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systemisch – was fehlt? Die Frage nach dem Stellenwert von Gefühlen in der systemischen Theorie und Praxis

| 6 Kommentare

Luc Ciompi, Belmont-sur-Lausanne:

12adventAls Beitrag zur Frage „systemisch – was fehlt?“ möchte ich auf eine Lücke hinweisen, mit der ich selbst mich schon seit vielen Jahren herumschlage: Was genau ist der Stellenwert von Gefühlen in der systemischen Theorie und Praxis? Oder, etwas spezifischer gefragt: Wie lässt sich mein Ansatz der Affektlogik (die Lehre vom obligaten Zusammenwirken von Emotion und Kognition) mit der klassischen Systemtheorie vereinen?

Luc Ciompi (Foto: T. Levold)

Luc Ciompi
(Foto: T. Levold)

Natürlich habe ich selbst dazu schon allerhand Ideen entwickelt, auf die ich hier indes nicht weiter eingehen will. Nur einen einzigen, dafür m. E. ganz grundlegenden Gedanken möchte ich dem geneigten Adventsleser zum Weiterdenken gerne vorlegen: In psychosozialen Systemen aller Art sind Emotionen das dynamische Element. Das heisst, sie liefern die Energie (oder den Antrieb, das Benzin), damit überhaupt irgend etwas läuft (zB: sich etwas verändert). Kognitionen (= letztlich sensorische Unterscheidungen, in meiner Sicht) dagegen liefern das strukturelle, statische oder formale Element. Oder, in einer etwas mechanistischen Metapher: Emotionen sind der (prinzipiell immer wieder gleiche) Treibstoff, Kognitionen die (zunehmend ausgeklügelten) Bauelemente des Motors; nur dank dem sinnvollen Zusammenwirken beider bewegt sich das Automobil (bzw. der einzelne Mensch, die Familie, die Klein- wie Grossgruppe).

Herzlichen Gruß und schöne Weihnachten

Luc Ciompi

6 Kommentare

  1. Rolf Todesco sagt:

    ich frage mich auch, auf welche „systemische“ Theorie ich diesen Beitrag beziehen soll, aber noch mehr frage ich mich (vielleicht weil ich die angesprochene Affekttheorie nicht kenne), inwiefern hier Gefühl für das englische emotion oder für das englische feeling steht.
    Kognition lese ich – wenn ich psychologisch lese – als Fremdwort für Wahrnehmung im Sinne von sinnlicher Erkenntnis. Die damit angesprochene Differenz wäre Motivation nicht Emotion – aber eben: in welcher Theorie.

    Was fehlt? Mir fehlen die Voraussetzungen, aber das fehlt natürlich mir, nicht der systemischen Theorie, welche immer auch gemeint sein mag.

  2. Matthias Ochs sagt:

    Lieber Herr Ciompi,
    auf welche Systemtheorie rekurrieren Sie, wenn Sie von „klassischer Systemtheorie“ sprechen? Wenn Sie auf die Synergetik als Theorie dynamischer Systeme rekurrieren, dann wären Emotionen der Kontrollparameter für Veränderungsprozesse? und Kognitionen Ordnungsparameter?
    Lieber Herr Friczewski,
    die soziologische Systemtheorie sensu Luhmann kann als Hybrid verstanden werden aus dem Struktur-/Systemfunktionalimus von Talcott Parsons und dem Autopoiese-Ansatz von Maturana und Varela. Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Systemtheorien besteht m.E. eher zwischen den Theorien selbstreferentieller Systeme, wie eben der soziologischen Systemtheorie, und den Theorien dynamischer Systeme, wie der Synergetik, der Theorie dissipativer Strukturen oder der Choastheorie…
    Beste Grüße
    Matthias Ochs

    • Lieber Herr Ochs,
      hat denn die Theorie dissipativer Strukturen keinen Platz in der Theorie selbstreferenzieller Systeme? Humberto Maturana sieht das jedenfalls anders (vgl. z.B. das Gespräch mit K. Ludewig; finden Sie im Internet) und ich folge ihm da.
      Offensichtlich ist das, was ich sagen will, bei Ihnen nicht angekommen. Sind ja auch nur kurze Andeutungen. Vielleicht sprechen wir noch mal darüber, wenn Sie meinen angekündigten Beitrag gelesen haben.

      • Lieber Herr Ochs,

        ich bin neugierig und hake einfach mal nach. Mich interessiert, ob Sie (andere Leser/innen eingeschlossen, auch Herr Ciompi, Herr Levold, Herr Todesco) meinen oben angekündigten Beitrag vom 21. 12. („Die Muskeln des Beobachters“) gelesen haben und wenn ja, ob Sie mit meiner Argumentation etwas anfangen können.
        http://systemagazin.com/systemisch-fehlt-die-muskeln-des-beobachters/

        Mir ist bewusst, dass diese Fragestellung und Sichtweise für Viele (noch?) ungewohnt ist (mal abgesehen davon, dass ich vieles weglassen musste).
        Ein Beitrag, der die Unterkühlung der Systemtheorie beklagt, hat es da leichter. Er bleibt eher an der Oberfläche des Systemtheorie-Diskurses, findet aber um so eher Beachtung.

        • Matthias Ochs sagt:

          Lieber Herr Friczewski,
          Leider fehlt mir aktuell die Zeit für eine ausführlichere Antwort; in meiner Taxonomie unterscheide ich auf der einen Seite die soziologische Systemtheorie Luhmanns, die eine Kombination ist aus dem System-/Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons und der Autopiese Theorie von Maturana und Varela, und verstehe diese als eine Theorie selbstreferentieller Systeme, und auf der anderen Seite Theorien dynamischer Systeme, wiw Synergetik, Theorie dissipativer Strukturen und Chaostheorie… Aber vielleicht ist diese Systemaisierung gar nicht so sinnvoll und zieführend… Da muss ich mir nochmals Gedanken drüber machen…
          Beste Grüße
          M. Ochs

  3. Ich stimme Ihnen zu, Herr Ciompi, wenn Sie in Emotionen den „prinzipiell immer wieder gleichen Treibstoff“ lebender Systeme erkennen. Für mich speist sich dieser Treibstoff letzten Endes aus dem, was in der Physik „zunehmende Entropie“ heißt (zweiter Satz der Thermodynamik). Sobald er dissipative Strukturen antreibt (z. B. Wirbelstürme, Galaxien,… und dann eben auch lebende Systeme), zeigt sich der Treibstoff – aus Sicht eines Beobachters – als vielgestaltig und hoch intelligent.
    So gesehen ist KOGNITION für mich: in Strukturmustern festgehaltenes, intelligentes Emotionieren, sozusagen das Gedächtnis des Systems.
    Und EMOTIONIEREN ist dann ein Oszillieren, das die gegebenen Muster variiert, indem es sich allen Irritationen quasi tänzerisch-mimetisch anschmiegt und sich so kreativ an neue, passende Anschlussmuster herantastet – um sich dann wieder in kognitiven Strukturen niederzuschlagen.

    Das Konzept der Affektlogik ist meiner Ansicht nach ein eminent wichtiger Beitrag zur Systemtheorie, dessen Potential besser genutzt werden könnte. Dazu bräuchte es meiner Ansicht nach eine konsistente Systemtheorie, die der Diskurs der Systemtheorie bisher aber m. E. noch nicht hervorgebracht hat. Im Gegenteil: er zerfällt in zwei scheinbar unvereinbare, quasi spiegelbildlich zueinander stehende Sichtweisen, die mit den Namen Maturana bzw. Luhmann verbunden sind. Dass diese Inkonsistenz kaum auffällt, liegt meines Erachtens daran, dass der systemische Diskurs zum mindesten im deutschsprachigen Raum im Moment fast ganz von der Luhmann’schen Perspektive bestimmt und Maturana fast schon wie ein toter Hund behandelt wird.
    Wie man das Muster, das diese beiden Sichtweisen verbindet, in den Blick bekommen könnte, dazu habe ich einen Text geschrieben, der wohl demnächst hier in der „Systemisch – was fehlt?“–Reihe unter dem Titel „Die Muskeln des Beobachters“ erscheinen wird.

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