systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

16. Mai 2025
von Tom Levold
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Psychotherapie von Essstörungen 

Brigitte Schigl, Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin, ist Studiengangsleiterin für Psychotherapie- und Beratungswissenschaften an der Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften und leitet den Universitäts-Lehrgang Supervision & Coaching an der Donau Universität Krems. Als integrative Therapeutin hat sie viele inhaltliche Beiträge zur Verbesserung von psychotherapeutischen Kompetenzen geleistet, die ganz schulenunabhängig von Bedeutung sind – nicht zuletzt ihre Arbeiten über Fehler in der Psychotherapie, etwa hier oder hier.

Im Springer-Verlag ist 2024 ein Buch von ihr über die Psychotherapie von Essstörungen erschienen. Darin geht es, wie der Untertitel besagt, um ein „gendersensibles, integratives Behandlungsmodell“. Raluca Lechner aus Wien hat es für systemagazin gelesen und betont, dass es eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten auch für systemische Therapeutinnen und Therapeuten bietet.

Raluca Lechner, Wien:

Brigitte Schigl legt mit Psychotherapie von Essstörungen ein bemerkenswertes Fachbuch vor, das sowohl für angehende als auch für erfahrene Psychotherapeut:innen eine wertvolle Orientierung und Inspiration bietet. Obwohl die Autorin integrativ arbeitet, spricht ihr Zugang und ihre Haltung auch systemische Therapeut:innen an – sowohl theoretisch als auch methodisch.

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12. Mai 2025
von Tom Levold
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Systemische EMDR-Intensivtherapie

Wie ich an dieser Stelle schon öfter beklagt habe, ist es um die Kasuistik im systemischen Feld nicht allzu gut bestellt. Viel zu oft werden nur kurze, wenig aussagekräftige Fallvignetten präsentiert, um die Wirksamkeit einer Intervention oder die überraschende Veränderung zu illustrieren, die als Ergebnis der eigenen therapeutischen Vorgehensweise vorgestellt werden. Das kompliziertere Auf und ab eines therapeutischen Prozesses, die subtilen Weichenstellungen, die ins Gelingen führen, die Hemmnisse und redundanten Schleifen, die einen Prozess erschweren und verlangsamen, von all dem ist selten in Ausführlichkeit die Rede. Umso großartiger ist das hier vorgestellte Buch von Susanne Altmeyer, die seit vielen Jahren in der systemischen Szene verankert ist und Chefärztin einer systemisch geführten psychosomatischen Klinik ist, welche sich auf die Bearbeitung von Traumatisierungserfahrungen spezialisiert hat. In dieser Klinik hat sie mit ihrem Team ein intensivtherapeutisches Konzept entwickelt, das vergleichsweise hochfrequente Sitzungen innerhalb eines kurzes Zeitraumes vorsieht. In bestimmten Situationen kann es möglich sein, auch über diese ressourcenintensive Arbeit noch hinauszugehen. Davon handelt ihr Buch „EMDR-Intensivtherapie – Systemisch – fokussiert – effektiv“. Es ist die Geschichte einer EMDR-Therapie mit einer komplex traumatisierten Patientin, die über die Dauer von fünf Tagen täglich zwischen vier und acht Stunden lang EMDR-Therapie angewandt wurden. Ihr Buch ermöglicht uns, ein solch außergewöhnliches Format sowohl aus der Perspektive der Therapeutin als auch der der Klientin nachzuvollziehen, die ihrerseits ihre parallelen Tagebucheintragungen für diesen Band zur Verfügung gestellt hat. Insofern geht es hier um eine faszinierende Ko-Produktion eines therapeutischen Prozesses, deren Darstellung man ein sehr großes Publikum wünschen möchte. Wolf Ritscher hat das Buch rezensiert und empfiehlt die Lektüre nachhaltig.

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29. April 2025
von Tom Levold
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Michael B. Buchholz wird 75!

Heute gibt es gleich noch einen runden Geburtstag zu feiern, denn Michael B. Buchholz wird heute 75 Jahre alt. Schon in der Vergangenheit gab es hier viel über ihn als Person zu lesen, so zu seinem 60., 65. oder 70. Geburtstag. Dass er einer der wichtigsten klinischen Theoretiker, Forscher und Praktiker hierzulande ist, muss also heute nicht noch einmal extra betont werden. systemagazin gratuliert jedenfalls von Herzen!

Seine Qualität als Forscher und Lehrer zeigt er in einem wunderbaren Vortrag mit dem schönen Titel „Von der „talking cure“ zum „hearing silencing“ – die sensorische Membran im therapeutischen Gespräch“, den er 2023 zum 40jährigen Jubiläum der Lehranstalt für systemische Familientherapie in Wien gehalten hat und in dem er die Bedeutung der Konversationsanalyse für die therapeutische Praxis entfaltet.

29. April 2025
von Tom Levold
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Rainer Schwing wird 70!

Rainer Schwing

Heute feiert Rainer Schwing seinen 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen.

1989 hat er das praxis-institut mitbegründet und lange geleitet, dessen Kernstück die zweijährige Weiterbildung „Systemisches Arbeiten in Sozialarbeit, Pädagogik, Beratung und Therapie“ darstellt, die keine klassische Beratungsweiterbildung ist, sondern auf um eine breite Basisqualifikation für alle psychosozialen Arbeitsfelder abzielt. Diesem Konzept ist Rainer Schwing über 35 Jahre und durch alle Veränderungen der systemischen Landschaft bis heute treu geblieben.. Sein Kollege und Wegbegleiter Peter Martin Thomas hat auf der Website des Instituts eine ausführliche Würdigung verfasst. Darin heißt es zu seinem verbandlichen Engagement: „Rainer Schwing hat sich seit der Gründung in der DGSF engagiert. Ab 2003 war er Mitglied im Fort- und Weiterbildungsausschuss, von 2006 bis 2011 war er Mitglied im Vorstand der DGSF. Seit 2011 ist er einer der Sprecher der Fachgruppe „Neurobiologie und systemische Praxis“ bzw. mittlerweile „Synergetik, Neurowissenschaften und systemische Praxis“. Von 2016 bis 2022 war er Mitglied der Findungs- und Wahlkommission des Dachverbandes. Mit diesem Engagement hat er zu einer erfolgreichen Entwicklung der DGSF und insbesondere der Qualität von Weiterbildungen und Weiterbildungsinstituten im Dachverband beigetragen.

Eine bleibende Idee aus seiner Vorstandszeit sind die DGSF-Fachtage, die jährlich von zahlreichen Instituten des Verbandes angeboten werden und systemische Ansätze einem breiteren Publikum erschließen. Sowohl im Verband als auch im Institut verfolgt Rainer Schwing einen internationalen und interdisziplinären Ansatz. Die Verbindung verschiedener Fachrichtungen betrachtet er als Kernprinzip systemischer Arbeit. In den Weiterbildungen des Institutes finden sich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, psychodramatische, gruppendynamische und andere Konzepte. Er entdeckte frühzeitig Marte Meo, Traumatherapie und Mentalisieren für die systemische Praxis. Er hat sich in Vorträgen, Fachtagen und Fachartikeln dafür stark gemacht, neurobiologische und systemische Konzepte miteinander zu verbinden. Er interessiert sich ebenso für die Synergetik und die Netzwerkarbeit wie für das Mikrobiom oder systemische Bodenkunde. Oder er fragt sich aus systemischer Perspektive – und gemeinsam mit entsprechenden Expert:innen – wie man mit „Rechten reden“ kann.“

Der vollständige Text dieser Würdigung kann hier gelesen werden…

17. April 2025
von Tom Levold
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Siegfried J. Schmidt (28.10.1940 – 3.3.2025)

Siegfried J. Schmidt

Im März ist Siegfried J. Schmidt im Alter von 84 Jahren gestorben. Er war einer der großen konstruktivistischen Denker hierzulande, auch wenn seine Werke im systemischen Feld nicht immer die Beachtung gefunden haben, die ihnen gebührte. Schon in den frühen 1980er Jahren war er maßgeblich an der Verbreitung radikalkonstruktivistischer Positionen im deutschsprachigen Raum beteiligt, seine Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache, Denken und Handeln in Kultur und Kommunikation standen für ihn Zeit seines Lebens im Mittelpunkt seines Schaffens.

Walter Schwertl hat von ihm gelernt und ist sein Freund geworden. Als Freund nimmt er mit seinem Nachruf Abschied von Siegfried J. Schmidt.

Walter Schwertl, Alzenau: Nachgerufene Worte 

Die Behauptung,
alles ist Konstruktion, 
ist eine triviale Allbehauptung, 
die alles und nichts aussagt! 
SJ. Schmidt 


Am 3. März 1925 ist Prof. Dr. Dr. Siegfried J. Schmidt nach langer schwerer Krankheit verstorben. Wir haben einen großen Geisteswissenschaftler, Philosophen und Künstler verloren. Mein geistiger Mentor, Diskurspartner für philosophische und literarische Fragen und enger Freund wird mir und vielen anderen Menschen fehlen. SJS hinterließ ein gewaltiges Werk von achthundert Publikationen, vierzig Büchern in zwanzig Sprachen und eine große Anzahl an Grafiken. Dies in einem Nachruf passend zu würdigen ist kaum möglich. In einer seiner letzten Publikationen schrieb SJS: wir benötigen Erzählungen und Geschichten. Die nachgerufenen Worte sollen meine Erzählung sein.

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4. April 2025
von Tom Levold
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Über die „Grenzen des Sagbaren“ in der DGSF, das politisch richtige Weltbild für Konstruktivisten und Diskursverweigerung im Namen von „Dialog“ und „Vielfalt“

Am 16. Juli des vergangenen Jahres habe ich an dieser Stelle einen längeren Text über „Geschwärzte Akteur:innen innerhalb der DGSF“ veröffentlicht. Darin ging es um die Kontroverse um eine Rezension in der Verbandszeitschrift Kontext, die verbandsintern von einer Gruppe initiiert wurde, die sich „Qualitätszirkel der Hochschulinstitute“ nennt. Die Stoßrichtung ihrer „Replik“ zur genannten Rezension zielte darauf ab, die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Herausgeber in Frage zu stellen und eine ideologische Kontrolle von zu veröffentlichenden Texten zu etablieren. Letzten Endes führte die Kontroverse, an der auch der Wissenschaftliche Beirat des Kontext sowie der Ethikbeirat der DGSF beteiligt wurden, zu einem Beschluss auf der Jahresversammlung der DGSF im Herbst 2024, bei dem zwar die Unabhängigkeit der Herausgeber bekräftigt wurde, allerdings nur für die Zeit von zwei Jahren, in denen eine AG des Verbandes Vorschläge für die zukünftige Ausrichtung und Gestaltung des Kontexts entwickeln soll. Die Forderungen dieser Gruppe sind also nicht vom Tisch.

Im meinem Text war ein Link auf ein PDF im Mitgliederbereich der DGSF enthalten, das die wesentlichen Positionen dieser Kontroverse beinhaltete, allerdings waren alle Texte der „Replikgruppe“ geschwärzt, da diese eine Veröffentlichung verweigerten. Obwohl die durch die Kontroverse aufgeworfenen Fragen für die Mitglieder eines Fachverbandes mit immerhin 11.000 Mitgliedern (von denen keine 1,5 % auf der MV anwesend sein konnten) von Interesse sein dürften, wurden diesen durch die Schwärzung nicht nur die Positionen der Replikgruppe vorenthalten, mittlerweile ist sogar der gesamte Text von der Website der DGSF verschwunden. Damit wird aber ein zentraler Kontext für die Einschätzung und Bewertung der Auseinandersetzung um die Zeitschrift für die Mitglieder unsichtbar gemacht, was angesichts der immer wieder ins Feld geführten Betonung von Transparenz von Prozessen und Entscheidungen im Verband ein seltsames Licht auf diese Entscheidung wirft.

Im folgenden Text schildert Stefan Beher den Verlauf der Auseinandersetzung um seine Rezension aus seiner Perspektive und ergänzt seine Ausführungen mit Zusammenfassungen der Repliken und der Stellungnahme des Ethikbeirats sowie mit dem Text seiner Rezension. 

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29. März 2025
von Tom Levold
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„… das Unerhörte erzählen“

Am 14.3. erschien an dieser Stelle der Text eines Vortrags von Evelyn Niel-Dolzer, den sie auf einer Fachtagung zur systemischen Biografiearbeit in Kassel im Februar dieses Jahres gehalten hat. Auf dieser Tagung präsentierte auch Herta Schindler einen Vortrag zur Systemischen Biografiearbeit, über die sie unlängst auch ein Buch publiziert hat. Sie ist Sozialarbeiterin und systemische Lehrtherapeutin in eigener Praxis in Kassel. Ihren Vortrag hat sie dankenswerter Weise dem systemagazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Herta Schindler, Kassel: Mit meiner Stimme das Unerhörte erzählen. Eine Schulung des Hörens im Kontext systemischer Biografiearbeit

Das Unerhörte erzählen

„Das Unerhörte“ hat zwei Bedeutungen: 

Zum einen versteht man darunter, das, was (noch) nicht gehört wurde. In der Regel wurde es nicht gehört, weil es nicht erzählt wurde, bzw. nicht erzählt werden konnte. 

Und zum zweiten ist es ein empörter Ausruf über etwas, das den gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht entspricht: das ist ja unerhört!

Herta Schindler

Beide Aspekte hängen zusammen mit den jeweils geltenden gesellschaftspolitischen Werten, Gesetzen und Machtverhältnissen. Geschehenes oder Erlebtes, das gegen diese vorherrschenden Werte verstößt, im Gespräch zu teilen, kann mit Risiken verbunden sein. Es kann daher aus dem Sprechbaren verbannt werden; dem Geschehenen oder Erlebten wird die Anteilnahme entzogen und es wird zu etwas „Unerhörtem“. 

Um das Unerhörten zu erzählen und es dadurch aus seiner Verbannung zu lösen, braucht es Mut, und die (Wieder-)Einführung von Anteilnahme. Dies kann als handlungsleitend in der Biografiearbeit angesehen werden, denn, um mit den Worten der Schriftstellerin Christa Wolf zu sprechen „Ohne Anteilnahme kein Gedächtnis“.  Die Einbindung des (schließlich) Erzählten in ein gemeinsames, nicht einsames Gedächtnis geht mit einem Prozess des Erkundens einher. Unterstützung bei der Kontextualisierung in familiengeschichtliche und gesellschaftspolitische Dynamiken und beim Finden eines stimmigen Erzähl-Ausdrucks spielen dabei in der Begleitungsarbeit eine bedeutsame Rolle.

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17. März 2025
von Tom Levold
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 Archivierung und Analyse des Nachlasses von Helm Stierlin

 An der Medizinischen Klinik II / Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg ist im Projekt „Wissenschaftliche Archivierung und Analyse des Nachlasses von Helm Stierlin (1926-2021)“ eine humanmedizinische Doktorarbeit (Dr. med.) zu vergeben. 

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14. März 2025
von Tom Levold
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Der Erzählraum als Spiel-Raum

Evelyn Niel-Dolzer ist Psychologin und Psychotherapeutin (SF), arbeitet in freier Praxis und ist Lehrtherapeutin sowie Wissenschafts- und Forschungsbeauftragte an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Weiterentwicklung der systemtherapeutischen Theoriebildung, Phänomenologie und Systemtheorie, Intersubjektivität, Dialog zwischen gegenwärtigen psychoanalytischen und systemtherapeutischen Schulen und Konversationsanalyse.

Im Februar 2025 hat sie auf der Fachtagung „Systemische Biografiearbeit“ einen sehr hörens- und lesenswerten Vortrag gehalten, den sie dankenswerterweise dem systemagazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Die Lektüre kann ich nur empfehlen.

Evelyn Niel-Dolzer: Sich erzählen lassen. Der Erzählraum als Spiel-Raum

Sich erzählen lassen – diese drei einfachen Worte sprechen in schöner Doppeldeutigkeit zweierlei aus: ‚Ich lasse erzählen‘ – ich bin Zuhörer*in bei anderen und ‚Ich lasse mich erzählen‘ – ich spreche aus mir heraus zu anderen.

Erzählen (und Erzähltes) entfaltet sich so in einem Raum zwischen Menschen, die füreinander Sprechende und Hörende sind. Diesen Erzählraum zugleich offen und strukturiert zu gestalten, gehört zur Grundkompetenz Systemischer Biografiearbeit und ist in jeglichem Umgang mit Klient*innen von Bedeutung. In der Beweglichkeit, die dieser Spiel-Raum bietet, wird das Erkunden und Ausdrücken der eigenen Geschichte lebendig und zeigt transformatorische Wirkung.

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10. März 2025
von Tom Levold
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Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte

Christiane Florin (* 1968 in Troisdorf) ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Journalistin, die sich seit vielen Jahren mit kirchlichen und christlich-religiösen Themen aus einer kritischen Perspektive auseinandersetzt. In ihrem neuesten Buch erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der als Kind in einem kirchlichen Heim misshandelt und sexuell missbraucht wurde und bis heute um die Anerkennung dieser Taten durch die Kirche kämpft. Andreas Manteufel hat das Buch für systemagazin rezensiert.

Andreas Manteufel, Bonn:

„Einen Satz aber spuckt der Apparat nicht aus, einen Satz sagen Hierarchien nie: Die Kinder waren uns egal. Oder: Einer wie Heinz hat uns nicht interessiert. Stattdessen: Es waren die Verhältnisse. Der Zeitgeist. Die Heiligkeit der Kirche. Das Jugendamt.“ (S. 149)

Der Untertitel dieses Buches formuliert die positive Variante der Geschichte: Heinz (fiktiver Name) hat überlebt, er konnte, trotz ungünstigster Startbedingungen ins Leben, spät (aber nicht zu spät) eine eigene Familie gründen, Arbeit und Wohnraum finden und sich irgendwann tatsächlich seinen Traumata stellen. 

Die drängende und bis zuletzt unbeantwortete Frage lautet aber: Wie war das möglich, was dem Jungen in einem katholischen, von der Caritas geführten Heim in den 1960er Jahren an Demütigung, Gewalt und sexuellem Missbrauch widerfahren ist, von einem katholischen Präses und von einer Erzieherin. 

Es gibt auch eine Vorgeschichte: Suizid des Vaters, dann der Tod der Mutter, eine prekäre soziale Situation, in die die Großfamilie ohne Schuld geriet. Und es gibt die Geschichte der „offiziellen“ Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch, wie sie in einer Zeit ausgeübt wurden, in der sich antiautoritärer Aufbruch schon laut machte, aber längst nicht die Nischen althergebrachter „Versorgungssysteme“ – um ein zeitgemäßes Wort zu wählen – erreichte. 

Seit Jahren erfahren wir immer detailreicher von systematischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kirchen, Vereinen oder Heimen. Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen werden von den Tätern ausgenutzt, um die Opfer zu entwürdigen und zum Schweigen zu bringen. Die „Aufarbeitung“ erfolgt zu häufig in Form von Vertuschungsversuchen oder halbherzigen Zugeständnissen. Das Ausgrenzen und Missachten der Opfer wird dadurch fortgesetzt, wie es auch die Geschichte von Heinz illustriert. 

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6. März 2025
von Tom Levold
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Norbert Bischof wird 95!

Norbert Bischof (6.3.1930)

Heute feiert Norbert Bischof, Psychologe und Bindungsforscher, der mit dem „Zürcher Modell der sozialen Motivation“ eine kybernetische Motivationstheorie entwickelt hat, seinen 95. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Schon zu seinem 85. Geburtstag ist an dieser Stelle einiges zu seiner Person geschrieben worden, das ich heute nur wiederholen könnte. Auf Youtube gibt es vier Vorträge zur Bindungstheorie von ihm, in denen er seinen Ansatz Schritt für Schritt erläutert. Auch wenn die Vorträge in Englisch gehalten sind, sind sie gut verständlich und ausgesprochen lehrreich.

Die Bindungstheorie, begründet durch John Bowlby und Mary Ainsworth, hat seit den 1980er-Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungspsychologie und Pädagogik genommen. Norbert Bischof, ein deutscher Psychologe und Systemtheoretiker, hat diese Theorie nicht nur kritisch hinterfragt, sondern auch bedeutsam erweitert. Seine Arbeit wurde 2011 mit dem renommierten „Bowlby-Ainsworth Award“ gewürdigt, der seine einzigartigen Beiträge zur Erforschung und Theoriebildung der Eltern-Kind-Bindung honoriert. Diese Anerkennung ist bemerkenswert, da sie von denselben Forschungskreisen verliehen wurde, deren Arbeit Bischof kritisch betrachtete und weiterentwickelte. Die Videos des Preisträgers wurden von seiner Tochter Annette Bischof-Campbell ins Netz gestellt.

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24. Februar 2025
von Tom Levold
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Skelette im Keller und Schätze auf dem Dachboden (Rosmarie Welter-Enderlin – 24.2.1935-4.4.2010)

Heute würde Rosmarie Welter-Enderlin ihren 90. Geburtstag feiern. Vielen jungen Kolleginnen und Kollegen ist der Name kein Begriff mehr, wenn ich in Weiterbildungsseminaren danach frage. Das ist sehr bedauerlich. In den 1980er Jahren bis zu ihrem Tod 20210 war sie eine der bekanntesten Paar- und Familientherapeutinnen Europas, mit ausgezeichneten internationalen Kontakten, die mit ihren Tagungen in Zürich sehr viele Themen für das systemische Feld gesetzt hat, die ohne ihre Initiative wohl nicht in dieser Form und zu dieser Zeit in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt wären.

Eine ihrer zentralen Metaphern für die therapeutische Arbeit waren die Skelette im Keller und die Schätze auf dem Dachboden. In einem Text für die Zeitschrift „System Familie“ hat sie 1990 entlang eines Überblicks über die Geschichte der Familientherapie eine Position entwickelt, derzufolge das Erkennen aktueller Familienstrukturen und die Rekonstruktion von Familiengeschichten nicht in einem Gegensatz gesehen werden, sondern als mögliche Perspektiven, die zusammen genommen die Grundlage bilden für das kreative Entwickeln neuer Familiengeschichten. Der Text kann hier gelesen werden…