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systemisch – was fehlt? „Verfahrenstechnik“ – ein kaum entdecktes Fenster im systemischen Kalender

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Claus Riehle, Düren:

13adventEiner der bekanntesten Vertreter des systemischen Ansatzes und des systematischen Querdenkens ist sicherlich Heiz von Foerster. Durch ihn hat die Physik eine gewisse Prominenz in der Welt der Systemiker erfahren, ohne dort wirklich präsent zu sein. Woher kommt dieser Zugang, habe ich mich gefragt, denn bin selbst über die Denkwelt Physik zu Management, Organisation gekommen und schließlich in der Welt des systemischen Beratungsansatzes gelandet. Sicherlich hat es mit dem Abstraktionsvermögen, dem Denken in Strukturen und Wechselwirkungen zu tun, so ist zumindest meine (erste) Hypothese.

Eine weitere zusätzliche und wesentliche Rolle für meine Anschlussfähigkeit an die Systemik und Ihren Schwerpunkten „Kommunikation“ und „Organisation“ sehe ich in meiner verfahrenstechnischen Ausbildung (das ist die zweite Hypothese). Denn die Verfahrenstechnik ist die Kunst der „Stoffumwandlung“ und sie hat einen starken Bezug zur Chemie, historisch sicherlich einen Bezug zur Allchemie. Letzteres wird wohl in keinem wissenschaftlichen Standardlehrbuch erwähnt, da das Wort „Allchemie“ dort sicherlich ein „no go“ ist, was ich zumindest nachvollziehen kann. Was ich jedoch nicht nachvollziehen kann:  ein knapp 1000-seitiges Lehrbuch (in 11. Auflage) führt in seinem Titel „Chemische Verfahrenstechnik“ und es werden praktisch ausschließlich Anwendungen physikalischer Prinzipien (und der entsprechend realisierten Apparate) besprochen: Strömen, Fördern, Trennen, Vereinen, Übertragen in Kombination mit unterschiedlichen Aggregatszuständen (fest, flüssig, gasförmig) besprochen.

Claus Riehle (Foto: www.goldstrom-akademie.de)

Claus Riehle
(Foto: www.goldstrom-akademie.de)

Dieser Widerspruch in der Bezeichnung sei hier mal dahingestellt. Interessanter finde ich, dass all die genannten Begriffe für mich anschlussfähig sind an die die systemischen Arbeitsfelder, sei es nun Organisation, Team oder Individuum, oder sei es die Organisationspsyche oder die Individualpsyche. Und was auf der technischen Seite die physikalischen Zustände sind, entsprechen auf der Seite der sozialen Systeme „die emotionalen Zustände“. Genauer gesagt: die physikalisch-chemisch-biologisch-codierten Fühl-Denk-Zustände von lebenden Wesen; das sind in erster Linie Menschen, jedoch auch Organisationen, die u.a. Menschen als Sensoren für ihren Zustand haben und auch dafür benutzen.

Und wenn klassische „Verfahrenstechnik“ die Kunst der Umwandlung auf der materiellen Ebene bezeichnet, dann befasst sich die Systemik (im Sinne einer Kybernetik 2. Ordnung) mit den Umwandlungsprozessen auf der sozialen und psychischen Ebene. Während einige Denkfiguren der Physik in die Kybernetik erster und zweiter Ordnung Eingang gefunden haben (weil einige spezifische Menschen mit Physikerbrille ihr Verständnis in anderen Bereichen verortet haben, siehe HvF), sind die Prinzipien der Verfahrenstechnik nach meiner Einschätzung noch nicht wirksam in der Welt der Systemiker verortet (in der Kybernetik erster Ordnung hat sie z.B. das Prozessdenken und die Prozessautomatisierung mit entscheidend geprägt). Interessanter Weise gab es offenbar eine nachhaltige, weil folgenreiche Inspiration durch die „Allchemie“ auf der Ebene der Psyche, denn C.G. Jung stellte seine „Analytische Psychologie“ in den Zusammenhang von „psychischen Strukturen“ und „stofflicher Verwandlung“.

Wenn ich meine eigene Erfahrungswelt zugrunde lege – was sonst kann ich Sinnvolles tun – dann stellt das Denken in „Fließbildern“ (typisch für Verfahrenstechnik) und „wechsel-wirkenden Strukturen“ (typisch für Physik) eine riesige Ressource für systemisches Arbeiten dar. Ganz im Sinne eines noch nicht entdeckten Bodenschatzes bzw. nicht angezapfter Ölquelle, die zur einer erheblichen Veränderung in der Kommunikation und damit insbesondere der Akzeptanz des systemischen Ansatzes in breiten unternehmerischen Feldern führen könnte – so habe ich es in den letzten zwölf Jahren erlebt.  Mein Anliegen und Bestreben ist es daher, dieses „Erz“ aufzuschließen bzw. so aufzubereiten, dass es individuell und sozial nützlich angewendet werden kann. „Aufbereitungstechnik“ ist übrigens auch ein feststehender Begriff aus der Verfahrenstechnik, der sich z.B. auch gut auf Organisationsentwicklung übertragen lässt.

Zum Abschluss wiederhole ich die Aufzählung von oben fast identisch und bitte Sie, die Begriffe ganz aus ihrer Sicht des Beraters oder der Beraterin von lebenden Systemen zu lesen: Strömen, Fördern, Trennen, Vereinen, Übertragen in Kombination mit unterschiedlichen (System)Zuständen. Um diese „Grundoperationen“ geht es doch auf den Ebenen Mensch und Familie bzw. Mitarbeiter, Team und Unternehmen ständig. Und weil da eben Verben stehen, stehen die „Verfahren“ im Vordergrund und nicht Objekte, denn die Wahl der Verfahren und der Abläufe, d.h. die konkreten Bezüge in Raum und Zeit, bestimmen über die Resultate. Gerade „General Manager“ sind häufig auf Resultate fixiert, nicht auf die Prozesse davor, wodurch Steuerungskompetenz – wie zu (ver)fahren ist, wenn Etwas wohin will oder wohin soll – verschenkt wird bzw. verlorengeht.

Zwar hat Weick die Verfahrenstechnik bestimmt nicht im Kopf gehabt, als er folgenden Satz schrieb: „Wenn  Organisationsforscher im Gebrauch von Substantiven geizig, im Gebrauch von Verben freigiebig und im Gebrauch von Gerundien verschwenderisch werden würden, dann würde Prozessen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, und wir würden mehr darüber erfahren, wie man sie begreifen und lenken kann.“ (Weick 1995, S. 67), dennoch passt es aus meiner Sicht sehr gut, weil er die Bedeutung des Operativen, die Art und Weise wie vorgegangen wird, wie sozusagen das Dazwischen prozessiert wird, weil er das besonders heraushebt. 

Aus all diesen Gründen ist mein Blickwinkel auf Verfahrenstechnik im Laufe der Jahre allgemeiner geworden, denn für mich bezeichnet „Verfahrenstechnik“ inzwischen eine prozessorientierte Kunst, die unter Zielausrichtung angewandt wird – denn so arbeite ich auch als systemischer Berater.

Eine gute Zeit wünsche ich allen!

Claus Riehle

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