt dann aber u.a. Steve de Shazer als seinen “Lehrer”. Was auf viele seiner Ideen auch offensichtlich stark abfärbt.

    Falls hier jemand auf die Printversion Zugriff hat, würde mich mal die Referenz zur Studie über “psychological literacy” als Risikofaktor für “psychische Erkrankungen” interessieren (bezog sich auf die Beschäftigung mit der australischen Internetseite “beyondblue”). Die finde ich leider nicht im Netz ohne Angabe zu den Autoren – stattdessen finde ich Studien mit eher gegenteiligen Befunden.

  2. Katrin Bärhold sagt:

    Also, normalerweise lese ich ha vorm Schlafengehen nix mehr dergleichen, aber DAS hab ich gestern noch GEFRESSEN!!!! Und auch herzlich lachen müssen. Und das bei dem Thema…

  3. Lothar Eder sagt:

    Vielen Dank für diese anregende Buchempfehlung und die Diskussion. Allerdings ist es seit Anbeginn der Psychotherapie mit Freud so, dass Störungen des Seelischen nicht als Ergebnis von Störungen des Stoffwechsels verstanden werden, sondern als Störung der seelischen Regulation und des Ausdrucks. Das ist also nicht neu.
    Zudem ist dies eine schöne Einladung, den hier im systemagazin bereits vor 20 Jahren geführten interessanten Diskurs über den Krankheitsbegriff aufzunehmen. Meine Sicht dazu ist ja bekannt: es ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig, den Krankheitsbegriff zu verwenden. allerdings mit anderen Konnotationen und Handlungsimplikationen als im medizinischen Kontext. Eine humanistische und wachstumsorientierte Perspektive versteht unter Krankheit etwas ganz anderes als etwa die Schulmedizin. Und nur die Verwendung von Begriffen wie Depression oder “Angststörung” ermöglicht Diskurse, die auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der hohen Prävalenz dieser Krankheitsbilder bei uns abzielen. Um Helm Stierlin zu zitieren: niemand wird alleine krank. Aber es gilt auch: zuviel alleine sein bzw. sich so fühlen, macht krank. Die Bedingungen der modernen leistungsorientierten ZuVIELisationen, einhergehend mit dem Auflösen der traditionellen Bindungssysteme, lastet dem Einzelnen die Bürde des ständigen für sich selbst bestehen Müssens, der ständigen Unruhe und der Selbstoptimierung auf, die letztendlich krank macht.

  4. Sehr lesenswert auch Torsten Padbergs Beitrag im letzten Psychotherapeuten Journal, sehr kompakt zusammengefasste Empfehlungen, wenn es darum geht mit Klienten über Medikamente und Medikation zu sprechen (die meist nicht (!) wirkt und mit hohen Nebenwirkungen verbunden ist):
    https://www.thorstenpadberg.info/wie-ntzlichschdlich-sind-antidepressiva

    Jan Bleckwedel

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