Unter diesem Titel hat Heiko Kleve 2020 im Carl-Auer-Verlag seine Streitschrift veröffentlicht, in der er dafür plädiert, die sozialstaatliche Regulierung sozialer Arbeit durch eine marktliberale Politik von Angebot und Nachfrage zu ersetzen. Dabei bezieht er sich wesentlich auf Autoren wie den Theoretiker des Neoliberalismus Friedrich Hayek und den Systemtheoretiker Niklas Luhmann, deren Ansätze für ihn im Wesentlichen übereinstimmen: „Während der Neoliberalismus insbesondere Wirtschaftsfragen thematisiert, und ein Wirtschaftsliberalismus ist, kann die Systemtheorie weiter gefasst werden: Wir könnten sie als Systemliberalismus bezeichnen“ (S. 86). Dieses Etikett nimmt er auch für seine eigene Position in Anspruch.
Seine Begeisterung für den Neoliberalismus hat Kleve schon seit 2010 in verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen publiziert, die ausschnittweise und überarbeitet auch in dieses Buch eingegangen sind, so z.B. auch der Artikel Systemische Sozialarbeit und Liberalismus. Plädoyer für soziale Selbstorganisation und individuelle Autonomie – eine Diskussionsanregung, der 2016 in der Familiendynamik erschien, ohne aber eine nennenswerte Diskussion auszulösen. Im sozialarbeiterischen Diskurs sind seine Texte durchaus auf Widerspruch gestoßen, anerkennenswerter Weise hat er einen kritischen Dialog mit Markus Eckl über seine Thesen auch als Kapitel in dieses Buch aufgenommen. Im systemischen Feld haben seine Überlegungen, die ja hohen politischen Sprengstoff bieten, dagegen bislang keine sonderliche Aufmerksamkeit bekommen, entsprechend fiel auch die Resonanz auf seine „Streitschrift“ bislang eher mager aus.
Vor diesem Hintergrund bietet die nachfolgende ausführliche Rezension Reinhart Wolffs, der die Promotion Heiko Kleves betreut hat, vielleicht doch die Möglichkeit, in eine kritische Debatte von Kleves Thesen einzusteigen.
Reinhart Wolff, Berlin: Kein Leuchtturm mehr – Kritische Lektüre einer Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit
1. Als mich vor einigen Monaten Tom Levold fragte, ob ich bereit wäre, eine 2020 publizierte, allerdings schnell in der Fachöffentlichkeit heftig umstrittene Aufsatzsammlung von Heiko Kleve: Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit zu rezensieren, zögerte ich und fragte mich, ob ich das tatsächlich tun sollte, war Heiko Kleve doch einer meiner besten Doktoranden in den 1990er Jahren gewesen, dessen weitere Arbeit ich immer mit Interesse verfolgt hatte. Heiko Kleve hatte an meinem Promotionscolloquium „Theorie und Praxis sozialer Hilfesysteme“ teilgenommen und dann 1998 eine rasante Dissertation „Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoreti-sche-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft“ vorgelegt (in 1. Auflage 1999 in Aachen in Heinz Kerstings Wiss. Verlag des Instituts für Beratung und Supervision und 2007 als 2. Auflage in Wiesbaden im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen), die ich selbst und Dietmar Kamper als Gutachter wie auch viele Leser danach (wie beispielsweise auch Herbert Effinger in seiner Rezension der Zweitauflage vom 08. Okt. 2007 im socialnet; Zugriff: 08.06.2022) als eine wichtige, ja, herausragende Leistung einschätzten. Ich hatte damals im Vorwort zur Erstveröffentlichung geschrieben: „Wer wissen will, wie man Sozialarbeit als modernes Berufssystem mit all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit verstehen und beschreiben kann, wird diese Arbeit eines Fachhochschulabsolventen, der damit seine Promotion im direkten Zugang von der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin zur Freien Universität Berlin mit Auszeichnung abschloß, mit Gewinn lesen. Die Arbeit ist ein Glücksfall einer eigenständigen Weiterentwicklung systemisch-konstruktivistischen Denkens. Wie ein Leuchtturm, dessen bin ich mir sicher, wird sie der Theorie wie der Praxis moderner Sozialer Arbeit Richtung und Orientierung geben.“ (S.11)
Die DGSF hat auf ihrer Mitgliederversammlung im Juni 2021 einen Etat von 25.000 Euro zur Forschungsförderung aufgesetzt, wobei die Förderung pro Projekt auf maximal 5.000 Euro festgelegt ist und vor allem als Anschubfinanzierung dienen soll. Anträge auf Forschungsförderung können jeweils bis zum 30. Juni des in Betracht kommenden Jahres bei der DGSF-Geschäftsstelle eingereicht werden. Für 2022 bleiben deshalb noch gut zwei Wochen Zeit für die Einreichung eines Antrages.
Gefördert werden Projekte aus allen Bereichen des systemischen Arbeitens. Erwünscht sind insbesondere Studien aus bisher wenig beforschten Bereichen wie der Sozialen Arbeit. Der systemische Charakter des Projekts soll im Antrag deutlich werden. Mit dieser Förderung möchte die DGSF auch Praktiker*innen und Forschungsneulinge zu eigenen Forschungen ermutigen. Diese sollen in Fragestellung, Methoden und zu erwartendem Nutzen praxisnah und anwendungsorientiert sein. Gerne vermitteln die Mitglieder der Forschungsjury Forschungspaten zur Unterstützung und Beratung bei der Planung solcher Projekte.
Nicht gefördert werden
Projekte, die bereits begonnen haben
Personalkosten (Honorare/Ausfallzeiten) oder
Lebenshaltungskosten der Antragsteller*innen (es werden nur Personalkosten von Dritten gefördert)
Nach Abschluss des Projekts wird ein Abschlussbericht erwartet, der auf der DGSF-Website veröffentlicht wird. Darüber hinaus ist die Publikation eines Aufsatzes in einer systemischen Fachzeitschrift oder eine Präsentation/Vorstellung auf einer DGSF-Tagung bzw. in einer DGSF-Fachgruppe erwünscht.
Über die Vergabe entscheidet eine Jury aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und vom Vorstand beauftragten DGSF-Mitgliedern.
Hinweise zur Bewerbung
Anträge auf Forschungsförderung sollen in einer einzigen, max. 15 Seiten umfassenden PDF-Datei dargelegt werden, und wie folgt gegliedert sein:
Anschreiben
Übersichtliche Darstellung der Projektbeteiligten und Institutionen mit allen Kontaktdaten
Angaben zum beruflichen/wissenschaftlichen Hintergrund sowie den bisherigen Forschungserfahrungen der Antragsteller*innen
Titel des Vorhabens
Zielsetzung und Fragestellung
Aktueller Forschungsstand
Wissenschaftliche Hypothesen, die dieses Projekt verfolgt
Beschreibung des Forschungsvorgehens
Deutliche Darstellung des systemischen Charakters des Projekts
Erwarteter Nutzen und mögliche Folgen der Projektergebnisse
Vorgesehene Art der Darstellung der Ergebnisse
Zeitplan
Kostenplan, aufgeschlüsselt nach a) DGSF-beantragt, Eigenanteil, ggf. andernorts beantragt b) Personalkosten / Sachkosten
In der vergangenen Woche ist Don R. Catheralls Buch Emotional Safety. Viewing Couples Through the Lens of Affect in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Emotionale Sicherheit. Affektive Kommunikation in Paarbeziehung und Paartherapie im Carl-Auer-Verlag erschienen. Dieses Buch begleitet mich schon seit vielen Jahren in meiner paartherapeutischen Arbeit und meinen diesbezüglichen Weiterbildungsaktivitäten – Paaren, denen ich das Buch empfohlen habe, hat es geholfen, die eigenen Konfliktmuster besser zu verstehen und einzuordnen.
Umso mehr freut es mich, dass der Verlag meinen Vorschlag aufgegriffen hat, das ambitionierte Projekt einer deutschen Ausgabe anzugehen, dessen Ergebnis nun vorliegt. An dieser Stelle wird demnächst ausführlicher auf das Buch eingegangen werden. Für die deutsche Ausgabe habe ich ein Vorwort geschrieben, das Sie hier zur Einstimmung lesen können, hier noch ein Link zu einer Leseprobe des Verlages….
Vorwort von Tom Levold
Die Beschäftigung mit Affekten, Gefühlen und Emotionen in Paar- und Familienbeziehungen ist im systemischen Therapiediskurs lange vernachlässigt worden. Auch wenn die Bedeutung der affektiven Aspekte von Kommunikation in der praktischen Bearbeitung von Beziehungskonflikten auf der Hand liegt, hat sich das in den letzten Jahren nur allmählich verändert.
In den über 40 Jahren, in denen ich mit Paaren und Familien arbeite, ist mir die Erweiterung des systemischen Diskurses um die Ergebnisse der Bindungs- und Affektforschung in Praxis und Lehre immer besonders wichtig gewesen. Dieses Anliegen erhält mit diesem Band eine großartige praktische und konzeptuelle Unterstützung, und ich freue mich, dass der Carl-Auer Verlag sich entschieden hat, dieses Buch in einer deutschen Übersetzung herauszugeben.
Im Unterschied zu vormodernen Zeiten, als die (eheliche) Paarbeziehung in erster Linie wirtschaftliche und generative Funktionen zu erfüllen hatte – auch wenn dabei durchaus Liebesgefühle eine Rolle spielen konnten –, hat die Bedeutung einer gefühlsmäßigen Bindung und der damit verbundenen Intimität der Beziehung in den vergangenen Jahrzehnten einen immer größeren Stellenwert bekommen. Die Frage der emotionalen Qualität und Tragfähigkeit von Beziehungen wird dabei umso wichtiger, je weniger der äußere Rahmen wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher, religiöser und moralischer Vorgaben noch eine Rolle bei der Ausgestaltung von Paarbeziehungen spielt.
Das Gelingen von Paarbeziehungen hängt heutzutage also in großem Maße von der Kommunikation der Partner ab, die eben nicht nur sprachliche Verständigung über Bedürfnisse und Interessen umfasst, sondern ganz wesentlich auch affektive Kommunikation ist, welche entscheidenden Einfluss darauf hat, ob die Beziehung als wohltuend und erfüllend erlebt wird oder als Quelle von Kummer, Anspannung und Konflikt.
Don Catherall präsentiert ein Modell emotionaler Sicherheit in Paarbeziehungen, das er in seiner langjährigen paartherapeutischen Arbeit entwickelt und eingesetzt hat und welches sowohl Professionellen im Feld der Paartherapie und -beratung als auch interessierten Paaren selbst aufgrund seiner Klarheit und unmittelbaren Plausibilität eine große Hilfe bei der Analyse und Bewältigung von Konfliktsituationen bietet. Er bezieht sich dabei u. a. auf die affekttheoretischen Arbeiten von Silvan Tomkins, dem – leider hierzulande immer noch zu wenig bekannten – Begründer der modernen Affekttheorie, auf Donald Nathanson, der die Arbeiten von Tomkins für das psychotherapeutische Feld erschlossen hat, auf die bindungstheoretischen Arbeiten von John Bowlby sowie die paartherapeutischen Ansätze von Susan Johnson und John Gottman, deren spezifische Perspektiven er zu einem schlüssigen Konzept integriert.
Seit über zehn Jahren nutze ich dieses Buch für meine Arbeit mit Paaren (von denen viele auch selbst durch die Lektüre dieses Buches profitiert haben) und in meinen paartherapeutischen Weiterbildungsseminaren. Müsste ich eine Liste von zehn Büchern zur Paartherapie erstellen, die man auf jeden Fall gelesen haben sollte, hätte dieses Werk darin einen festen Platz.
Was ist mit dem Titel Emotionale Sicherheit gemeint? Als sowohl kulturell wie auch biologisch soziale Wesen sind wir, um überleben zu können, auf die Zugehörigkeit zu sozialen Systemen ebenso angewiesen wie auf die Anerkennung eines gewissen Status und Wertes innerhalb dieser Systeme. Zugehörigkeit und Wertschätzung stellen wichtige Aspekte des Funktionierens aller sozialen Systeme dar, spielen aber eine besondere Rolle im emotionalen Nahraum der Familie und der Paarbeziehung als Kontext für die individuelle Entwicklung und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse.
In heutigen Paarbeziehungen, deren Gelingen – wie schon erwähnt – nicht zuletzt an der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse festgemacht wird, geht es deshalb um die Frage, ob und wie diese Bedürfnisse nach einer sicheren Bindung als Ausdruck von Zugehörigkeit und Status als Wertschätzung der eigenen Person wechselseitig erfüllt oder frustriert werden. Neben den vielen alltäglichen Konflikten um Geld, Erziehung, Haushalt, Sex, Aktivitäten etc., die Partner als mögliche Themen in einer Paartherapie vorbringen, sind es vor allem diese Grundthemen, die in der Dynamik der Paarbeziehung eine problematische Rolle spielen können.
In Paartherapien werden wir daher häufig mit einer Vielzahl von Anliegen und Konfliktthemen gleichsam auf der »Vorderbühne« der Paarbeziehung konfrontiert, deren Lösung dadurch erschwert wird, dass auf der »Hinterbühne« das Verhalten des Partners als Angriff auf die eigene Bindungssicherheit oder das eigene Selbstwertgefühl erlebt wird, vor dem man sich schützen muss. Auf diese Weise werden die Themen der Vorderbühne zu stellvertretenden Schlachtfeldern, die durch die ungelösten Probleme auf der Hinterbühne mit ständig neuer Energie versorgt werden, ohne in einen konstruktiven Lösungsbereich kommen zu können.
Das Gefühl einer sicheren Bindung wird z. B. infrage gestellt, wenn Zweifel am Engagement oder der Zuverlässigkeit des Partners auftauchen oder Unklarheit über die eigene Beziehungsmotivation besteht. Die – positive oder negative – Aktivierung des Bindungsgefühls ist mit Affekten wie Freude und Kummer sowie Vertrauen oder Misstrauen gegenüber dem Partner verbunden. Die Regulierung von Achtung und Missachtung in Paarbeziehungen ist mit dem Thema der Anerkennung und Wertschätzung in Bezug auf das Selbst und den anderen Partner als ganze Person verbunden und damit ausschlaggebend dafür, ob die Partner auf sich und den Anderen stolz sein können oder ob Scham und Beschämung durch Kritik, Vorwürfe und Entwertung im Vordergrund stehen.
Das Eingehen einer engen emotionalen Beziehung, in der man für den Anderen auf eine Weise sichtbar und erfahrbar wird, die der eigenen Kontrolle mehr oder weniger entzogen ist, macht verletzbar für Zurückweisung und Entwertung. Die Aussicht, beschämt zu werden, mobilisiert Abwehrstrategien (Skripte), die in der Ursprungsfamilie und in Auseinandersetzung mit früheren ähnlichen Erfahrungen entwickelt worden sind. Wenn diese Skripte auf der Vorderbühne immer wieder neu aufgeführt und reinszeniert werden, kann der paartherapeutische Blick auf die Hinterbühne und die zugrundeliegende Dynamik der Abwehr von Angst und Scham Paaren dabei helfen, neue Formen des Umgangs mit Konflikten zu finden, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken und beider Selbstwertgefühl zu heben.
Der besondere Wert dieses Buches besteht darin, dass es die interaktiven Implikationen der Scham und anderer Affekte herausarbeitet, die trotz ihrer herausragenden Bedeutung auch von Professionellen nicht immer hinreichend erkannt werden, und sie in ein praktisches paartherapeutisches Konzept transformiert. Ich wünsche ihm eine große Verbreitung nicht nur unter systemischen Therapeuten.
Aus dem Amerikanischen von Ute Weber. Vorworte von Tom Levold und Donald L. Nathanson
397 Seiten, Kt. ISBN: 978-3-8497-0386-8 Preis: 59,00 €
Verlagsinformationen:
Wenn sich ein Paar in Therapie begibt, bringt es einen Wust an Emotionen mit: Trauer, Scham, Wut, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung, … Wer sich in einem solchen Dschungel von Gefühlen zurechtfinden will, braucht einen guten Kompass. Don R. Catherall stellt die Themen Bindung und Wertschätzung in den Mittelpunkt der Paartherapie: Wer das Gefühl hat, dass das eine oder das andere bedroht ist, dem bzw. der fehlt es an emotionaler Sicherheit – mit den entsprechenden Konsequenzen. Paartherapie hat dann zum Ziel, diese Sicherheit (wieder) herzustellen. Das Modell der emotionalen Sicherheit hilft, die beteiligten Affekte und Emotionen in ihrem gesamten Spektrum zu erkennen, auszuhalten, einzuordnen und schließlich zu integrieren. Es ist nicht so sehr eine Behandlungsmethode als vielmehr eine Art, den therapeutischen Prozess zu reflektieren. Catheralls Ansatz ruht auf der reichen Erfahrung des Autors als Paartherapeut und als Professor an der Feinberg School of Medicine in Chicago.
Über den Autor:
Don R. Catherall, Ph. D., ist außerordentlicher klinischer Professor an der Feinberg School of Medicine an der Northwestern University in Evanston, Illinois.
Heute vor 85 Jahren wurde Heinz J. Kersting in Aachen geboren, einer Stadt, der er bis zu seinem Tod am 4. Dezember 2005 die Treue hielt. Er war ein wichtiger Wegbereiter des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes in der Supervision und hat durch seine zahlreichen Veröffentlichungen Weiterbildungsaktivitäten und auch Verbandsmitgliedschaften dazu beigetragen, Supervision als systemisches Anwendungsgebiet zu etablieren. Ursprünglich war er katholischer Priester, einen Stand, den er dann aber früh verließ, um sich sozialen Aktivitäten zuzuwenden. Er machte Ausbildungen in sozialer Gruppenarbeit, erwarb ein Diplom in Supervision ausbilden und promovierte schließlich in Erziehungswissenschaften über die Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Schule. Ab 1970 lehrte er an der Katholischen Fachhochschule in Aachen und Köln, ab 1981 dann als Professor für Methodik und Didaktik an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.
1985 gründete er mit Weggenossen das Instituts für Beratung und Supervision (IBS) in Aachen, für das er als wissenschaftlicher Direktor tätig war. Aus dieser Position heraus war er auch Mitbegründer und Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv), in der er sich als Systemiker zunehmend alleine fühlte. Auf diese Weise lernten wir uns kennen und nach einigen Treffen schlug ich 1996 eine Aufnahme des IBS in die Systemische Gesellschaft vor, die damals noch trotz ihres Namens als Fachverband auch für Supervision in erster Linie therapeutisch ausgerichtet war. Das IBS war das erste Mitgliedsinstitut in der systemischen Gesellschaft, das keine therapeutischen Weiterbildungen durchführte. Trotz einiger Bedenken wurde das Institut aufgenommen, was sich als großer Gewinn für die SG herausstellte. Heinz arbeitete aktiv im Supervisionsausschuss der Systemischen Gesellschaft und an der Erarbeitung von Weiterbildungsrichtlinien in Supervision mit, war später auch Ausschussvorsitzender. 2002 organisierten wir als Supervisionsausschuss eine wunderbare Tagung zum Thema Macht und Supervision („Supervision zwischen Macht und macht nix…“), auf der er sich in seinem Hauptvortrag mit der Bedeutung von Affekten in der Supervision beschäftigte, die seiner Meinung nach vor allem bei den Luhmannianern zu kurz kamen.
Viel zu früh ist er im Alter von nur 68 Jahren gestorben, seine Weisheit, seinen Humor und seine Lust am Genuss sind mir in der Erinnerung immer gegenwärtig. 2005, noch nicht ahnend, dass er so bald sterben würde, bat ich ihn in einem Interview für ein Luhmann-Special im systemagazin von der Geschichte seines Zugangs zu Luhmann und dessen Systemtheorie zu erzählen. Daraus ist ein spannender Text über seinen Werdegang und die Entwicklung seiner systemischen Perspektive geworden, auf den ich anlässlich seines 85. Geburtstages gerne an dieser Stelle noch einmal verweise.
Unter der Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der Rolle von Affekten und Gefühlen in Psychotherapie und Beratung beschäftigten, sind vergleichsweise wenig Artikel über das Weinen zu finden. Im aktuellen Jahrgang der Zeitschrift OSC (Organisationsberatung, Supervision, Coaching) ist Online First ein Artikel von Fabienne Gutjahr und Heidi Möller zum Thema Weinen im Coaching erschienen, der als Open Access frei gelesen werden kann.
Im abstract heißt es: „Das Weinen als fundamentaler menschlicher Emotionsausdruck wirft innerhalb verschiedener Fachdisziplinen seit jeher Fragen auf. In den letzten Jahren lässt sich auch innerhalb der klinischen Forschung eine zunehmende Beschäftigung mit diesem Thema beobachten. U. a. konnte im Rahmen einer Untersuchung an der Universität Kassel eine Systematisierung über verschiedene Formen des Weinens in der Psychotherapie und unterschiedliche therapeutische Verhaltensweisen im Umgang damit entwickelt werden. Im vorliegenden Artikel werden die Erkenntnisse dieser Untersuchung auf den Bereich des berufsbezogenen Coachings übertragen und nutzbar gemacht. Die Bedeutung des Weinens für das Coaching wird im Allgemeinen sowie im Zusammenhang mit Trauerprozessen und krisenhaften Entwicklungen diskutiert. Es werden verschiedene Implikationen für die beraterische Praxis abgeleitet.“
Als Fazit halten die Autorinnen fest: „Es wird deutlich, welche Rolle das Weinen im Coaching einnehmen kann und welche Chancen eine Beschäftigung damit verspricht. Tränen sind keineswegs eine „lästige“ Nebensache beim Besprechen wichtiger Themen. Im Gegenteil: Im Weinen liegt ein Potenzial für den Coachingprozess (vorausgesetzt, die Coach weiß es zu nutzen). Dabei ist Weinen nicht gleich Weinen: Tränen können sich hinsichtlich des Anlasses, des Ausdrucks und der Funktion unterscheiden und damit auch unterschiedliche Reaktionsweisen darauf erfordern. Im besten Fall gelingt es der Coach, sich immer wieder neu auf Tränen im Coaching einzulassen und nachzuspüren, was diese ausdrücken und welcher Umgang damit für die Klient:in in der jeweiligen Situation am hilfreichsten ist. … Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit Weinen im Coaching. Genauso wie jede Klient:in sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeit und ihren Bedürfnissen unterscheidet, muss auch jede Coach für sich einen stimmigen Stil im Umgang mit Emotionen finden. Dennoch kann ganz klar und unabhängig von jeglichen Unterschieden Eines empfohlen werden: Der Klient:in sollte jederzeit das Gefühl vermittelt werden, dass ihre Tränen in der Coachingpraxis fließen dürfen. In diesem Zusammenhang kann der berühmte Taschentuchspender aus unserer etwas humoristischen Eingangsfrage also durchaus eine bestimmte Haltung transportieren und als Einladung verstanden werden: „Hier sind Sie sicher, hier bekommen Ihre Emotionen Raum, egal wie schwierig diese sein mögen.“ Uns bleibt deshalb nur zu sagen: Keine Angst vor Tränen – seien es die eigenen oder die der Coachingpartner:innen!
Cornelia Oestereich bei ihrer Verabschiedung aus dem SG-Vorstand 2013 (Foto: Tom Levold)
Heute feiert Cornelia Oestereich ihren 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert ganz herzlich. Schon zu ihrem 65. Geburtstag ist an dieser Stelle schon einiges zu ihrem beruflichen Lebensweg, ihrem Engagement für die systemische Bewegung und ihre Person geschrieben worden, was man eigentlich nur wiederholen kann. Ende 2017 ist sie nach 39jähriger Tätigkeit aus der psychiatrischen Klinik in Wunstorf, in der sie seit 1990 1990 Leitende Ärztin der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie und zudem ab 2008 ärztliche Direktorin der Gesamtklinik war, in den Ruhestand gegangen, der bei ihr aber doch eher ein Unruhestand ist, ist sie doch weiterhin nicht nur der Praxis und Lehre des systemischen Ansatzes verpflichtet, sondern auch in den Diskursen und politischen Debatten aktiv, die auch die systemische Szene mehr als nötig hat.
Liebe Cornelia, wo immer du Reisefreudige dich auch gerade aufhalten magst, ich gratuliere dir von Herzen zum runden Geburtstag, der ja noch einmal anders als der 60. einen Eintritt in ein Alter markiert, das man mit Gelassenheit, Entspanntheit und Zufriedenheit annehmen muss. Dass dir dies gelingt und wir auch weiterhin von deinem Engagement und deiner Übersicht profitieren werden, daran habe ich keinen Zweifel, dass die Umstände, die diese Haltung ermöglichen und erleichtern, noch lange bestehen mögen, wünsche ich dir – wie du siehst mit vielen anderen – von Herzen.
Das Thema Covid-19 hat Sprengkraft nicht nur in öffentlichen, sondern auch in privaten und professionellen Beziehungen. Bei letzteren etwa, wenn Handlungs- oder Unterlassungsaufforderungen oder -präferenzen in die eigentlich für andere Themen bestimmte Kommunikation einfließen oder gar einbrechen. Ein aktueller Artikel von Brigitte Schigl, Sabine Klar. Ulrich Kobbé, Karin Macke und Ekkehard Tenschert, der als open access im Psychotherapie Forum unter dem Titel Ebenen therapeutischer Verantwortung – multiple Perspektiven in einer komplexen Welt verfügbar ist, geht es genau darum und um die Frage, welche gesellschaftliche und beziehungsgestaltende Verantwortung von Therapeutinnen und Therapeuten damit aufgerufen wird. Im abstract heißt es: „Der Text thematisiert Dimensionen des Handelns von Psychotherapeut_innen entlang einer Fallvignette, in der ein in den Praxisräumen ausgehängter Aufruf zur Covid-Impfung einen Abbruch der Psychotherapie durch die Patient_in auslöste. Dabei werden verschiedene Ebenen der Verantwortung von Psychotherapeut_innen aufgezeigt: Handeln auf individueller Ebene im Kontakt mit den Patient_innen, Handeln auf gesellschaftlicher Ebene – bzw. deren Einbezug in therapeutische Überlegungen. Schließlich auch daraus erwachsende Aspekte für die Ausbildung von Psychotherapeut_innen. Im Aufzeigen dieser unterschiedlichen Perspektiven sollen die Komplexität und Pluralität psychotherapeutischer Handlungsfelder und Ansätze sichtbar gemacht werden.“ Der vollständige Text kann hier gelesen werden…
„Sexualität findet auch im Kopf statt. Sexuelle Fantasien als mentale Repräsentationen sexueller Wünsche und Befürchtungen spielen eine große Rolle dabei, ob Sexualität zu einem Quell der Freude oder in unglücklichen Fällen zu einem Quell des Leides werden kann. Daher lohnt es, sexuelle Fantasien wohlwollend zu erkunden – allein, zu zweit oder mit der Hilfe einer Paartherapeutin. »Keine Angst vor Fantasien« – das ist die Grundhaltung dieses Buchs“, schreibt Jochen Schweitzer in seinem Vorwort zu einem schmalen, aber gewichtigen Buch von Angelika Eck, systemische Paar- und Sexualtherapeutin aus Heidelberg, das in der Reihe Lieben.Leben.Arbeiten im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht schon 2020 erschienen ist. Markus Bomhard hat das Buch rezensiert und hält es für eine „gelungene Ermutigung, in der systemischen Arbeit dem erotischen inneren Bildermalen nicht auszuweichen, sondern es als wertvolle Ressource im therapeutischen Prozess und als Möglichkeit der Selbstreflexion und Selbsterfahrung zu entdecken“. Seine Besprechung können Sie hier lesen:
Heute feiert Arnold Retzer seinen 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert ganz herzlich!
Nach seinem Studium der Medizin, Psychologie und Soziologie arbeitete Arnold Retzer ab 1987 am Universitätsklinikum der Universität Heidelberg bis zum Jahr 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als leitender Oberarzt in der Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie, nach der Emeritierung von Helm Stierlin leitete er die Abteilung kommissarisch für zwei Jahre. 1988 wurde er mit einer Dissertation über Interaktionsphänomene im systemischen Familien-Erstgespräch an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg zum Dr. med. promoviert. Über seine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Familieninteraktion und Psychopathologie bei schizophrenen, schizoaffektiven und manisch-depressiven Psychosen hat er zu vielen Themen aus systemischer Perspektive Veröffentlichungen vorgelegt, vor allem zum Thema Paartherapie und Paarbeziehungen. Auf seiner Website ist ein Interview der Zeitschrift Psychologie Heute von 2016 zu finden, in dem er zu seiner Perspektive auf Paarprobleme und ihre Bearbeitung Stellung nimmt.
Als Publizist war er von 1996 bis 2005 Mitherausgeber der Zeitschrift Familiendynamik. Bundesweit über die Therapieszene hinaus wurde er mit einem Buch über „Miese Stimmung“ bekannt, einer „Streitschrift gegen positives Denken“, in der er ein Plädoyer gegen das gegenwärtige Diktat der Selbstoptimierung hält. Auf einer Veranstaltung in der Wiener Arbeiterkammer (s. Video) erklärt er im Gespräch mit Franz Köb, wie sich Zeitgeist, Kultur, Weltverständnis, Lebensentwurf und schlechte Stimmung wechselseitig bedingen.
Lieber Arnold,
zum runden Geburtstag wünsche ich dir mit anderen Kolleginnen und Kollegen alles Gute, Gesundheit und Lebensfreude – und uns weiterhin viele scharfsinnige Impulse und Gedanken, die unsere Diskurse bereichern mögen.
WIESBADEN – In Deutschland waren im Jahr 2020 Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 30,2 Jahre alt. Zehn Jahre zuvor lag das Durchschnittsalter noch bei 29,0 Jahren, wie das Statistische Bundesamt aus Anlass des Muttertages am 8. Mai mitteilt. Das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden ist in den vergangenen zehn Jahren fast durchgehend gestiegen.
Im Jahr 2020 kamen in Deutschland rund 360 000 Erstgeborene auf die Welt. Davon hatten 0,8 % (2 900) eine Mutter, die jünger als 18 Jahre alt war. Bei 2,9 % der Erstgeborenen (10 500) war die Mutter bei der Entbindung 40 Jahre und älter.
EU-Vergleich: Durchschnittsalter der Erstgebärenden in Italien am höchsten
Auch in den anderen Staaten der Europäischen Union bekommen Frauen immer später ihr erstes Kind. Im Jahr 2020 betrug das Alter der Erstgebärenden im EU-Durchschnitt laut Eurostat 29,5 Jahre. In Italien waren die Frauen bei Geburt ihres ersten Kindes mit im Schnitt 31,4 Jahren am ältesten, gefolgt von Spanien mit 31,2 Jahren und Luxemburg mit 31,0 Jahren. Am jüngsten waren die Erstgebärenden 2020 in Bulgarien (26,4 Jahre), gefolgt von Rumänien (27,1 Jahre) und der Slowakei (27,2 Jahre).
Methodische Hinweise:
Die Eurostat-Angaben zum Durchschnittsalter der Frauen bei Geburt können aufgrund methodischer Unterschiede von den Angaben des Statistischen Bundesamtes abweichen.
Das aktuelle Heft der Zeitschrift systhema vereinigt Beiträge der Tagung des Instituts für Familientherapie Weinheim, die im November 2021 in Köln unter dem Titel „Und so wollen wir leben?!“ statt fand – zum 45-jährigen Jubiläum des IF Weinheim. Darüber hinaus gibt drei methodische Impulse für die Praxis und viele Rezensionen. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…
Das aktuelle Heft der Familiendynamik beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Projekt „Systemtherapeutischer Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung“ (SYMPA). In ihrem Editorial „Kollektive Interventionskulturen haben Konjunktur“ schreiben die Herausgeberinnen Rieke Oelkers-Ax und Christina Hunger-Schoppe: „Psychische Erkrankungen sind seit Jahren auf dem Vormarsch. Infolge der Coronapandemie steigen sie weltweit weiter sprunghaft an, sodass der viralen eine »psychische« Pandemie folgt. Auf der Suche nach Lösungen lohnt ein Blick auf kollektive Interventionsformen, wie z. B. die Systemtherapeutischen Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung (SYMPA). Sie folgen dem Prinzip von »Heilung als Gemeinschaftsleistung« und spiegeln ein Verständnis von Psychotherapie wider, das in modernen Gesellschaften zugunsten individueller »Einzelsettings« zurückgedrängt wurde. Historisch verschärfte die Psychiatrie-Enquete 1975 diese Zuspitzung: Die psychiatrische Versorgungsleistung wurde de-institutionalisiert und teilweise an die Familie »zurückverwiesen«. Gleichzeitig stieg die Lebenszeitprävalenz für depressive Störungen bei Partner:innen psychiatrischer Patient:innen und lag schließlich bis zu 60 % höher als in der Normalbevölkerung. Entlastete Mitglieder betroffener sozialer Systeme tragen hingegen zu einem verminderten Rückfallrisiko von Patient:innen bei. Angesichts sich zuspitzender Krisenerscheinungen haben Ansätze kollektiver Interventionskulturen wieder Konjunktur. Im Krankenhausbereich wurde in den letzten 20 Jahren in über ein Dutzend Kliniken SYMPA praktiziert. SYMPA und ihrem Mitbegründer, Jochen Schweitzer-Rothers, ist unser Schwerpunktthema gewidmet“. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…