Johannes Herwig-Lempp, Merseburg: Sich das Fremde vertraut machen (wollen)
Als gebildete Mitteleuropäer sind wir stolz darauf, dass wir so weltoffen sind, so divers denken, Vielfalt begrüßen und jederzeit bereit sind, uns mit Fremdem und mit Fremden auseinanderzusetzen. Gleichzeitig sind wir entsetzt über diejenigen, die dies anders sehen, die gegen Diversität und Weltoffenheit sind, die nicht in der Lage sind, sich für Fremdes und Fremde zu öffnen. Wir erschrecken, dass diese anderen mit ihrer Menschen- und Demokratiefeindlichkeit immer mehr werden, wir bekommen Angst, dass sie zu viel Einfluss gewinnen und unsere Gesellschaft nach ihren Vorstellungen beeinflussen. Und wir sind als Einzelne und als die demokratische Mehrheit fest entschlossen, uns ihnen „entgegenzustellen“ – mit den scheinbar einleuchtenden und legitimen Strategien der Abwehr, Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung. Ein Erfolg ist bislang nicht wirklich erkennbar, während unsere Angst zunimmt.
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Johannes Herwig-Lempp
(Foto: www.herwig-lempp.de)
Vielleicht könnte uns die Vorstellung helfen, dass diese Menschen Fremde für uns sind: wir verstehen nicht, wieso sie so große Angst vor Schutzsuchenden haben, weshalb sie so anders denken und fühlen als wir, wieso sie so menschenfeindlich, rassistisch, demokratieschädlich, gewaltbereit sein können. Die allermeisten der Menschen, die uns auf diese Weise Angst machen, kennen wir nicht wirklich, und sobald sich jemand in unserer näheren Umgebung sich als AfD- oder Pegida-Anhänger zu erkennen gibt, wenden die meisten von uns hilflos ab. Kurz: Diese Menschen sind uns fremd, wir haben Angst vor ihnen und fühlen uns ohnmächtig, wir reagieren wir mit Abscheu und Abgrenzung.
Wie aber könnten wir auf etwas, das uns angst macht und das uns fremd ist, anders reagieren als mit Abwehr? Als Fachleute für psychosoziale Fragen wissen wir es eigentlich: Wir können uns bemühen, uns das Fremde vertraut zu machen. Wir können offen sein für das Fremde oder die Fremden, Neugier entwickeln, gespannt sein, inwiefern unsere Vorurteile und Stereotype womöglich gar nicht zutreffen. Wir können uns bemühen, in dieser scheinbar homogenen Gruppe lauter unterscheidbare Individuen zu erkennen.
Eine Strategie, die ich mir in meinem Berufsleben angeeignet habe (als Sozialarbeiter hat man öfters mit Menschen und Verhaltensweisen zu tun, die im ersten Moment unverständlich, erschreckend, abstoßend, also: „befremdlich“ sind), ist es, nach Gemeinsamkeiten von mir und dem Fremden zu suchen – auch und gerade genau dann, wenn es keine zu geben scheint. Denn auch wenn ich mir keine Drogen in die Venen spritze, keinen Menschen getötet habe, keine Raubüberfälle begangen habe, mich nicht hoffnungslos verschuldet oder auf dem Straßenstrich prostituiert habe – kann ich doch eigentlich immer, mit ein bisschen gutem Willen und Phantasien, Ähnlichkeiten zu mir selbst erkennen, die sich in der Intensität (zum Teil erheblich) unterscheiden, nicht aber im Grundansatz: auch ich nehme Drogen (wenn auch legale), auch ich wünsche manchmal jemandem klammheimlich den Tod (und sei es nur ausgewählten Despoten), auch ich halte es für vielleicht (ich will mich jetzt hier nicht zu sehr outen) ganz in Ordnung, manchmal Gesetze nach meinem Gutdünken auszulegen und zu übertreten. Diese Strategie, nach Gemeinsamkeiten zu suchen mit dem, was mir im ersten Moment fremd, unvertraut und vielleicht sogar angsteinflößend zu sein scheint, hat sich für mich schon oft bewährt. Anschließend finde ich die andere Person und ihr Verhalten gar nicht mehr so „unnormal“, ich habe sie mir „ent-fremdet“, sie ist mir vertrauter geworden, und auch sie kann zu mir leichter Vertrauen fassen.
Übertragen auf die Menschen in den rechten Bewegungen, vor denen wir Angst haben, deren Verhalten und Einstellung uns abstößt, bedeutet dies, dass wir uns bemühen könnten, sie zu verstehen (wobei verstehen nicht bedeutet, einverstanden zu sein) und zu unterstellen, dass sie Menschen sind wie wir: auf der Suche nach einem guten Leben – wie wir; mit politischen Überzeugungen, für die sie eintreten – wie wir; mit dem Wunsch, Einfluss und Macht zu haben und die eigenen Vorstellungen auch umzusetzen – wie wir; mit dem grundgesetzlichen Recht auf die eigene Meinung und darauf, sie zu vertreten zu dürfen – wie wir; mit einer Weltsicht, Meinungen und Überzeugungen, die sie in ihrem Umfeld entwickelt haben – wie wir; mit dem Bemühen, sich zusammenzuschließen und Gleichgesinnte um sich zu haben – wie wir; manchmal über das Ziel hinausschießend und geschmacklos (siehe Galgen auf der Demo) – wie wir (die wir uns amüsieren, wenn in einem Cartoon James Bond von der Queen beauftragt wird, Trump und Erdogan unauffällig zu beseitigen). Die aber auch – ebenfalls wie wir – nicht nur aus ihrer politischen Meinung bestehen, sondern noch viele andere Identitäten, Ansichten, Bedürfnisse und Wünsche haben: sie sind Eltern, Berufstätige, Liebende, Fußballfans, Autofahrer, Wanderer, Nachbarn, Konsumenten, Fernsehzuschauer, LeserInnen etc. – kurz, ganz normale Menschen wie wir auch.
„Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“ lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs zum Kleinen Prinzen sagen: „‚Es bedeutet: sich vertraut machen’ […] ‚Man kennt nur die Dinge, die man zähmt’, sagte der Fuchs. […] ‚Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!’‚Was muss ich da tun?’ sagte der kleine Prinz. ‚Du musst sehr geduldig sein’, antwortete der Fuchs.“
Wie gerne würden wir die Rechten ein wenig zähmen. Aber wollen wir sie uns wirklich vertraut machen, sie womöglich zum Freund haben? Bei allem Sinn für Vielfalt und Menschenrechte scheint das zu weit zu gehen. Wir würden zwar wollen, dass diese fremden Menschen uns vertrauen – aber sind doch sehr im Zweifel, ob wir uns überwinden und auf sie zugehen wollen. Dies würde sowohl großen Mut als auch sehr viel Geduld von uns erfordern.
Möglicherweise bin ich ziemlich naiv, wenn ich denke, dies könnte ein Weg sein.