systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

9. Dezember 2017
von Tom Levold
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Fachverband DGSF plädiert für hilfeorientierten und kooperativen Kinderschutz

(Köln) – Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) appelliert an eine neue Bundesregierung, die gesetzlichen Vorgaben für den Kinderschutz auch künftig hilfe- und kooperationsorientiert zu gestalten. Derzeit vorgesehene – bislang allerdings nur vom Bundestag verabschiedete – Neuregelungen zum Jugendhilferecht hebelten hingegen die bewährte Haltung „Schutz durch Hilfe“ aus. Es bestehe so die Gefahr, Kinderschutz zu einer neuen „Meldekultur“ zu verkürzen.

„Familien, in denen die Jugendämter eine Notwendigkeit zum Eingreifen aus Kinderschutzgründen sehen, befinden sich in den allermeisten Fällen in einer lang andauernden Überforderungssituation“, schreibt der systemische Fachverband in seinem „Plädoyer für die gesetzliche Verankerung eines hilfeorientierten und kooperativen Kinderschutzes“. Die Notwendigkeit von Inobhutnahmen entstehe in der Regel aus „biographischen Belastungssituationen“, aus eigenen Traumata von Eltern sowie aktuell schwierigen Lebenssituationen, zum Beispiel ein Leben in Armut.

Ein systemischer Kinderschutz sei hilfeorientiert und setze in diesem Zusammenhang insbesondere auch bei den Eltern an, „damit sie die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und die Grenzen in der Familie neu gesetzt sowie die verloren gegangenen Ressourcen wieder aufgebaut werden können“. Hilfreich sei ein „respektvoller, würdigender und achtsamer Blick auf die Potentiale aller Familienmitglieder“. Sollte eine Trennung der Kinder von ihren Eltern notwendig werden, müsse es darum gehen, mit den Eltern daran zu arbeiten, dass die Kinder die „Erlaubnis“ bekommen, sich an einem anderen Lebensort gut entwickeln zu dürfen.

„Ein systemisch-hilfeorientierter Kinderschutz, der auch Berufsgeheimnisträger wie beispielsweise Ärztinnen und Ärzte mit einschließt, gelingt nur über persönliche Kontakte zu Eltern und Kindern, mit dem Angebot von Hilfen und mit einer transparenten Kommunikation. Um Vertrauen in Helfersysteme zu erhalten, müssen Eltern wissen, wenn Informationen über ihre Familiensituation weitergeben werden“, betont DGSF-Vorsitzender Dr. Björn Enno Hermans.

Die DGSF plädiert dafür, „einen verbindlichen, interdisziplinären und systemübergreifenden Netzwerkaufbau für den Kinderschutz für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen gesetzlich zu verankern und diesen analog zu den ‚Frühen Hilfen‘ über einen Bundesfonds entsprechend finanziell auszustatten.“ So könnten ein präventiver Ansatz und ein wirksamer Kinderschutz in den Organisationsstrukturen der Jugendhilfe altersunabhängig sichergestellt werden.

Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF)
Bernhard Schorn, Geschäftsführer
Jakordenstr. 23, 50668 Köln
Telefon: (0221) 613133, Fax: (0221) 9772194

9. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Von wegen Systemisches Engagement…

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach

Ob „Engagement“ wohl mehr ist als eines dieser Klingelingwörter?  Es sagt sich so leicht. Womöglich ist es ein geborenes Geschwisterwort für „systemisch“. Manchmal denke ich, beide Wörter  eignen sich bestens für Blendwerk. Mit beiden kann man Bedeutung vortäuschen und so tun als sei ihre Bedeutung wie selbstverständlich gegeben. Und „systemisches Engagement“ erst… und warum fällt mir nichts dazu ein? Eigentlich müsste doch, ja eigentlich müsste das doch sprudeln wie eine Quelle. Tut’s aber nicht. Soll nicht so bleiben. Nachdenken also, den Worten nachspüren. Was passiert, wenn ich vom Engagement zum Engagieren komme? Fehlt da nicht was? Ja, mir scheint, da fehlt etwas. Engagieren kann man jemanden, verpflichten, in ein Dienstverhältnis einbinden. Ein Engagement haben kann einen finanziell über die Runden retten. Aber das wird nicht gemeint sein mit dem Thema dieses Adventskalenders. Also was fehlt? Vielleicht das „sich“? Sich engagieren und andere anregen, sich zu engagieren. Vielleicht nähert sich das dem Systemischen.

Sich engagieren verstehe ich als: sich mit innerer Anteilnahme für eine Aufgabe/ für eine Person/ eine Gruppe/ „die Welt“ einsetzen. Vielleicht sogar: Sich an diese Aufgabe binden. Passt das zum systemischen Denken, zu systemischen Perspektiven, die sich „im Prinzip“ ja durch Einnehmen von Meta-Positionen kennzeichnen? Durch Fokussieren auf Prozesse, weniger auf Inhalte. Es könnte jedenfalls so scheinen. Und dennoch: Ohne inhaltliches Interesse, ohne spezifische Aufmerksamkeit, ohne Zuwendung, die persönlich gemeint ist, oder ohne Mitgefühl bliebe systemisches Denken so etwas wie das Organisieren von Parkbänken im All, ziemlich unwirtlich, kühl, womöglich duster. Systemisch bliebe „draußen“.  Weiterlesen →

8. Dezember 2017
von Tom Levold
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Niklas Luhmann (8.12.1927-6.11.1998)

 

Niklas Luhmann

Diese Woche ist eine Woche der Jubiläen. Heute würde Niklas Luhmann 90 Jahre alt, ein Datum, das in allen großen Medien Aufmerksamkeit bekommt. Und das gehört sich natürlich erst recht für das systemagazin. Schon gleich am Anfang gab es im systemagazin ein Luhmann-Special, auf das in diesem Zusammenhang noch einmal hingewiesen werden soll. In diesem Special gibt es eine Menge über Luhmann zu lesen, das nach wie vor spannendende und erhellende Lektüre bietet.

In der Übersicht heißt es u.a.: „Niklas Luhmann war und ist sicherlich keine leichte Kost, erst recht für Nicht-Soziologen, Psychotherapeuten, Berater und andere Menschen, die sich selbst als ,Praktiker’ bezeichnen würden – manche womöglich, um komplexere Ansprüche an theoretische Durchdringung ihres Tuns auf Abstand halten zu können. Besonders diesen Kolleginnen und Kollegen ist dieses Special gewidmet: aus der Überzeugung heraus, dass Luhmann – jedenfalls zumindest die Auseinandersetzung mit ihm – auch für ,Praktiker’ Gewinn bringen kann. Es geht also darum, den Zugang zu Luhmann durch ausgewählte Lektüre zu erleichtern, ein Projekt, um das sich Luhmann selbst zugegebenermaßen nicht zuförderst gekümmert hat. Aber auch die systemtheoretisch bereits Bewanderten dürfen hier Geistesnahrung erwarten. Weiterlesen →

8. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Integration auf Augenhöhe: Ein konstruiertes Geflüster im gegenseitigen Beziehungsprozess

Corina Ahlers, Wien: Integration auf Augenhöhe: Ein konstruiertes Geflüster im gegenseitigen Beziehungsprozess

Im Herbst 2015 beschlossen mein Mann und ich, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wir wollten uns, wie viele unserer Freunde – engagieren. Unser Haus war groß genug und ein Zimmer mit eigener Küche und Bad von unserem Teil perfekt abtrennbar. Es gab einen eigenen Eingang, gemeinsam würden wir die Waschküche und Teile des Gartens benutzen. Wir wollten helfen und deshalb Eltern mit Kind oder zwei junge Männer bei uns aufnehmen.

Nach einem längeren Prozess des Wartens im Kommunikationschaos zwischen Behörden, Privatinitiativen und kirchlichen Einrichtungen, die sich rivalisierend gegenseitig torpedierten, entschieden wir uns, dem Rat eines syrischen Bekannten folgend, zwei Männer bei uns aufzunehmen. Über Ecken kannte Aladin Nakshbandi  einen von ihnen, und er meinte, dass dieser vertrauenswürdig sei. Das war ihm wichtig: Es gäbe diese und jene, aber er wolle uns Jemand vermitteln, der gut zu uns passe. Tarek und Can (Pseudonyme) zogen im Oktober bei uns ein. Tarek war Aladins Bekanntschaft und Can konnte etwas Englisch.

Der Anfang:

Wir genossen alle zusammen die euphorische Atmosphäre. Wir teilten mit ihnen das neue Gefühl der Geborgenheit, das gute syrische Essen, den Austausch über Musik, das Erklären unseres Lebensstils, den Wald, den Hund. Wir ließen uns aufeinander ein und begegneten uns. Wir halfen ihnen bei ihren Behördenwegen, bei der Bank, der Versicherung, etc., und wir wollten ihnen so früh wie möglich Deutschkurse organisieren. Manches davon gelang, anderes nicht. Wir waren alle überfordert von den verschiedenen Informationen zu den behördlichen Zuständigkeiten. Weiterlesen →

7. Dezember 2017
von Tom Levold
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Harlene Anderson zum Geburtstag!

Harlene Anderson

Heute feiert Harlene Anderson ihren Geburtstag – die englische Wikipedia-Version gibt ihr Geburtsjahr mit 1942 an, das wäre dann heute der 75. Geburtstag, zum dem wir von Herzen gratulieren. Allerdings fehlt für diese Angabe die letzte Verifizierung, letzte Zweifel sind nicht ausgeräumt – der Tag stimmt aber.

Klaus Deissler, der zu den exponierten Vertretern des sozialkonstruktivistischen Ansatzes in Deutschland zählt, hat zu diesem Anlass ein Gespräch beigesteuert, das er als Herausgeber der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung und seine KollegInnen 1992 mit Harlene Anderson geführt hat und das einen guten Einblick in ihre Arbeitsphilosophie gibt, verbunden mit einer persönlichen Gratulation:

Liebe Harlene,

in Dankbarkeit für die Möglichkeit, mit Dir in Dialogen zu lernen, in herzlicher Freundschaft und kollegialer Wertschätzung, wünsche ich Dir alles Gute, Liebe und Glück.

Anlässlich Deines Geburtstages erscheint unser Gespräch von 1992, das den von Harry Goolishian und Dir begründeten kollaborativ-dialogischen Ansatz zum Inhalt hat und das in der Zeitschrift für Systemische Therapie erschienen ist, heute im systemagazin.

Im Andenken an Harry, unsere vielfachen Formen der Zusammenarbeit in Vergangenheit und Gegenwart und in der Hoffnung auf die Fortsetzung unserer kreativen dialogischen Gespräche und der gemeinschaftlichen Arbeit in der Zukunft, erhebe ich mein Glas auf Dein Wohl,

cheers to you and your family,

Klaus

 

Im Gespräch mit Harlene Anderson

Am Rande eines kleinen Workshops mit Harlene Anderson (HA) hat sich die Redaktion der Zeitschrift für Systemische Therapie getroffen. Wir haben Harlene als neue Mitarbeiterin für unsere Zeitschrift gewinnen können und nicht zuletzt aus diesem Anlass ein Interview mit ihr durchgeführt. Neben den Redaktionsmitgliedern Gertrud Pietsch, Marburg; Roswitha Schug, Mainz; Thomas Keller, Köln, Wilhelm Rotthaus, Bergheim und Klaus G. Deissler, Marburg (damaliger Herausgeber), war auch Ulrike Jänicke als Gast aus Halle anwesend. Jeder von uns hat Fragen an Harlene gerichtet. Wir haben die Fragen nicht durch die persönlichen Abkürzungen der Autoren gekennzeichnet, sondern als «ST» für Zeitschrift für Systemische Therapie abgekürzt. Weiterlesen →

7. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Mit Rechten reden

Arist von Schlippe, Osnabrück: Mit Rechten reden! Mit Rechten reden?

Eher zufällig fiel mir im Buchladen ein Buch in die Hand, das den Titel dieses Beitrags trägt (Leo et al., 2017). Geschrieben wurde es von drei Philosophen, das merkt man dem Text durchaus an. Der folgende Text soll keine Rezension sein, ich möchte das Buch jedoch zum Anlass nehmen, über ein Phänomen nachzudenken, das die Gesellschaft derzeit beschäftigt. Die Frage, wie es kommt, dass rechtes Gedankengut wieder salonfähig geworden ist, ist noch nicht befriedigend beantwortet. Und ganz offenbar tun sich viele gesellschaftliche Kräfte schwer, für den Umgang mit der „Alternative für Deutschland“ eine passende Form zu finden.

Beginnen wir mit einer Markierung: „Wir und Ihr“. Diese Markierung wird immer wieder von „Euch“, den Rechten angeboten, und ähnlich wie die Autoren des erwähnten Buchs möchte ich diese Differenz zum Ausgangspunkt nehmen, d.h. sie zunächst akzeptieren und verwenden. Es ist eine Differenz, die vom Gegensatz zur etablierten Gesellschaft lebt und der kaum zu entkommen ist. Je mehr die Unterschiede der bestehenden Parteien verschwimmen, je mehr sich Politik im Regulieren und Begrenzen, oft auch im Moralismus erschöpft, desto größer ist die Chance, im Aufbau einer krassen Differenz die eigene Identität und vor allem Sympathisanten zu finden, die sich in dem „das wird man jawohl noch sagen dürfen…“ wiederfinden. Das Dumme an der Sache ist allerdings, dass diese Differenz nicht als Einladung zu einer Diskussion dient, sondern dass sie etwas Totales hat, und um diese Totalität aufrechtzuerhalten, ist es nötig, diese Differenz immer wieder neu zu erzeugen. In dem Verhalten, in den Aussagen „der Rechten“ ist so viel, was es schwer macht, jenseits des gemeinsamen deutschen Passes noch irgendein „Wir“ zu erkennen, dass man nicht umhin kommt, das negative Beziehungsangebot anzunehmen: Ja, wir sind anders als Ihr! Die Negation kann nicht einfach negiert werden, und im Bejahen wird sie bestätigt und fortgeführt – sie erzeugt ihre eigene Paradoxie: „Der Widerspruch produziert das, woraus er besteht, nämlich das, was sich widerspricht, selbst“ (Luhmann, 1984, S. 495). Weiterlesen →

6. Dezember 2017
von Tom Levold
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Kurt Ludewig wird 75!

Heute feiert Kurt Ludewig, einer der wichtigsten Wegbereiter der systemischen Therapie im deutschen Sprachraum, seinen 75. Geburtstag, zu dem systemagazin von Herzen gratuliert. Auch wenn er sich schon seit einiger Zeit in das Privatleben zurückgezogen hat, gehört er doch mit seinen zahlreichen Publikationen nach wie vor zu einem der meistzitierten Autoren des systemischen Feldes. 2012 hielt er auf dem Heidelberger Kongress „Wie kommt Neues in die Welt?” einen Vortrag über das das „Regelwerk der systemischen Therapie“, das er auf die Frage hin untersuchte, inwiefern darin eine Anleitung zur „Verhinderung von Neuem“ enthalten sei. Er schreibt darin: „Die Überschrift dieses Heidelberger Symposiums lautet: ,Wie kommt Neues in die Welt?… systemisch weiter denken’. Im Begleitschreiben zur Einladung stand unter anderem, dass neue, ,revolutionäre Ansätze’ besonders dann gefährdet seien, dogmatisch zu erstarren, wenn sie zum Standard geworden sind. Der Hintergrund dieser Frage war nicht zuletzt die Sorge um die Einschränkungen, die mit der anerkannten Etablierung der Systemischen Therapie einhergehen könnten. Es sollte erkundet werden, wie unser Denken lebendig gehalten und vor dogmatischer Erstarrung bewahrt werden kann. Die vielfältigen Praxisfelder, die durch das ,Blühen systemischer Praxis’ entstanden seien, sollten aufs Neue angeschaut und kritisch hinterfragt werden.“

Und sein Text schließt folgendermaßen: „Mit dem Ziel vor Augen, der systemischen Therapie die Frische des Neuen und Kreativen zu erhalten, lohnt es sich, das mittlerweile entstandene Regelwerk kritisch zu beleuchten. Dabei dürfte vor allem nicht übersehen werden, dass Therapie von unterschiedlichen Menschen betrieben wird, die deshalb unterschiedliche Bedingungen bedürfen, um effizient zu arbeiten. Regeln, ob als explizite oder implizite Ge- bzw. Verbote definiert und in Weiterbildungen vermittelt, können nur dann sinnvoll sein, wenn sie den jeweiligen Anwendern genügend Raum lassen, um sie individuell und kontextbezogen umzusetzen. Ein geeignetes Regelwerk sollte einen methodologischen Rahmen schaffen, der breit genug angelegt ist, um unterschiedliche Therapeuten anzuleiten und Neues einzubeziehen, aber auch eng genug sein, um
therapeutisches Tun erkennbar als das zu gestalten, was es sein soll, nämlich systemische Therapie oder Beratung. In der Hoffnung, mit diesem Vortrag nicht gegen Windmühlen vorgestoßen zu sein, möchte ich in Anspielung an den Plus-Eins der Leitsätze, die ich 1984 zusammenstellt habe, mit der Empfehlung schließen: Orientiere dich an den jeweiligen Kontext und wende deine Regeln nie blind an! Das dürfte eine gute Basis sein, um wieder Neues entstehen zu lassen.“

Lieber Kurt, zum Geburtstag alles Gute – und die besten Wünsche für die kommende Zeit!

Den vollständigen Text können Sie hier lesen…

6. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Systemisches Engagement oder der Mut zur Bewertung

Rudolf Klein, Merzig: Systemisches Engagement oder der Mut zur Bewertung

Moderne Gesellschaften und deren Wohlstand fußen auf einem Wirtschaftssystem, das fortwährend Wachstumsraten benötigt, um eine gewisse stabile Dynamik zu erhalten. Solche Wirtschaftssysteme sind nicht nachhaltig. Gleichzeitig breiten sie sich mit ihren irrwitzigen Ausbeutungsdynamiken auf der ganzen Welt aus. Dies führt unweigerlich dazu, dass das 21. Jahrhundert kaum überlebt werden kann. Wirtschaftssysteme verkonsumieren ihre eigenen Voraussetzungen und werden niemals „satt“. Im Gegenteil.

Sehr treffend beschreibt Robert Menasse in seinem Roman „Die Hauptstadt“, welches Zukunftskonzept diesem Denken zugrunde liegt. In Bezug auf Vertreter und Verfechter dieses Wirtschaftssystems, den Lobbyisten, schreibt er: “Wenn sie von der Zukunft redeten, dann redeten sie von einer möglichst reibungslosen Verlängerung der Gegenwart und nicht von der Zukunft. Das verstanden sie nicht, weil sie glaubten, die Zukunft bestehe aus den Trends, die sich unaufhaltsam durchsetzen.“ (S. 300)

Kürzlich las ich, dass das Ziel einer nachhaltigen globalen Wirtschaft nur erreichbar sein wird, wenn in den reichen Gesellschaften der Erde auf ca. 80% des heutigen Energieverbrauchs verzichtet würde. Das hätte gigantische Auswirkungen auf Nahrung, Wirtschaft, Mobilität usw. Unvorstellbar und ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Der Trend deutet in Richtung Untergang. Weiterlesen →

5. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: In Bewegung zwischen den „Tischen“

Joachim Stöver, Köln

Köln-Mülheim, da drängeln sich selten Prominente auf dem Bürgersteig. Die Frankfurter Straße ist voller Leben, am Wiener Platz trifft sich die ganze Welt vor dem Bezirksrathaus. Die durch das NSU-Attentat bekannte Keuppstraße ist nicht weit. Viele Milieus sind hier vertreten, prekär, ohne Obdach, bürgerlich, ihnen allen begegne ich auf dem Weg mit dem Rad zum „IKZ“. Zwei Ladenlokale beherbergen das „Interkulturelle Zentrum“. Von unterschiedlichen Wohlfahrtsträgern betrieben, sind diese Zentren in Köln Kontaktstellen für Flüchtlinge, bieten Beratung und machen vielfältige Gruppenangebote. Vom Nähkurs zum Bewerbungstraining, vom Gesprächskreis zur Sozialberatung und vielem mehr, ist in den Programmen zu lesen.

Kein Wunder, dass ich dort gelandet bin, im „IKZ-Buchheim“ der Diakonie Köln. Mein berufliches Leben hatte seinen längsten Abschnitt in einer evangelischen Tagungsstätte im Sauerland. Über viele Jahre gehörten Tagungen mit Asylsuchenden der Region zu meinem Aufgabenfeld. Und als nach dem Umzug vom Land in die Stadt die Flüchtlingswelle wuchs und der Ruhestand ganz neue zeitliche Perspektiven möglich machte, begab ich mich auf die Suche nach meinem Ort der ehrenamtlichen Mitarbeit. Weiterlesen →

4. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Kontextbewusstsein – bewusst Kontext sein

Ulf Klein, München: Kontextbewusstsein – bewusst Kontext sein

Von Gregory Bateson stammt die Sentenz „Der Kontext bestimmt die Bedeutung“, und da ich nun mal Kontext meiner Mitmenschen bin (wie sie der meine), bemühe ich mich diese Rolle bewusst zu gestalten. Das fängt damit an, dass ich schon morgens beim Brötchenholen der Bäckersfrau das eine oder andere Kompliment mache, dass ich den nachbarschaftlichen Plausch im Treppenhaus pflege oder der alten Dame aus der Nachbar­wohnung den Müll runtertrage. Was natürlich auch dazu geführt hat, dass ich selbst einen freundlichen Kontext habe: Die Bäckersfrau steckt mir schon mal ein paar Kekse extra zu, die Nachbarn nehmen meine Pakete an, und die Nachbarin verwahrt meinen Reserveschlüssel.

Klingt banal, erscheint mir aber bei einer systemtheoretischen Auseinandersetzung mit der Frage nach Werten doch wichtig. Noch bedeutsamer ist mir das Bewusstsein „Ich bin Kontext“ allerdings bei der Frage nach sozialem oder politischem Engagement. Auch da habe ich mir (nach einer ganzen Reihe frustrierender Erfahrungen in Gruppen, Institutionen und Verbänden) die Haltung zu eigen gemacht, mich bewusst als Kontext zu definieren. Und das heißt, dass ich bei Ideen und Initiativen, die mir wichtig sind, in der Regel zunächst als »Zweiter« agiere. Weiterlesen →

3. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Was steckt wirklich hinter meinem systemischen Engagement?

Hartwig Hansen, Hamburg: Was steckt wirklich hinter meinem systemischen Engagement?

„Ich brauche etwas Hilfe bei der Frage, wo meine echten Talente liegen und was ich wirklich kann und möchte … Können Sie sich vorstellen, mir bei diesem Thema behilflich zu sein?“

So lautet die Coachinganfrage einer Klientin, auf die ich antworte, ich könne es ja mal versuchen.

Als wir dann zusammen vor dem noch leeren Flipchart sitzen, sagt sie: „Auf der Fahrt hierher habe ich überlegt, was ich antworten würde, wenn Sie mich fragen: Was sind denn eigentlich Ihre Talente? – Das ist es ja. Ich weiß es gar nicht so genau …“

„Dann bin ich ja froh, dass ich nicht gefragt habe“, sage ich und wir schmunzeln.

„Was wäre wohl anders, wenn Sie es wüssten?“, mache ich einen neuen Anlauf.

Und dann kommt der Satz, der mich wirklich stutzig macht: „Meine Therapeutin hat mal zu mir gesagt, ich hätte ja ohnehin eine neurotische Berufswahl getroffen.“

Upps.

„Was mag das heißen … eine neurotische Berufswahl?“, bringe ich gerade noch heraus. Weiterlesen →

2. Dezember 2017
von Tom Levold
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Jürgen Hargens zum 70.

Jürgen Hargens

Heute feiert Jürgen Hargens seinen 70. Geburtstag, zu dem wir von Herzen gratulieren! Jürgen Hargens hat mit der Gründung der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung (damals noch Zeitschrift für systemische Therapie) 1983 einen ganz wesentlichen Beitrag für die Entwicklung der systemischen Therapie in Deutschland geleistet. Viele für das systemische Feld wichtige AutorInnen aus dem In- und Ausland sind hier zum ersten Mal einem größeren deutschen Publikum bekannt geworden. Aus Anlass des 70. Geburtstages von Jürgen Hargens bringt systemagazin mit freundlicher Genehmigung der ZSTB eine Korrespondenz zwischen ihm und Wolfgang Loth, die 2012 anlässlich des 30jährigen Jubiläums der Zeitschrift in der ZSTB erschienen ist.

Jürgen Hargens, Wolfgang Loth: „Es war eher so ein Kribbeln und die Möglichkeit, einen Raum zu schaffen, den andere füllen konnten und an dem ich dann teilhaben würde“. Eine E-mail-Korrespondenz zwischen Jürgen Hargens und Wolfgang Loth

Wolfgang: Jürgen, die Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung geht ins 30. Jahr. Damals hast Du sie als Zeitschrift für systemische Therapie gegründet. Lass uns das zum Anlass nehmen, eine kleine gedankliche Wanderung zu unternehmen, und schauen, ob wir dabei einen roten Faden finden, der sich eignen könnte, uns über unsere Bilder von systemischer Therapie ein wenig klarer zu werden. Wobei „Therapie“ ja hier schon etwas wäre, was damals – vor 30 Jahren – alles zusammenfasste und jetzt nur noch einen Teil ausmacht, womöglich einen kleinen im Gesamteindruck der systemischen Perspektiven, wie sie sich uns jetzt darstellen. Wie war das damals, hast Du da schon mögliche Ausdifferenzierungen erahnt, oder war Therapie das, worauf es Dir ankam. Die Formulierung in Deinem ersten Editorial lässt das offen. Du hast damals geschrieben, die Zeitschrift „soll dazu beitragen zu umreißen, was unter einer systemischen Perspektive verstanden wird oder werden kann“ (1). Perspektive tatsächlich im Singular, ich nehme an, dass der Plural da jetzt geläufiger ist. Was hast Du gehofft, verändere sich für unsere Arbeit durch die neue Zeitschrift?

Jürgen: Ich musste lächeln, als ich mir überlegte, wie und was ich auf Deine Frage antworten soll oder könnte. Denn das sind jetzt Erinnerungen – also Beschreibungen, verklärt durch die letzten dreißig Jahre … Ich glaube, damals hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich einlassen würde. Es war so irgendwie die Ahnung, dass da etwas Bedeutsames, Wichtiges aufschien, dessen Umfang, Inhalt und Folgen mir nicht klar waren. Und – das ist auch wichtig, weil es sich für meine gedankliche und professionelle Entwicklung aus heutiger Sicht als bedeutsam zeigt – ich hatte keine große Ahnung von der ganzen Sache. Es war eher so ein Kribbeln und die Möglichkeit, einen Raum zu schaffen, den andere füllen konnten und an dem ich dann teilhaben würde. In diesem Sinne verstand ich mich als Herausgeber, wie mir eine Leserin dies nach zehn Jahren vermittelte: ich bot die Möglichkeit, etwas zu geben und andere teilhaben zu lassen. Viel später führte das zu einer meiner Lieblingsideen – der Kundigkeit der Menschen oder, wie ich es heute lieber formuliere, es brachte mich dazu, die Menschen, wenn ich mich auf den professionellen Bereich begrenze, als kundige Menschen zu begreifen – und nicht als Kunden oder KundInnen. Ja, und dann hat das eingesetzt, was meist einsetzt: eine Entwicklung, die nicht vorauszusehen war. Und da war es aus meiner Sicht – oder wie ich es meist nenne: aus Meyner Sicht (2) – eine meiner besten Ideen, diese Entwicklung laufen zu lassen und mich als Herausgeber zurückzuziehen. Das war gewissermaßen meine erste Verrentung. Die zweite steht ja nun an. Eines noch, wo Du nach meiner Hoffnung gefragt hast. Ich hatte keine Ahnung. Ich fand es einfach toll, einen Raum zu bieten und daran – vorwiegend still – teilzuhaben. Das erschien mir anfangs ganz selbstverständlich und das Normalste der Welt. Insofern – jetzt spricht der Systemiker – hatte der Kontext eine große Bedeutung, die Abgeschiedenheit und Dickköpfigkeit des Nordens bzw. der Dithmarscher. Weiterlesen →

2. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Einmischen – Mitmischen – Wegwischen

Martin Rufer, Bern: Einmischen – Mitmischen – Wegwischen

Nur diejenigen, die „drinnen“ sind, können mitmischen. Während die einen mit ihren „Papieren ins Paradies“ fliegen und andere ohne Papiere „draußen vor der Tür“ stehen, verharre ich dazwischen in meiner ganzen Zerrissenheit, Ambivalenz und Hilflosigkeit. Einmischen oder wegwischen , „to be, or not to be, that is the question“…

Währendem Hamlet seinen Weltschmerz und seine Zerrissenheit noch monologisiert, twittern und flimmern heute bewegte und bewegende Bilder dazu in unsere warmen Stuben, auch in diejenige von uns Systemikern. Hinschauen oder wegschauen? Fragen über Fragen, die nun auch auf unsere Traktandenlisten kommen und in den Zeitschriften, Foren, Listen bis hin zum Adventskalender diskutiert werden wollen. Weiterlesen →