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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Von Liebe zu Hass

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In einer Welt, die an den rational entscheidenden Menschen glaubt, wäre mein Metier – die Therapie von Paaren und die Beratung von Arbeitsteams – Unsinn. Doch zum Glück gibt es die moderne Hirnforschung. Sie zeigt, wie Vernunft und Verstand in die emotionale Natur des Menschen eingebettet sind und wie sinnlos die Forderung ist, menschliches Verhalten nur sachlich zu begründen.
Der Ausruf «Sei nicht so emotional!», den ich in privaten Beziehungen und in der Arbeitswelt täglich höre, wirkt hilflos banal. Aber er zeitigt oft strafende Wirkung, besonders bei Frauen. Denn die Entwicklung unseres Gehirns wird nachhaltig geprägt von affektiver und formaler Sprache, die uns sogenannt männliche und weibliche Rollen vorschreibt.
Was mich bewegt, ist, wenn Liebe in Hass kippt: Ein Partner in einer Unternehmung, nicht mehr ganz jung, verliert plötzlich seine Kooperationsbereitschaft und verweigert sich. Niemand weiss, warum. Er kommuniziert nur noch über Schuldzuweisungen und hasserfüllte Mails. Die Versuche seiner Umgebung, sein bizarres Verhalten zu verstehen, enden stets in linearen Fragen nach möglichen Ursachen. Frühkindliche Störungen und private Probleme werden vermutet, die zu emotionalem Chaos geführt haben könnten. Schon möglich, denke ich. Aber affektive Kipp-Phänomene sind vernünftig und ursächlich nicht zu fassen, so schmerzlich das ist. Le cœur a des raisons que la raison ne connaît pas.
Ein ähnliches Kipp-Phänomen zeigt sich, wenn eine Ehepartnerin plötzlich davonläuft. «Als ich am Abend nach Hause kam, war meine Frau weg, mitsamt den Kindern. Ich bin schier wahnsinnig geworden, weil ich ihr Verhalten überhaupt nicht verstehe. Wir hatten es doch gut miteinander», berichtet ihr Mann, der sie über Interpol suchte.
Später lerne ich die Frau kennen. Ausziehen sei eine Sache des Überlebens gewesen, erzählt sie mir: «Ich habe schon vor Jahren Abschied genommen, ich bin fast erstickt in dieser Ehe». Warum sie gerade damals und so radikal den Bruch vollzogen hat, weiss sie nicht. Vielleicht hat sie geahnt, dass in ihrer Ablehnung noch ein Funken Liebe war und ist davor geflohen. Kipp-Phänomen!
Dennoch meine ich, ganz altmodisch, schlechte Gefühle seien kein Grund für schlechtes Benehmen, selbst wenn die Gefühle einen Menschen in negative Trance versetzen. Dass viele von uns keine optimalen Bedingungen angetroffen haben, als sie geboren wurden, und die Welt unseren Wünschen oft nicht entsprochen hat, ist Grund für Trauer, nicht für Zerstörung. Aber das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

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