systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

22. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 22. Lisa Reelsen

Am 11.11. saß ich zum beratenden Schulbesuch einer Referendarin im Klassenzimmer einer 2. Klasse. Die Referendarin las den Schüler_innen aus einem Bilderbuch vor, in dem ein Bär durch ein Fenster stieg, um auf den Marktplatz zu gehen, wo sich schon viele Kinder mit Laterne eingefunden hatten. Auf die Frage, worauf sie wohl warteten, kam von mehreren Seiten die erwartete Antwort: „Auf Sankt Martin, der auf einem Pferd kommt.“ Die Schüler_innen bekamen anschließend die Aufgabe, den vorgelesenen Text nun weiterzuschreiben. Viele waren zunächst beobachtbar überfordert, doch ein Junge schrieb gleich los. Er streckte auch zum Schluss des Unterrichts ganz eifrig seine Hand und wollte unbedingt vorlesen. Die Referendarin bat ihn, nach vorn zu kommen, und er las vor: 

„Dann kam Sankt Martin auf einem Pferd auf den Marktplatz. Das Pferd rutschte auf einer Bananenschale aus, Sankt Martin flog im hohen Bogen runter und fiel direkt neben den Bettler. Der drehte sich zu ihm und sagte: „Na, auch Pech im Leben gehabt?“

Ich selbst musste sofort lachen, die Referendarin war sprachlos, die Klasse reagierte irritiert bis amüsiert. Die Mentorin ärgerte sich über das „provozierende Verhalten“.

Über Textqualität entscheidet der Text plus die Erwartungen von Leser_innen an den Text. 

Der andere und völlig unerwartete Blick eines Siebenjährigen, der einen kreativen Text schreibt, hat doch was überraschend Irritierendes und Amüsantes.

Ich hätte den Jungen gerne gefragt, wie er auf die Idee gekommen ist. Vielleicht hätte er gesagt: „Weil ich die Klasse zum Lachen bringen wollte.“ (klar definiertes und adressatenbezogenes Schreibziel, wie es sogar im Bildungsplan verankert ist) 

Diese Chance blieb vertan wie auch die, näher auf den Textinhalt einzugehen. Vermutlich hätte er auch was ganz überraschend anderes geantwortet. Vielleicht tragen im Unterricht interessante Fragen immer dann zur Qualität des Unterrichts bei, wenn auch die Lehrkräfte auf die gestellten Fragen noch keine Antwort wissen? 

21. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 21. Lina Nagel

Wenig Zuversicht vermittelnde Zeiten

In der Einladung zum diesjährigen systemagazin Adventskalender hat mich besonders der Hinweis auf die wenig Zuversicht vermittelnden Zeiten angesprochen. Ich halte im kommenden Jahr einen Vortrag auf einer Konferenz zum Thema „Zuversicht und Zumutung“ am IF Weinheim. Den Titel finde ich extrem passend für unsere Zeit, denn sie scheint mir voller Zumutungen zu sein und diese laden nicht grad zur Zuversicht ein. 

Auch in Konflikten wird das Gegenüber ja schnell als Zumutung empfunden. Anhand kybernetischer Theorie kann jedoch auch die eigene Rolle daran klar werden: Wir tragen mit unserer Art, das Geschehen zu interpunktieren, und unseren verinnerlichten, oftmals unbewussten Mustern und Strategien selbst dazu bei, dass das Gegenüber sich gar zunehmend so verhält, wie wir es eigentlich nicht möchten. Wir bestärken das, was wir zu verhindern versuchen. Verrückt! Wenn auch nachvollziehbar – und leider oftmals unbewusst.

Wie kann dann damit umgegangen werden? Darauf gibt es zwar keine pauschale Antwort, aber deshalb nicht minder Möglichkeiten: So sind das Wissen um systemische Dynamiken, die Offenheit dafür, etwas Neues auszuprobieren, die Flexibilität im eigenen Verhalten, die Reflexion von dem, was war und über das, was wir wollen, nur einige Ansatzmöglichkeiten, um einen Unterschied zu machen, der die Dynamik verändern kann – oder um einen ersten Schritt in Richtung des Umgangs mit einer Zumutung zu gehen, die dann zur Herausforderung wird. 

Die damit einhergehende Handlungsfähigkeit oder auch nur die Hoffnung auf diese schafft Zuversicht, da sie neue Türen öffnet. Wir wissen vielleicht noch nicht, wohin diese genau führen werden, aber sie sind da, wenn wir sie öffnen. Das bedeutet auch Freiheit – und zwar keine, die alleine steht, sondern eine, die Verantwortung einbezieht, denn es ist liegt an uns, ob und welche Tür wir wählen. 

Für mich ist das das Hoffnungsvolle trotz dieser Zeit und besonders hoffnungsvoll, da es für jede Zeit gilt. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns grämen, beschweren und entlasten oder ob wir uns Umgangsweisen überlegen, nach Lösungen suchen und aktiv werden – Dabei scheint mir Ersteres nicht per se schlecht und Letzteres nicht per se hilfreich, aber es scheint mir wichtig, beides klar zu unterscheiden, bewusst zu wählen und sich vor allem bewusst darüber zu sein, dass Ersteres nicht die einzige Option ist. Es liegt an uns mit den Herausforderungen umzugehen, das ist unsere Freiheit und Verantwortung – insbesondere in unzumutbaren Zeiten.

Lina Nagel, Witten/Herdecke

20. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 20. Andreas Wahlster

Anerkennen, was war 

Ich bin Jahrgang 1954, meine Eltern haben beide den 2. Weltkrieg als Jugendliche bzw. junge Erwachsene durchlebt.

Zusammen mit meiner Frau nahm ich Anfang November in unserem Wohnort an einer Veranstaltung anlässlich der Verlegung von fünf Stolpersteinen statt. Wir durften eine Überlebende der Deportation im Oktober 1940 und ihre Familie kennenlernen, die alte Dame war so würdevoll und dem Leben zugewandt, keinen Groll gegen uns hegend. Zwei Wochen später fuhren wir nach Krakau und Lodz. Wir konnten in Krakau an einer eindrucksvollen wie auch erschütternden Stadtführung durch das jüdische Viertel und das Getto teilnehmen und geradezu leibhaftig spüren, wie brutal und gnadenlos penibel die Ermordung von mindestens 15.000 Jüdinnen und Juden durch Wehrmacht, SS und SA vollstreckt wurde. Dachte ich bis dahin, ich hätte mich intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, wurde mir spätestens hier bewusst, dass dem mitnichten so ist. 

Am nächsten Tag Besuch im Schindlermuseum in Krakau. Mit Worten beschreiben zu wollen, was ich gefühlt, gedacht habe, kann nur unzulänglich gelingen. Ein Gehen durch das Grauen, der Impuls, sich distanzieren zu wollen, meldete sich permanent. Ich brauchte Pausen, um mit allen Sinnen präsent bleiben zu können. 

Auf der Rückfahrt stundenlange Gespräche über unsere Familien, jetzt jedoch anders. Als wäre ich dichter dran an deren Erleben damals. Mein Vater, der als Zwanzigjähriger eine Kompanie führte und nach tagelangen Kämpfen an der Front auf der Krim informiert wurde, dass Soldaten seiner Kompanie sich soeben an russischen Rebellen gerächt und diese am nächsten Baum erhängt haben. Erst im hohen Alter konnte er darüber sprechen mit erstarrtem Gesicht voller Schuld, diese Gräueltaten nicht verhindert zu haben.

Ein Großvater kaufte zu Beginn des Krieges eine Konservenfabrik aus ehemals jüdischem Besitz, mit seiner Familie zog er in das Haus der Unternehmer-Familie. Mein Vater zeigte meinem Bruder und mir das Haus bei einem Besuch dort vor ca. 15 Jahren. Wir haben damals über Vieles gesprochen, nur nicht darüber. 

Vom anderen Großvater wissen wir durch Erzählungen seiner Kinder, dass er Offizier in beiden Weltkriegen war und in den letzten Kriegstagen in Schwerin Soldaten davor bewahrte, nochmal an die Front zu müssen, indem er sie im Lazarett durch seine beiden ältesten Töchter (eine davon meine Mutter) mit Mullbinden einwickeln ließ, so dass sie so aussahen, als seien sie nicht einsatzfähig. 

Beide Geschichten gehören zu meiner Familie und damit auch zu mir. Ich wünsche mir von mir, dass es mir hinlänglich gelingen möge, friedvoll und ggf. kämpferisch für Menschlichkeit und Respekt einzutreten. Das habe ich in meiner Familie auch gelernt.

19. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 19. Regina Riedel

„Die Zukunft war früher auch besser“ Karl Valentin

Wer hätte gedacht, dass dieser Spruch einmal so viel an Witz verlieren würde? Ich bin versucht,  zu sagen: Genau, schreckliche Aussichten diesen Zeitenmit Kriegen und Rechtsruck allerorten!

Aber müssen wir uns nicht gerade jetzt der Frage stellen: Was können wir heute tun, um nicht (einmal mehr in Deutschland) in Zukunft mit Schuld und Scham auf die Vergangenheit blicken zu müssen?

Diese Frage bewegt mich und auch mein kleiner Einflussbereich  angesichts der Größe der Herausforderung. Wie kann es gelingen, nicht zu resignieren und die kleinen Schritte, die uns jeweils individuell möglich sind, dennoch als eine Bewegung wahrzunehmen mit der Hoffnung, voranzukommen?

Ich erinnere mich an ein Buch aus Jugendtagen und an Beppo Strassenkehrer, den einfachen alten Freund von Momo, der dazu folgendes sagt:

„Es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Strasse vor sich. Die ist so schrecklich lang, das kann man niemals schaffen denkt man. (…) Und dann fängt man an sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, das es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die ganze Straße liegt noch vor einem. So darf man es nicht machen. (…) Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.(..) Auf einmal merkt man, dass man die ganze Strasse gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie und man ist nicht außer Puste.“

In diese Sinne: Schritt- Atemzug – Besenstrich – und fast unbemerkt kommen wir voran. Das ist meine Hoffnung!

Regina Riedel, Berlin

18. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 18. Haja Molter

Zeitenwende – in meinem Kopf schwirren widersprüchliche und verstörende Gedanken, mein Herz quälen manchmal unangenehm stechende Gefühle und mein Bauch reagiert mit Grummeln und Unwohlsein. Dann wieder scheint die Welt in Ordnung zu sein, ich lebe meinen Alltag, treffe Freunde, gehe ins Kino, Theater und Oper, besuche Jazzkonzerte, verreise, mache Urlaub, kurz gesagt, ich lasse es mir und uns gut gehen.

Der Kopf sagt, jeder Krieg ist irgendwann zu Ende. Schau in die Geschichte, das war schon immer so. Das tröstet Herz und Bauch keineswegs. Denn wie gehe ich mit den Emotionen um, die immer da sind und laut Luc Ciompis Affektlogik die eigentlichen Antriebe des Denkens und Handelns sind. (1)

Im systemischen Feld verwirft man lineare Schuldzuweisungen, der, die oder die sind schuld: ist ein No Go. Doch wie verhält es sich mit mit denen, die einen Krieg beginnen? Ehemalige Kriegsdienstverweigerer unterstützen heute Waffenlieferungen und Angriffskrieg als Antwort, andere fordern Dialogbereitschaft, es wäre zu hoffen, dass Dialoge, schon mehr Trialoge und mehr, möglich werden,

Alles ist hoch komplex. 

Ständig umgeben von diesen Stimmungen und Gedanken möchte ich  – diese Komplexität reduzierend – von einer Erfahrung berichten, die mich über die Jahre in vielen Paartherapien ratlos gemacht hat. Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beobachten wir einen Psychoboom. (2) Man könnte Bibliotheken füllen mit Fach- und Populärliteratur zu allen gesellschaftlichen und Alltagsproblemen. Die Psychologisierung schreitet fort. Die psychotherapeutischen Praxen quellen über vor Anfragen. 

Auch die neuerdings approbierten systemischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten werden gut versorgt von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen sowie Privatzahlern. Systemische Beratung, Coaching und Organisatinsberatung florieren.

Eine wohlmeindende Hypothese könnte sein, dass die Basisbedingungen einer gelingenden Kommunikation trotz Luhmanns Warnung vor der Wahrscheinlichkeit des Misslingens von Kommunikation bekannt und vertraut sind. (3) Denkste!

In Paartherapien, wo es um Trennung und das weitere Schicksal der Kinder geht, stand ich oft ratlos vor der Tatsache, dass Frau und Mann, die sich ja irgendwann mal geliebt und sich das commitment gegeben haben, liebevolle und verantwortungsvolle Eltern für ihre Kinder zu sein, sich unversöhnlich darin zeigten, eine angemessene Lösung für ihre Kinder nach der Trennung zu vereinbaren. Gegenseitig schleuderten sie sich Ereignisse aus dem Museum der Verletzungen hervor. Es ging nicht mehr um die Kinder, sondern nur darum, wer im Recht ist. Leider mussten in solchen Fällen die Familiengerichte entscheiden, wem die Kinder zugesprochen werden und wie das Umgangsrecht geregelt wird. Da stand ich da mit meinen Emotionen. Es galt zu akzeptieren, dass nach dem spöttelnden Albert Einstein „der Horizont vieler Menschen ein Kreis mit dem Radius null ist.“ Oft hätte ich mir gewünscht, die Paare solange in einen großen Sack zu stecken, bis sie sich geeinigt haben.

Als tröstlich erlebte ich, dass viele Paare mit unserer Unterstützung – ich hatte den Luxus, Paartherapien mit meinr Freundin und Kollegin Karin Nöcker durchzuführen – kreative und die Kinder einbeziehende Lösungen erarbeitet haben.

1 Levold, T., Schlippe, A. v.( 2024) „Krieg anzetteln ist leicht. Frieden zu machen ist unendlich schwierig.“ Tom Levold und Arist von Schlippe im Gespräch mit Luc Ciompi. DOI 10.21796/ fd 49-332-338

2 Bach, G, Molter, H. (1976). Psychoboom. Wege und Abwege moderner Psychotherapie. Köln, Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag

3 Luhmann, N. (1988). In: Simon, F. B. (Hrsg.). Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Molter, H., Nöcker, K.  Luhmann für mich und dich. In: systhema 1/2012 – 26. Jahrgang, S. 19-29

Haja Molter, Düsseldorf

17. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 17. Corina Ahlers

Mit dem „F R E M D E N“  und dem „U N E R K A N N T E N“ zu leben wissen

Jährlicher Kontrolltermin – Mein Gynäkologe ist in Pension gegangen. 

Wie schade, noch ein Arzt mehr, der aus meinem Leben verschwindet, bzw. ein neuer, an den ich mich gewöhnen muss. 

Ich bin treu, ich bleibe in der Ordination meines alten Arztes, welche in meiner Nähe liegt. 

Die Ordination hat er weitergegeben. Sein Nachfolger ist aus Ghana.

Mich, die ich mich meistens als offen und neugierig wahrnehme, berührt die Fremdheit seiner Hautfarbe: Will ich von ihm angefasst werden? Ich konfrontiere mich mit meinem Gefühl, stelle es mir vor und beschließe, dass ich es ausprobieren möchte. Ich gestehe mir zu, dass auch ich diese Fremdheit in mir spüre und zwinge mich zum Neuartigen.

Ich erzähle mein Innenleben meiner amerikanischen Schwiegertochter, und sie missversteht mich sofort: „Oh Corina!“ Das ist ein Apell an mein inkorrektes Gefühl. Sie versteht nicht, dass ich ihr gerade sage, dass ich mich ja damit auseinandersetze. Das „in mich Gehen“, dass ich in mir betreibe, ist Ausdruck meiner Selbstreflektion als Psychotherapeutin. Ich ignoriere die für mich jugendliche und falsche Moralität meiner Schwiegertochter. Das Unverständnis zwischen uns bleibt.

Einen Tag später: Ich habe den gynäkologischen Kontrolltermin hinter mir. Er war jünger, aufmerksamer, zugewandter und genauer als mein alter Gynäkologe. Ich habe mich wohlgefühlt. Außerdem war er hübsch! 

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16. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – Der Kalender ist voll

Liebe Leserinnen und Leser,
der diesjährige Adventskalender im systemagazin ist seit heute komplett, was mich sehr freut. Schon jetzt danke ich allen Autorinnen und Autoren sowie all denen, die sich mit ihren Kommentaren engagiert haben, von Herzen. Leider kann ich daher auch keine neuen Beiträge für dieses Jahr mehr annehmen. Ich fühle mich aber ermutigt, auch im kommenden Jahr wieder mit Ihrer Unterstützung einen Adventskalender zu gestalten.

Mit herzlichen Grüßen
Tom Levold
Herausgeber systemagazin

16. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 16. Timm Richter

Praktiziertes Paradoxie-Management

Fehlende Zuversicht, das war es, was mich im Einladungstext von Tom Levold besonders angesprochen hat. Das Gefühl kenne ich. Muss man sich jetzt Gedanken machen, wie man Zuversicht erzeugen kann, im Zweifel sogar »Fake it until you make it«, da ja das Gegenteil Resignation bedeuten würde, und das kann es, nein darf es doch nicht sein! Wobei: mir scheint gerade die Systemtheorie auf sehr schlüssige Weise zu zeigen, dass die Gesellschaft fast unausweichlich auf Katastrophen zusteuert. Wie anders sollte man z.B. Fritz B. Simons Bücher »Anleitung zum Populismus« oder »Die kommenden Diktaturen« lesen als das Aufzeigen, wie sich die Gesellschaft mit Ansage in ihr eigenes Unglück stürzt? Der Hinweis von ihm auf eine paradoxe Intervention durch das Aufzeigen eines Worst Case, mit der die Gesellschaft wachgerüttelt werden soll, überzeugt mich nicht, ich denke bei mir: er hat leider recht. Erst wenn es richtig knallt, wenn die gesellschaftlichen Verwerfungen noch schlimmer, die Klimaschäden noch spürbarer werden, erst dann wird die Gesellschaft reagieren, aber dann ist es schon ziemlich spät. Wobei ich es bemerkenswert finde, wie konsequent Fritz B. Simon trotz meiner vermuteten Unausweichlichkeit in Social Media fortfährt, in Bezug auf Klimakatastrophe und Demokratiegefährdung Stellung zu beziehen. Wie passt das zusammen?

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15. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 15. Margret Omlin

Schule als Ressourcen-Wunderland

Die Flure der Heilpädagogischen Schule sind heute ungewohnt leer. Nur kleine hellblaue Zettelchen kleben da und dort. Ich hole mein Tageskind ab. Alle sind noch im Klassenzimmer, einzig Efe versucht schon, seine Winterschuhe hier draussen zu schnüren. «Du», sagt er zu mir, «wir haben heute Englisch gelernt». Er deutet auf den Zettel an der Tür. Door. Efe strahlt. «Die andern kommen bald raus». Nach und nach kommen Eltern wie Efes Vater, der in der nahen Industrie arbeitet. Die beiden unterhalten sich türkisch. Die Door geht auf. Es wird bunt und laut. Viele Sprachen gehen hin und her. Diese Kinder! – in dieser Schule! – wechseln mühelos von deutsch zu türkisch, zu portugiesisch, französisch, spanisch. Die können das. Und jetzt noch englisch. Nicht nur Türen gehen auf.

14. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 14. Barbara Kuchler

Wie politisch ist Systemik?

Ich möchte diesen Adventskalender nutzen, um eher unbesinnlich und un-adventlich über das Verhältnis von Systemik und Politik nachzudenken, und über Rollentrennung und Rollenvermischung überhaupt. Ich habe dazu eine Grundhaltung und Grundüberzeugung, und ich habe Fragen, Zweifel, offene Fragezeichen, die gar nicht mit ersteren zusammenpassen. Ich stelle sie der Reihe nach vor, ohne zum Schluss überzeugende Antworten geben zu können – um das gleich zu sagen. 

I.  Wie politisch ist Systemik? 

Meine Grundüberzeugung ist: Ich bin gegen die Politisierung professioneller Gruppen und professioneller Verbände. Ich halte Professionalität, die Form der Profession und die Mission dieser speziellen Profession, für so wichtig und selbsttragend, dass sie ausreichend Stoff für Texte, Tagungen, Diskussionen, Dynamiken, Projekte, Entwicklungen für die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte (Smiley) gibt.  Ich brauche keine politische Zweitmission, um das Gefühl zu haben, dass ich als Systemikerin und Mitglied eines Systemikerverbandes etwas Wichtiges und Sinnvolles tue. Ich will nicht einem Verband sein, der sich zur Hälfte als politische Lobbygruppe versteht. Ich will dort sein wegen dem, was ich für den professionellen Kern systemischen Denkens und Könnens und Wissens halte.

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13. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 13. Rudolf Klein (Text) und Barbara Schmidt-Keller (Foto)

Nachdenkliches

„Eigentlich“ wollte ich etwas Lockeres, Witziges, Leichtes schreiben. Ging aber nicht. Vielleicht trage ich mit meinem diesjährigen ernsten Beitrag zum Adventskalender sogar Eulen nach Athen. Wer weiß? 

Mir scheint, dass seit geraumer Zeit eine Art Vervielfachung individueller Identitätsentwürfe beobachtet werden kann, die durch ein auf Profitmaximierung und Wohlstandserhalt getrimmtes, sich stetig beschleunigendes und neoliberales Wirtschaftssystem angetrieben wird. 

Man könnte sie als Identitätsprojekte beschreiben, die mit einer um sich greifenden eindimensionalen Freiheitsvorstellung und einer zunehmend moralisch unterlegten Empörungskultur inklusive Selbstüberzeugungs-, Wahrheits-, Durchsetzungs- und Rücksichtsnahmeansprüchen agieren. 

Gleichzeitig kursieren zunehmend Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge durch Hinwendung an eindeutige Weltinterpretationen, die angesichts einer krisenanfälligen Weltlage, einer Welt, in der Kriege und Flüchtlingselend nun auch in unser Blickfeld geraten, sich Klimakatastrophen bemerkbar machen, deren Dimensionen menschliche Fähigkeiten erheblich zu überfordern scheinen. Ein Nährboden, auf dem Trumps, Orbans, Netanjahus, Putins, Xi Jinpings, Musks u.a. wunderbar gedeihen können.  

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12. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 12. Johannes Herwig-Lempp

Unterschiede, die keinen Unterschied machen

„Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich“ war das Motto des Berliner Christopher-Street-Days 2015. Also was jetzt wirklich: alle anders oder alle gleich? Oder doch beides?

SystemikerInnen zitieren überaus gern immer mal wieder den (Halb-)Satz, „Unterschiede, die einen Unterschied machen“. Dabei können Unterschiede überhaupt keine Unterschiede machen, das müssen dann schon wir Menschen übernehmen. Denn Unterschiede sind (darüber besteht sicherlich – trotz unterschiedlicher Ansichten – eine gewisse Einigkeit) keine Subjekte, also keine handelnde Akteure – folglich können sie auch nichts „machen“. 

Unterschiede sind wie Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten – sie existieren nicht “wirklich“, und für sich allein genommen gibt es sie nicht. Sie brauchen echte Menschen, um überhaupt erstmal festgestellt zu werden. Es ist wie mit dem Baum im Wald, den niemand fallen hört – und bei dem wir zwar glauben, dass er ein Geräusch dabei macht, uns aber nicht sicher sein können: denn ist ein Geräusch wirklich existent, wenn es nicht von jemandem gehört, beobachtet, wahrgenommen wird? Und gibt es Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten), wenn niemand sie sieht und bemerkt?

Nehmen Sie zwei beliebige Menschen, stellen Sie sie nebeneinander – und überlegen Sie, ob sie „gleich“ oder „anders“ sind: Sie werden genau das finden, wonach Sie suchen. Sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten (oder Ähnlichkeiten) „bestehen“ nie für sich alleine: erst die Beobachtung durch jemanden lässt sie Wirklichkeit werden – und auch nur für diejenigen, die sie bemerken. 

„Äpfel und Birnen kann man nicht vergleichen“ – wenn man dies feststellt, hat man sie bereits verglichen, sonst wäre diese Feststellung gar nicht möglich[1]. Und selbstverständlich kann und darf man alles und jedes miteinander vergleichen. Wer vergleicht, kann Unterschiede beobachten oder auch Gemeinsamkeiten, je nachdem, worauf sie/er achtet, welche Kriterien er dabei anlegt und welche Bedeutung er diesen gibt. 

So wenig wie es „Unterschiede, die einen Unterschiede machen“ gibt – so wenig gibt es „das Muster, das verbindet“ (Gregory Bateson). Auch hier wird wieder dieser Halbsatz nur sinnvoll, wenn man großzügig vernachlässigt, dass es Subjekte (also Menschen) braucht, die diese Muster „entdecken“, feststellen, behaupten, benennen. Bevor jemand sie konstatiert, existieren sie nicht – und welche Muster entdeckt, für wesentlich befunden und für wichtig bewertet werden, hängt von denjenigen ab, die diese Muster feststellen wollen. In dem Moment, wo wir dies berücksichtigen (wollen), kommt wieder die Verantwortung ins Spiel. Diejenigen, die die Unterschiede und Muster benennen, sind auch verantwortlich für diese Benennungen – denn sie wären auch anders möglich, es wären auch andere Beschreibungen, Beobachtungen und Benennungen möglich. 

Wenn die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Muster ohne uns nicht existieren können, dann sind wir für sie verantwortlich: wir könnten ja auch anders hingucken und dadurch etwas anderes sehen. Damit liegt die Verantwortung bei uns. Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld haben dies prägnant auf den Punkt gebracht: „Objektivität ist die Selbsttäuschung eines Subjekts, dass es Beobachten ohne ein Subjekt geben könnte. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.“

All dies bedeutet für mich immer wieder: ich bin ich selbst verantwortlich für das, was ich sehe – selbst dann, wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Andererseits ist diese Ansicht keineswegs zwingend: Andere können das genauso gut ja auch ganz anders sehen. 


[1] Vergleiche [!] auch den Artikel „Forscher haben erstmals Äpfel mit Birnen verglichen“ in: Der Postillon vom 11. Mai 2017

Johannes Herwig-Lempp, Halle/Saale

11. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 11. Sabine Klar

Momente und Zwischenräume

Ist das, was uns gegen die Resignation helfen kann – angesichts der dummen und von der eigenen Macht und Gier selbstvernarrten, vielgesichtigen Zerstörung – wirklich nur der naive Kinderglaube? 

Ja, vielleicht gibt es keinen Erlöser, der uns rettet oder richtet, je nachdem.

Aber es gibt erlösende und befreiende Momente zwischen Menschen und in Menschen – gerade auch in der therapeutischen Arbeit. 

Es gibt das Dasein mit dem, was gerade da ist und sich auftut. 

Und die Freude daran.

Nachbemerkung:

Eigentlich wollte ich es diesmal bei dieser Knappheit belassen. Die eigene Positionierung gegenüber dem, was mich hinunterzieht, kommt mit wenig Worten aus. Doch auf Aufforderung fette ich es nun ein wenig auf. 

Ich hab trotz allem diese Kindhoffnung in mir, die immer noch glaubt, dass alles gut wird und einen Sinn hat. Sie ist ein Schatz, lenkt aber auch ab – von dem was gerade unausweichlich zerstörerisch Macht bekommt und von dem Kostbaren, das dabei den Bach runtergeht. Manchmal denke ich, dass ich Verzweifelte in ihrer zunehmend hoffnungslosen Welt bloß missverstehen kann und alleinlasse.

Und dann treffe ich in der Therapie auf Menschen, die sich in ihren niederdrückenden und quälenden Lebenslagen aufrichten und sich die Freiheit nehmen, an der eigenen Hand tastend hindurchzutappen. Oft gibt es gar kein endgültiges Entrinnen, sondern nur Momente und Zwischenräume, in denen es möglich wird, aufzuatmen und sich und andere leben zu lassen.

Dabei darf ich sie dann begleiten und dafür bin ich dankbar.

Sabine Klar, Wien