Peter Ebel, Berlin:
Am Donnerstag, 9. November 1989, am 13. August und 15. Juni 1961.
Am 9. November 1989 referierte Günter Schabowski, Mitglied im Zentralkomitee der SED, vor Journalist*innen im Presseamt beim Ministerrat, dass man sich entschlossen habe, „heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Der Italiener Riccardo Ehrman hatte nach dem von der DDR-Führung ausgearbeiteten neuen DDR Reisegesetz-Entwurf gefragt, weitere Journalistinnen fragten, ab wann die neue Regelung in Kraft trete. Schabowski sagte: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Seit dem 13. August 1961 war West-Berlin eingemauert. Zwei Monate zuvor, am 15. Juni 1961, hatte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, vor Journalist*innen im Haus der Ministerien in Berlin gesagt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“.
Am Donnerstag, 9. November 1989 hatten „wir“ Spätdienst im Westen.
Nach Kriegsdienstverweigerung, Zivildienstpflicht, sozialwissenschaftlichem Studium mit den Schwerpunkten „Kritische Psychologie“ und „Klinische Psychologie“ , einem Studienaufenthalt in Italien, war ich für den psychosozialen Dienst der Kinder- und Jugendlichendialyse einer westdeutschen Klinik verantwortlich. Eine außerhalb der Regelleistung von Spenden finanzierte Stelle mit reduziertem Stundenkontingent. Eine 15-jährige chronisch nierenkranke Patientin hatte gemeinsam mit ihrer Familie ihr Heimatdorf in einem Mitgliedstaat des Warschauer Paktes in Süd-Ost-Europa verlassen, um zu überleben. Sie wartete auf eine Nierenspende, organisiert über Eurotransplant in Leiden, Holland. An diesem Donnerstagabend hatte ich zusätzlich Spätdienst in einer stationären Einrichtung der Jugendsozialarbeit. Die Klientel waren Jugendliche aus Ost-Europa, ausgereist mit ihren Familien deutscher Herkunft aus der Sowjetunion und Polen, die sich auf ihre Integration in das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland vorbereiteten. Ein Kontext vielfältiger Biographien junger Menschen, sie wirkten hoch belastet und hatten sich „trotz allem“ ihre Freundschaft zur Welt offenbar bewahrt.
Am Donnerstag, 9. November 1989 hatte Oberstleutnant Jäger Spätdienst im Osten.
Wir Kolleg*innen hörten aus dem Nebenraum unseres Dienstzimmers bruchstückhaft: „Die Mauer ist offen!“ Einige Jugendliche des Hauses kommentierten jubelnd die Ereignisse in Berlin, die Hans-Joachim Friedrichs in den TAGESTHEMEN erklärt hatte. DDR-Bürger*innen standen an der Staatsgrenze und der Stress der Grenzsoldaten war derart groß geworden, dass Oberstleutnant Harald Jäger an der Bornholmer Brücke um etwa 23.30 Uhr als Erster nachgab und die Menschen an der Grenze in den Westen strömen ließ. Was oft unerwähnt bleibt: Zwischen 1949 und 1989 übersiedelten ca. 550.000 Menschen aus der Bundesrepublik in die DDR, 330.000 blieben (Stöver 2019). Wir sahen Fernsehbilder aus West-Berliner Perspektive, sahen Menschen, die sich freuten, sich umarmten, weinten, Menschen vor und auf der Mauer, auf der Bornholmer Brücke, auf dem Kurfürstendamm. Die jugendlichen Beobachter*innen fragten berührt: „Was passiert JETZT?“
Zehn Jahre später und am 9. November 1989.
Während eines Selbsterfahrungsseminars, das von mir etwa 10 Jahre später als inzwischen Berliner Lehrtherapeut angeboten wurde, erzählten Teilnehmer*innen, dass sie an diesem Abend im „Kino International“, in der Hauptstadt der DDR, den DEFA-Film „Coming Out“ gesehen hatten. Eine Liebesgeschichte – eine Premiere! Regie: Heiner Carow, mit Dagmar Manzel und Matthias Freihof. Ein Film, zu dem der international anerkannte Regisseur in Vorbereitung der Dreharbeiten drei Gutachten erstellen ließ. DDR Wissenschaftler hatten die Filminhalte als ungefährlich bewertet. Die SED-Staatsführung hatte den Film zur Erstaufführung frei gegeben. Die Teilnehmer*innen des Seminars beschrieben den hohen Zeitaufwand, den sie für das Warten auf den Erwerb ihrer Premierenkarte investiert hatten. „Wir“ wussten bei Maueröffnung persönlich nichts voneinander. Sie sahen „Coming Out“, wir die „Mauer“, die Staatsgrenze der DDR, die in „Reichweite“ ihrer Kinosessel „geöffnet“ stand.
Drei Monate später – und 30 Jahre später.
Auf der Berlinale im Februar 1990 wurde der Film ausgezeichnet, am 09.11.2019 wiederholt vom RBB-Fernsehen gezeigt, ebenso wie die Dokumentationen zur „Maueröffnung“ von vor 30 Jahren.
Vor dem 9. November.
Wenige Wochen vor dem 9. November 1989 waren wir mit der S-Bahn von Bahnhof Zoologischer Garten in West-Berlin in die Hauptstadt der DDR gereist, bis Bahnhof Friedrichstraße. In der Volksbuchhandlung am Alexanderplatz hatte ich von 25,– DM Mindestumtausch drei Bücher gekauft. Am Abend sah ich zum ersten Mal den grell beleuchteten antifaschistischen Schutzwall aus DDR-Perspektive in Berlin-Mitte, mit Blick auf das weiter entfernte Brandenburger Tor an der Staatsgrenze. Beschildert (ungefähr) mit dem Hinweis: Zugang nur für Angehörige der NVA – Nationale Volksarmee. Ungefähr auf der Höhe des heute wieder erbauten Hotel Adlon. Die beleuchteten Straßen in der Hauptstadt wirkten „gedimmt“, West-Berlin schien hell. Wir, zwei Ehepaare, eins aus dem Westen und eins aus dem Osten, erzählten uns (leise), dass im Jahr zuvor prominente Dissident*innen aus der DDR ausgewiesen worden waren: Freya Klier und Stephan Krawczyk, Bärbel Bohley, Vera Wollenberger u.a. Der Anlass war, dass sie mit anderen Oppositionellen und eigenen Transparenten wie „Gegen Berufsverbote in der DDR“ und „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ an der „Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ teilnehmen wollten, teilgenommen hatten. Es roch nach Braunkohle. Im Centrum Warenhaus am Alexanderplatz wurden in den Auslagen Schaufeln und anderes Gerät für die gegenwärtige Heizsaison angeboten. Der Kauf von Kinderoberbekleidung war für Staatsangehörige aus dem kapitalistischen Ausland nicht erlaubt. Eine der Hauptverkehrsstraßen in Berlin-Mitte war eine Baustelle: hohes Fahrzeugaufkommen: „Trabant und Wartburg verstopften“ die Straßen, auch ein VW-Golf mit DDR-Hauptstadt-Kennzeichen. Ein Rettungswagen war im Einsatz. In einer überfüllten „HO-Gaststätte“ machten wir eine Pause vom Stadtspaziergang, an den Garderoben hingen Mäntel von NVA-Soldaten, Angehörige eines renommierten Regiments, wie wir hörten, kaserniert in der Hauptstadt der DDR. Vor 24 Uhr mussten wir wieder ausreisen. Am Bahnhof Friedrichstraße verabschiedeten wir uns vor dem „Tränenpalast“. Das andere Paar musste bleiben, wir gingen auf den Bahnsteig, warteten vor der durchgezogenen weißen Linie auf den S-Bahn Zug Richtung Westen. Links und rechts patrouillierten NVA Soldaten auf Stahlbrücken, bewaffnet mit Maschinenpistolen, begleitet von deutschen Schäferhunden.
Nach West-Berlin waren wir mit dem Auto gereist, im Transit, Grenzübergangsstelle Helmstedt – Marienborn, Höchstgeschwindigkeit 100 km pro Stunde, ohne Halt, ohne Pausen, mit Transitvisum. Der gültige Reisepass erhielt einen von einem Grenzsoldaten gestempelten farbigen Sichtvermerk. Bei der Rückreise, an der Grenzübergangsstelle Dreilinden – Drewitz, lagen auf dem Rücksitz unseres Fahrzeuges unverpackt drei „Marx Engels“ Bücher: Band 3, 13 und 26.3, dunkelblauer Einband, „goldene“ Schrift. Die Kontrolle an der Grenze schien diesmal besonders schnell zu verlaufen, ein Grenzsoldat „winkte uns durch“.
Rogers und Leontjew, Bateson, Gorbatschow und Reagan.
„Das Private ist politisch!?“ In den 80er Jahren studierten wir, Freunde und Kommiliton*innen politisch, ich war parteilos und parteilich. An der Uni überwiegend Seminare in „Klinische Psychologie“ und „Kritische Psychologie“ belegt, lernte ich die von Carl Rogers entwickelte Gesprächspsychotherapie kennen, die Humanistische Familientherapie von Virginia Satir, das „Mailänder Modell“ und Arbeiten von Leontjew: „Tätigkeit und Bewusstsein in der Kritischen Psychologie“. Ein handschriftlicher Kassenbeleg mit der Kennzeichnung „H 0987024“ und dem Aufdruck „Fremde Währung“ dokumentiert meinen Kauf des Buches „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ von Alexej Leontjew. Erworben in der Volksbuchhandlung in Berlin-Mitte, DDR, am 12.04.1986, bezahlt in DM, „Fremde Währung“. Im Herbst 1986 war Carl Rogers in Moskau. Gründer des „Center for Studies of the Person“. Aus den USA kommend, aus La Jolla in San Diego, 788 km von Palo Alto entfernt. Gregory Bateson hatte mal über beide Systeme gesagt: … „Kommunismus wie Kapitalismus, haben sich ihre eigene „Hölle“ geschaffen. Beide schleppen sich mehr schlecht als recht dahin, aber keines berücksichtigt das Gesamtnetz der menschlichen Beziehungen“ (Ernst 1991, S. 32). Der Direktor des Instituts für Pädagogische Psycholgie der Lomonossow Universität hatte Rogers zu Vorträgen, Diskussionen und wohl auch einigen Workshops eingeladen. Frohburg (2002) schreibt, dass diese Einladung Michail Gorbatschow zu verdanken sei, der sich in diesen Tagen mit Ronald Reagan zu einem Gipfeltreffen in der Hauptstadt von Island, in Reykjavik aufhielt.
Am 12. Juni 1987 war der amerikanische Präsident Ronald Reagen zur 750-Jahr-Feier zu Besuch in West-Berlin. In seiner Rede vor dem Brandenburger Tor forderte Reagan: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“ Die West-Berliner Verwaltung hatte 25.000 geladene Teilnehmer*innen organisiert. Eine Kulisse, die die amerikanische Seite zuvor gefordert hatte. Wohl mehr als 50.000 Bürger*innen zogen bereits am Tag vor Reagan’s Rede durch West-Berlin und demonstrierten gegen ihn, gegen seine Politik. Der Protest schlug in Krawall um, tagelange Straßenschlachten folgten. In Kreuzberg, in „SO 36“ wurden 60.000 Einwohner*innen ihrer Bewegungsfreiheit beraubt, das Quartier wurde für vier Stunden abgeriegelt. Die autonome Szene sollte handlungsunfähig gemacht werden.
- Juni 1989: Tian‘ anmen Platz in Peking, China.
Am Sonntagnachmittag wartete ich an der Grenübergangsstelle in Dreilinden auf den Transit. Das Autoradio war an. Der SFB – Sender Freies Berlin – sendete: Der Tian’anmen-Platz in Peking war von einer ursprünglich studentischen Demokratiebewegung besetzt worden, Gorbatschow galt als Hoffnungsträger. Das chinesische Militär schlug die Proteste der Bevölkerung nieder. Der Versuch einer friedlichen Reform war gescheitert.
Revolution und soziale Bewegungen, Forderungen.
Die 89er Revolution in der DDR verlief friedlich. In der Bundesrepublik hatten in den 80er Jahren Politikwissenschaftler in Teilen der Bevölkerung Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteligung und Unbehagen an der Macht der Parteien diagnostiziert. Neue soziale Bewegungen waren entstanden und die Grünen gegründet worden, Bürger*innen protestierten. In Gorleben war die „Republik Freies Wendland“ ausgerufen worden.
Seit 1993 wohne und arbeite ich in Berlin, lebe in dieser europäischen Metropole, Hauptstadt des „wiedervereinigten“ Deutschland, ein Land aus „BRD und angeschlossener DDR“?! Mit Systembedingungen der BRD. Die vielfältigen Beschreibungen von Berliner*innen, von Zugezogenen aus dem gesamten Land, aus Ländern dieser Welt, die Narrative sind so unterschiedlich wie die jeweiligen privaten und politischen Positionen hierzu.
Mit und in diesen hier skizzierten Geschichten fühle ich mich verbunden mit Menschen aus und in Ost und West. In den vergangenen Jahrzehnten nach Maueröffnung habe ich in transdisziplinären und multiprofessionellen Kontexten als Supervisor, Psychotherapeut, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin und als Lehrender an Instituten für Systemische Weiterbildungen gearbeitet. Manche Biografien haben mich empathisch besonders „berührt“ und wirken auch heute noch: Lehrer*innen, in der DDR ausgebildet und Jahrzehnte vor Maueröffnung unterrichtend tätig gewesen, „mussten“ ihre Berufsidentität als Pädagog*innen als „in Frage gestellt“ erleben. Student*innen an der TU, engagiert gewesen in der DDR Friedensbewegung, waren mitunter jahrelang von ihren Lebenspartnerinnen als inoffizielle Mitarbeiter*innen des MfS – Ministerium für Staatssicherheit der DDR, bespitzelt worden. Töchter und Söhne berichteten in systemischen Selbsterfahrungsseminaren von ihren Eltern, die die Maueröffnung wünschten und ein „Nicht-Können und Nicht – Wollen“ im für sie neuen System erlebten. Studierende in Ausbildungssupervision, die Repressalien befürchteten, wenn sie zum „öffnenden“ Dialog angeregt werden „sollten“. Alleinerziehende Mütter, die erstmalig mit dem Drogenkonsum ihrer jugendlichen Kinder konfrontiert wurden und das BRD-System nicht gewollt hatten.
Politische Systeme werden konstruiert, biologische Systeme erzeugen sich selbst. Macht wird gegeben, genommen, Wirklichkeitskonstruktionen können „prinzipiell“ dekonstruiert werden.
Der 35. Deutsche Psychotherapeutentag ruft mit seiner Resolution vom 16. November 2019 zum Klimaschutz, gegen Populismus und gegen Rassismus auf; Wertschätzung für die Vielfalt von Menschen. Im Haus Friedrichstraße 235 in Berlin-Kreuzberg ist auf einer Gedenktafel für Hedwig Dohm zu lesen: „Menschenrechte haben kein Geschlecht“ – keine Hautfarbe – und Lebensweisen von Menschen sind vielfältig, die Freundschaft zur Welt ist zu (be-)achten.
Einen schönen Advent 2019!
Ernst, H. (1991): Gregory Bateson. In: Der innere Kosmos: Gespräche mit Psychologen. Weinheim/Basel (Beltz)
Frohburg, I. (2002): Randnotizen zum Aufenthalt von Carl Rogers in Moskau. In: Organ der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, Heft 3 2002. Schwerpunktthema Carl Rogers. Köln.
Maubach, F. (2019): Jenseits von 89. In: Zeitgeschichte. Epochen, Menschen, Ideen. Nr. 5/2019.
Schneider, E. (1975): Die DDR. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Bonn (Verlag BONN AKTUELL).
Stöver, Bernd (2019): Go East. In Zeitgeschichte. Epochen, Menschen, Ideen. Nr. 5/2019.
Werkentin, Falco (1998): Recht und Justiz im SED-Staat. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn. Roco-Druck-GmbH. Wolfenbüttel.
Wow! Ich habe genau neben Freya Klier und Stefan Krawczyck gewohnt. Im Haus daneben. Das war schlimm, wie zerfleddert deren Wohnung aussah. Von heute auf morgen. Oderberger Straße.
Berührte Grüsse
Katrin