21. September 2014
von Tom Levold
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Rudolf Welter
(Foto: T. Levold)
Zum heutigen Sonntag gibt es den fünften Text der Serie von literarischen Texten von Rudolf Welter (siehe hier) im systemagazin-Salon:
Rudolf Welter: Abwesende
Ein Portrait für eine Abwesende schreibe ich selbst, weil „meine“ Abwesende selber kein Portrait schreiben konnte, denn sie wurde weder vermisst noch gesucht, noch war sie verschollen oder verstorben, sie war weder geflohen noch auf einer Urlaubsreise, sie hatte auch keinen Namen, hinterließ keine Fingerabdrücke und keinen Pass: sie existierte ganz einfach nicht. Sie tauchte aber unverhofft, unangemeldet als Einbildung in mir auf. Diese liess mich nicht mehr los.
Ich wurde aber nicht wahnhaft verfolgt von „ihr“, wie Menschen berichten, welche von bösen Geistern verfolgt werden. Nein ich wollte mich der eingebildeten Abwesenden aus Neugierde nähern, wohl auch mit der Absicht zu erfahren, welche Gratifikationen hinter dem Erschließen von Einbildungen im Allgemeinen stecken.
Um diese eingebildete Abwesende näher zu kennen und ich das Portrait fortschreiben wollte, versuchte ich mir ein Bild von ihr zu machen, auf die Gefahr hin, dass ich ein Bildnis schaffte, das meinen Vorstellungen entsprach, dass ich die Abwesende in eine Kategorie von Menschen einteilte, die so oder so handeln musste, weil ich das von ihr so erwartete.
So passierte es. Ich wurde zum Beobachter meiner selbst. Ich setzte mich so sehr mit der Abwesenden auseinander, dass ich sie eines Tages mit mir verwechselte: So wie sie möchte ich auch sein, ging es mir durch den Kopf. Ich spürte, dass ich mich in die Vorstellung, die ich von der Abwesenden machte, verliebte. Und weil die Vorstellung eben meiner Meinung entsprach, habe ich mich in mich selbst verliebt. Weiterlesen →