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systemagazin Adventskalender 2025 – 01 Andreas Brennecke

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POLIKLINIK PRAG

Da ist alles umsonst. Kostet nichts mehr.
Nur die krank sind. Kein Reichenhaus, kein Armenhaus,
nur ein Krankenhaus für die Kranken, kostet nichts,
alles umsonst, kein Vortritt und keine Privilegien,
da sind alle krank und klopfen an wie ans Paradies
und taumeln wie vorm Paradies und atmen kaum.

(Ingeborg Bachmann, 1965)

Die späte Ingeborg Bachmann, kündet wie eine Kassandra der Moderne. Die große Zerrissene in einer zerrissenen Welt, keine bessere Prophetin hätte ich mir im Hier und Jetzt wünschen können, kein besseres Vermächtnis als dieses Gedicht als Abgesang auf eine womöglich zerfallende Welt. Von Alkoholismus und Tablettensucht gezeichnet stirbt sie, zerreißt ihr auf Spannung gehaltener Lebensfaden, zerfällt auch sie einsam und still, schweigend, schreibend indes, in ihrer Wohnung in Rom. Niemand ahnt damals, wer dort bald der Welt abhanden gekommen sein wird.

Beobachten wir heute die Welt, scheint Ingeborg Bachmann mit der ihren nicht danebengelegen zu haben. Kriege, gefährdete Demokratien, widerwärtige rechte Umtriebe, Antisemitismus und das sich wandelnde Klima unseres Planeten scheinen der großen Dichterin recht zu geben.

Und doch drang offenbar Hoffnung in ihre brüchigen Knochen und zerfressenen Eingeweide, auf den letzten Metern, während sie – die eingefleischte Kettenraucherin – womöglich gar nicht ahnte, wie recht sie einmal haben würde mit ihrer schonungslosen Zeitansage und eben auch ihrer Hoffnung.
Denn: Kommt! Ein neuer Ort der Heilung wird eröffnen, früher oder später, es ist noch nicht alles fertig, aber der Rohbau wird was werden. Für Reiche und Arme, für Kranke und meinetwegen auch noch für Gesunde. Nicht einmal billig wird es dort sein, sondern kostenlos. Ja, sie haben richtig gehört, kostenlos. Unser Los hat seine Kosten, wir werden es ohne Kosten nicht los, die Kosten sind los wie anderswo der Teufel. Und alles für alle nicht nur billig, sondern umsonst, ohne dereinst umsonst gewesen zu sein. 

Es kommt was auf uns zu, Advent, ihr werdet schon sehen. Es wird so anders sein, so ganz anders, kostenlos und für Arme und Reiche, Kranke und Gesunde zugleich, dass es nicht einmal ein Wort dafür gibt außer vielleicht „Gott“, was nichts bedeuten muß, aber alles bedeuten kann, oder „Poliklinik“ – aber wir „taumeln“ schon einmal „wie vorm Paradies“.

Während Ingeborg Bachmann starb in Rom hatte sie mehr als nur eine Ahnung davon, dass es Hoffnung gibt, dass da was auf uns zukommt, und wir trauen uns lauschend und wartend kaum zu atmen.

Ein Kommentar

  1. Peter Müssen sagt:

    Lieber Andreas Brennecke,
    vielen Dank für die Eröffnung des Adventskalenders mit einem Gedicht von Ingeborg Bachmann. Zu dem diesjährigen Thema Ambivalenz / Ambiguität ist mir noch ein anderes Gedicht von Ingeborg Bachmann in den Sinn gekommen: das wippende Auf-und-Ab der Schaukel, von der keiner abspringt, sondern einer den anderen in Liebe erhöht.
    Viele Grüße, Peter Müssen

    Römisches Nachtbild
    (1956)

    Wenn das Schaukelbrett die sieben Hügel
    nach oben entführt, gleitet es auch,
    von uns beschwert und umschlungen,
    ins finstere Wasser,

    taucht in den Flußschlamm, bis in unsrem Schoß
    die Fische sich sammeln.
    Ist die Reihe an uns,
    stoßen wir ab.

    Es sinken die Hügel,
    wir steigen und teilen
    jeden Fisch mit der Nacht.

    Keiner springt ab.
    So gewiß ist’s, daß nur die Liebe
    und einer den andern erhöht.

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