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Rudolf Klein: Coming Out

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Ich muss gestehen: Als Kind habe ich extrem wenig bis gar nicht gelesen. Mich hat einfach nichts interessiert. Weder Karl May noch Lederstrumpf noch irgendwelche andere sogenannte Kinder- und Jugendliteratur.
Es war mir alles zu langweilig. In seiner elenden Langeweile war das Lesen nur noch durch Werkeln oder Basteln zu toppen. (Eine echte Tortur für jemanden, dem man heutzutage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose verpassen würde, um ihn dann in irgendwelche pädagogischen Programme zu stecken, mit Medikamenten zu beruhigen und auf diese Weise vollends dem Vergammeln zu überlassen.)
Mich hat nur eines interessiert: Herumrennen. Am liebsten hinter einem Ball her. Ging aber auch ohne. Also: Fußball, Leichtathletik. Egal. Die Hauptsache: Rennen. Und zwar schnell. Auch das Jonglieren mit einem Ball: rechter Fuß, linker Fuß, Wechsel der Füße, Kopf, Brust, Knie, Fuß und wieder von vorne. Endlos.
Oder: Innenrist, Außenrist, linker Fuß, rechter Fuß. Immer gegen die Wand. Ich brauchte keine Gegner. Ging auch so. Besser war es aber mit den anderen Kindern. Die waren insgesamt langsamer, weniger ballgewandt, beherrschten das Dribbeln einfach nicht. Wen wundert’s, die lasen halt.
Als ich dann während des Studiums irgendwann mit dem Lesen anfing und nach dem Studium mit systemischen Ideen Kontakt bekam, änderte sich das gewaltig. Aber dennoch: ich verstand manche Bücher passagenweise einfach nicht. „Paradoxon und Gegenparadoxon“, „Ökologie des Geistes“, „Geist und Natur“, „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“, „Soziale Systeme“, um nur fünf davon zu nennen.
Von diesen für mich unverständlichen Textpassagen ging aber etwas anderes aus. Ich konnte es kognitiv nicht erfassen. Es war körperlich. So ein Gefühl wie: da kribbelt es und lässt mich nicht los. Da steckt etwas drin, was mich auf irgendeine Weise körperlich berührt, neugierig macht, fast elektrisiert. Ich verstand es nicht. Noch nicht.
Da war es dann sehr hilfreich, dass ich stundenlang jonglieren konnte, endloses Laufen gewöhnt war, ausdauernd gleiche Bewegungen einübte, stupide gegen die Wand prellte.
So verfuhr ich dann auch mit Texten. Ich las sie immer wieder. Markierte Textstellen und notierte am Rand. Und las sie erneut von vorne. Wieder und wieder. Ich glaubte zwischenzeitlich, sie verstanden zu haben, um erneut daran zu zweifeln. Und sie dann wieder zu lesen. Im Garten, im Wald, vor dem Schlafen, in Restaurants und manchmal, ja ich gestehe auch das: beim Autofahren. Dort also, wo andere Sex haben. Und dann, irgendwann war es plötzlich da: Der Text erschien mir vollkommen klar und luzide.
Was ich vorher auch nicht ansatzweise verstanden hatte, war auf einmal in Gänze vorhanden. Und ich konnte die Gedanken sogar mit anderen Ideen, die ich mir schon früher erarbeitet hatte, verknüpfen. Mit  Leichtigkeit und mit der Möglichkeit, sogar eigene Fragestellungen zu bearbeiten, sie neu zu sehen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Das war und ist bis heute beglückend und hört hoffentlich nie auf. Und manchmal schreibe ich sogar selber Texte.
So ist das wohl bei manchen Männern, die auf Anhieb fast nichts verstehen, dafür aber rennen können.

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