systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

14. Dezember 2018
von Tom Levold
7 Kommentare

systemagazin Adventskalender: Context Your Life!

Andreas Manteufel, Bonn: Context Your Life!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
ich begrüße besonders den stellvertretendenden Leiter des Referats „Innere Gesundheit“ im Bundesgesundheitsministerium,
und ich begrüße unter allen Online-therapeutisch Tätigen insbesondere die Repräsentantinnen und Repräsentanten der „guten alten systemischen Therapie“.

Heute dürfen wir mit Ihnen ein Jubiläum feiern: Auf den Tag genau vor nunmehr zehn Jahren, im Dezember 2020, wurde der „Systemischen Therapie“ die endgültige Anerkennung als kassenfinanziertes Therapieverfahren zuerkannt. Über wie viele Jahre hinweg hatten die systemischen Verbände Anträge eingereicht, wie viele Gutachten wurden geschrieben, wie viele Wirksamkeitsnachweise zusammengestellt, bis der Gemeinsame Bundesausschuss und die Kassen ihre positive Entscheidung für die systemische Therapie bekannt gaben (anhaltender Applaus).

Wer konnte damals wissen, dass dies die letzte Verlautbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses sein würde? Musste man ein Visionär sein, um zu erahnen, dass kaum drei Wochen später das gesamte kassenfinanzierte Psychotherapiewesen auf den Kopf gestellt wurde? Dass „Psychotherapie“ als „Gesundheitsdienstleistung“ von der Übergangsregierung Spahn abgeschafft und das Thema psychische Gesundheit einer völligen Neubewertung und Neuorganisation unterzogen wurde? Zugegeben: Vielen erschien das Tempo hin zur Online-Therapie rasant. Aber man konnte schon 2018 wissen, dass einer der wichtigsten psychotherapeutischen Wirkfaktoren, nämlich die sogenannte therapeutische Allianz, von Klientinnen und Klienten im Online-Setting als ebenso gut eingestuft wird, wie in der alten Face-to-Face-Therapie, und das sogar bei einer klassischen psychodynamischen Herangehensweise (Ärztliche Psychotherapie 2018, 13(4), 247-253). Die Therapieverbände selbst überboten sich bald mit erfolgreichen Therapie-Apps, denken wir an die Programme „Talk to me“ (Psychoanalyse), „StApp by StApp“ (Verhaltenstherapie) oder „Context your Life“ (Systemische Therapie). Der Glaube daran, dass nur persönliche Begegnung im Therapiezimmer von therapeutischem Nutzen sein könne, wurde endlich entmystifiziert. Gleichzeitig leerte die historisch zweite, große „Enthospitalisierungswelle“ zu Beginn der Zweitausend-zwanziger Jahre die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, so dass nur noch die wirklich schwer neuropsychisch kranken Patienten zur notwendigen pharmako- und neuropsychiatrischen Behandlung in den großen Nervenzentren verblieben. Im ambulanten Bereich folgte schließlich die viel zitierte „Ent-Therapeutisierungswelle“. Endlich konnte eine klare Grenze gezogen werden zwischen psychisch-neurologischer Akut- bzw. Notfallbehandlung auf der einen Seite und der in der Regel internetbasierten Eigentherapie, selbstverantwortet und selbstfinanziert von jedem, der meint, seine „Psyche“ „optimieren“ zu müssen (Gelächter und Applaus).
Dass sich die ganze Diskussion um therapeutische „Schulen“ plötzlich als hinfällig erwies (Zwischenruf: „Gott sei Dank!“), dass die dramatischen Einsparungen im Gesundheitswesen das damals eingeführte „bedingungsgebundene Grundeinkommen“ überhaupt erst ermöglichten – auch wenn die Schwelle zum Existenzminimum natürlich noch in weiter Ferne liegt – und dass sich so manche sogenannte „Traumatisierung“ durch das Prinzip der selbstverantworteten Finanzierung (SelFi) ohnehin rasch erledigt (Gelächter) – dies alles ist an anderer Stelle schon ausführlich gewürdigt worden.

Offen bleibt, meine Damen und Herren, die Frage nach den Gründen für die schnelle Selbstauflösung der alten systemischen Therapieverbände, nicht weniger, nachdem einer der Ur-Väter der deutschen systemischen Therapieszene, der heute 82 Jahre alte F.B.S aus Heidelberg, per Twitter verlautbaren ließ: „Uns hat es nie wirklich gegeben“ (Gelächter). War es Protest? War es Kapitulation? War es Kalkül? Die Bewertung bleibt wohl jedem selbst überlassen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor Sie nun, wo immer Sie sich gerade aufhalten, Ihre VR-Helme abnehmen – natürlich nicht, ohne vorher den „Learned- A-Lot“-Button aktiviert zu haben (Gelächter) – erlauben Sie mir ein Wort in eigener Sache: Zwei Jahre lang stand ich Ihnen nun als Online-Therapy-Guide zur Seite. Jetzt warten neue Herausforderungen auf mich. Meine Nachfolgerin, die Sie ja bereits kennen lernen durften, wird Sie beim nächsten VR-Meeting „Round Insight“ im März begrüßen und ich wünsche ihr und Ihnen allen eine hohe Kompatibilität miteinander. Bleiben Sie uns und der Online-Therapie treu und bleiben Sie stets anschlussfähig. Vielen Dank für Ihre virtuelle Aufmerksamkeit (Gelächter, anhaltender Applaus und Ende).

13. Dezember 2018
von Tom Levold
1 Kommentar

systemagazin Adventskalender: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

Enno Hermans, Essen: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

Mich hat die Fragestellung von Tom Levold für den diesjährigen Adventskalender im systemagazin sehr angesprochen und das hat vor allem auch persönliche Gründe.
Im nächsten Jahr endet nach dann neun Jahren meine Vorstandszeit in der DGSF – die abgelaufene „systemische Dekade“ habe ich also verbandspolitisch sehr umfangreich begleitet. Auf mich wartet eine echte Zäsur und da ist es natürlich besonders spannend, den Blick in die Zukunft auf die nächsten zehn Jahre zu richten.
Wenn ich priorisieren sollte, dann würde ich drei Themen als zentrale Herausforderungen identifizieren und nicht überraschend sind alle drei schon im Toms Aufruf zum Adventskalender genannt:

1. Entwicklung vor/nach und während sozialrechtlicher Anerkennungen
2. Verbandsentwicklungen in einem weiter wachsenden Feld
3. Konsensbildung, was denn „systemisch“ ist und „Qualitätssicherung“

Wie schon beschrieben, möchte ich jeweils zwei Szenarien anbieten, wie es im Advent 2028 aussehen könnte…

1.a. Systemische Therapie ist als psychotherapeutisches Verfahren sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche Teil der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland. Es werden primär an originär systemischen Instituten mehr systemische Psychotherapeuten aus- und weitergebildet. Durch das Psychotherapiestudium an den Universitäten und die entsprechende Besetzung von Lehrstühlen mit Systemikern findet vermehrt systemische Forschung statt. Durch die systemische Therapie im Versorgungssystem verändern sich zunehmend auch Sichtweisen im Gesundheitssystem im Hinblick auf die Beachtung von Wechselwirkungsphänomenen etc.

1.b. Systemische Therapie wird bisher nur für Erwachsene von den Krankenkassen finanziert und das Verfahren der Anerkennung für Kinder und Jugendliche ist noch nicht zum Abschluss gekommen. Dadurch und durch die geringe Zahl der Therapeuten ist eine Versorgungsrelevanz kaum gegeben. Die Ausbildungen und Weiterbildungen in systemischer Therapie finden vorwiegend an Instituten statt, die nicht zu den Verbänden gehören und die aus dem Spektrum der anderen Therapieverfahren kommen. Systemische Therapie wird stark als Methode verstanden, die sich ansonsten den klassischen Logiken des Gesundheitssystems unterordnet.

2.a. Basierend auf den guten Erfahrungen nach der sozialrechtlichen Anerkennung ist es den Verbänden gelungen, alle Systemiker*innen weiterhin unter einem Dach zu vereinen und den wechselseitigen Profit unterschiedlicher Grundberufe und Anwendungsfelder zu sichern. Die vielen Kolleg*innen aus der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit erleben dies ebenso wie die Psychotherapeut*innen aus dem Gesundheitswesen als große Bereicherung. Nach intensiven Diskursen auf allen Ebenen ist der Beschluss gefasst worden, dass eine verbandliche Einheit die systemische Idee in Deutschland noch weiter stärken könnte und in einem mehrstufigen Verfahren werden die beiden Verbände SG und DGSF zu einer Einheit zusammengeführt. Der Abschluss dieses Prozesses steht gerade unmittelbar bevor.

2.b. Vor einigen Jahren kam es bereits zu einer Abspaltung von beiden Verbänden, so dass es nun einen Berufsverband Systemischer Psychotherapeuten gibt und das Gesundheitswesen in SG und DGSF nahezu keine Rolle mehr spielt. Diese Entwicklung haben die nicht im psychosozialen Feld tätigen Systemiker*innen zum Anlass genommen, einen Systemischen Verband für Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung zu gründen, so dass in SG und DGSF die Vielzahl der aus der Profession der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik stammenden Mitglieder verblieben sind. Zwischen den neuen Verbänden gibt es viel Konkurrenz und Widerspruch. Nach außen hin wird die systemische Szene als zerrissen erlebt. Trotz aller Diskurse ist das Thema der Zusammenführung von SG und DGSF bereits Jahre zuvor ohne eine klare Antwort wieder versandet.

3.a. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben eine Verstärkung des theoretischen Diskurses in den Weiterbildungen und Verbänden mit sich gebracht. Es ist nicht mehr einfach alles „systemisch“ und die Entwicklung geht weg von einer Fokussierung auf Tools und Methoden – hin zu der wieder auflebenden Erkenntnis, dass es im Vergleich mit anderen theoretischen und psychotherapeutischen Zugängen um unterschiedliche Epistemologien geht und dass die konkrete methodische Intervention nur das „letzte Glied in der Kette“ eines Prozesses ist, der theoretischen Paradigmen und einer systembezogenen Hypothesenbildung folgt. Dieser theoretische Diskurs findet durch die Präsenz systemischer Psychotherapeuten nun auch verstärkt in den Einrichtungen des Gesundheitswesens statt.

3.b. Vor lauter inflationärer Verwendung ist eigentlich unabhängig vom Anwendungsfeld kaum noch zuzuordnen, was denn eigentlich „systemisch“ ist oder sein könnte. Die Verwechslungen reichen dabei vom reinen Settingsbezug („die mit der Familie“) bis hin zur Überzeugung mit dem Stellen einer einzigen zirkulären Frage auf jeden Fall schon „richtig“ systemisch gearbeitet zu haben. Überhaupt spielen plötzlich Kategorien von „richtig“ und „falsch“ eine große Rolle bei der neuen systemischen Betrachtung von Fallkonstellationen und im Grunde sind auch die systemischen Therapeuten nun immer häufiger diejenigen, die den Klienten sagen, was der Weg zur Lösung ist.

Zugegeben – das alles ist durchaus zugespitzt und jeweils sehr dichotom dargestellt. Eigentlich fühle ich mich beim Schreiben an die beiden Beschlussvorlagen A und B im Gemeinsamen Bundesausschuss erinnert und positioniere mich hier wie da dann gerne eindeutig für die Variante(n) A.
Nun sind komplexe Systeme bekanntermaßen eben nicht linear von außen instruierbar und dessen bin ich mir bewusst. Dennoch glaube ich, dass gemeinsam an vielen Stellen viel beigetragen werden kann, was eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion in Richtung der unter A beschriebenen Szenarien wahrscheinlicher macht. Dafür braucht es Mut, Entschlossenheit, aber auch einen Blick aufs Ganze. Es erfordert, eigene Interessen auch einmal zurückzustellen und das Vertrauen darauf, dass es gut werden wird – wenn auch vielleicht ganz anders als hier oder anderswo erdacht.
Konstruktive und kritische Diskurse über all das und viele spannende Entwicklungen wünsche ich der systemischen Szene für die nächsten zehn Jahre und bin selbst ganz gespannt, an welchen Stellen ich mich einbringen kann und werde.

12. Dezember 2018
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender: Der Siegeszug des Systemischen?

Hartwig Hansen, Hamburg: Der Siegeszug des Systemischen?

Eigentlich ist es ganz einfach. Natürlich ist der systemische Grundgedanke bestechend stimmig und überzeugend: Alles hängt miteinander zusammen! Darum tun wir gut daran, über unseren Tellerrand hinauszuschauen. Wer in Beratung, Sozialarbeit und Supervision relevante Faktoren und „Umwelten“ außer Acht lässt, kriegt es mit ziemlicher Sicherheit im weiteren Verlauf „um die Ohren gehauen“.

Als ich vor über 30 Jahren von den noch weitläufig verstreuten Impulsen der systemischen Grundideen hörte und las, entwickelte ich noch eine gewisse Abneigung gegen diesen schick gewordenen neuen Trend, der eigentlich Selbstverständliches gediegen neu zu verpacken und zu transportieren schien. Moden kommen und gehen, dachte ich bei mir.

Bis ich mich schließlich selbst als systemisch denkend und arbeitend wiederfand, damals noch mit der Gewissheit: Geld verdienen lässt sich damit nicht, weil es eben keine Kassenleistung war und absehbar auch nicht werden würde. In gewisser Weise blieb „die systemische Gemeinde“ dadurch auch noch ein bisschen elitär mit den Vor- und Nachteilen eines Außenseiter-Daseins.

Weil der Grundgedanke „Alles gehört miteinander zusammen!“ aber so naheliegend und überzeugend ist, setzte er sich schließlich – wie im Schreibaufruf von Tom Levold skizziert – ausgesprochen erfolgreich durch, und das interessanterweise eben nicht nur im sozialen und therapeutischen Feld, sondern unter dem Label „Globalisierung“ auch in der Politik.

Es galt jetzt zunehmend als zeitgemäß und „alternativlos“, in größeren Zusammenhängen und Dimensionen zu denken und zu handeln.

Der Europäischen Union traten immer mehr Staaten bei und die G-Treffen der Großen bekamen immer höhere Ziffern hintendran.

Es wurde eine UN-Menschenrechtskonvention für die Rechte behinderter Menschen verabschiedet, und der elegant klingende Begriff „Inklusion“ wurde in der Folge zu oft zu einer neuen „Mogelpackung“, um in Wirklichkeit Kosten sparen zu können.

Aktuell soll der UN-Migrationspakt ohne verbindliche Wirkung der Einzelstaaten unterzeichnet werden.

Man denkt und handelt also durchaus unter dem systemischen Motto: Alles gehört miteinander zusammen – unsere Antworten müssen weltweit sein.

Zumindest in den Sonntagsreden denkt man auch schon mal über (die Bekämpfung der) Fluchtursachen nach – und rüstet gleichzeitig Frontex und die libysche Küstenwache auf.

So weit also der sich offenbar stetig fortsetzende Siegeszug der systemischen Idee bis ins aktuelle Jahrzehnt.

Wenn es doch alles wirklich so einfach wäre und sich diese Idee bis zur erfolgreichen Rettung dieser Erde immer weiter fortsetzen würde.

Ist es aber offenbar nicht, denn mittlerweile überfordert, verängstigt und nervt immer mehr Menschen dieses „ewige, alternativlose Über-den-Tellerrand-schauen-müssen“.

Erstmals gibt es in der Bundesrepublik Deutschland ein „Heimat-Ministerium“, damit die eigene Scholle wieder (mehr) gewürdigt werde.

Erstmals hat sich die Mehrheit einer Nation aus dem langjährig bewährten, friedenwahrenden System der Europäischen Union wieder verabschiedet (Stichwort Brexit).

Erstmals streitet eine amerikanische Regierung – entgegen aller wissenschaftlichen Belege – notorisch die menschgemachten Folgen auf das Weltklima ab.

Über das anhaltende Rollback, das Wiedererstarken von national(istisch)en Bewegungen, den zunehmenden Egoismus im öffentlichen und medialen Leben steht jeden Tag diverses in Ihrer Tageszeitung.

Wer die Augen offen hält, stellt fest, dass der einleuchtenden systemischen Idee bei ihrem „Siegeszug“ relevante Wirkfaktoren in der Psyche des einzelnen Menschen entgegenstehen. Um nur einige davon (ohne Rangfolge) zu nennen: Angst, Neid, Überforderung, Gier, Egozentrik, Machthunger, Empathie-Losigkeit. Bitte setzen Sie die Reihe fort.

Sie merken schon: Das Fragezeichen in der Überschrift ist bewusst gewählt.

Ich habe keine Ahnung, wie es in zehn Jahren um „das Systemische“ stehen wird.

Sein Siegeszug scheint derzeit mit erheblichen Gegenkräften zu tun zu haben.

Das Systemischste, was ich denken kann, sind – mal abgesehen von den Theorien um Schwarze Löcher, die ich eben nicht denken kann – die weltweiten Gefahren des Klimawandels durch jahrzehntelanges, fatales Umgehen mit den Ressourcen dieser Welt.

Dass – beispielhaft – die Menschen, die sich in dieser systemischsten aller Fragen um eine Lösung bemühen, die Macht erlangen bzw. behalten werden, diese Lösung(en) auch durchzusetzen, schätze ich aus heutiger Sicht zunehmend skeptisch ein.

Diese Skepsis bezieht sich auch auf die Lösung mittelgroßer systemischer Fragen.

Wie singen die Fantastischen Vier so treffend:

Es könnt‘ alles so einfach sein, isses aber nicht

Das hab ich mir irgendwie schöner gedacht.

Ich glaub ich hab irgend ’nen Fehler gemacht …

Die Attraktivität und unmittelbare Überzeugungskraft der systemischen Idee wird dadurch nicht geschmälert. Wir müssen jedoch wohl weiterhin „den ganzen Menschen“ im Auge behalten.

11. Dezember 2018
von Tom Levold
3 Kommentare

systemagazin Adventskalender: Systemisch – der Unterschied, der (k)einen Unterschied (mehr) macht!

Heiko Kleve, Witten/Herdecke: Systemisch – der Unterschied, der (k)einen Unterschied (mehr) macht! Oder: Die Ambivalenz des Erfolgs

Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, vom 22. November 2018, die systemische Psychotherapie als krankenkassenfinanziertes Psychotherapieverfahren anzuerkennen, haben die systemischen Fachverbände (insbesondere SG und DGSF) einen großen Erfolg errungen. Nun ist auch die systemische Therapie im Mainstream der anerkannten Psychotherapie-Schulen angekommen. Das ist sicherlich ein beachtlicher Meilenstein in der Entwicklung systemischer Therapie- und Beratungsverfahren, der gebührend gefeiert wurde und weiterhin zelebriert wird.

Ich will diesen Erfolg nicht schmälern, wenn ich seine Ambivalenz hervorhebe. Alles das, was den systemischen Therapieansatz von den anerkannten Mainstreamverfahren der Verhaltenstherapie, der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse abhebt, insbesondere seine erkenntniskritische Haltung, die sich etwa im subversiven Umgang mit der Psychopathologie und dem Diagnostizieren zeigt, steht damit hoffentlich nicht auf dem Spiel. Allerdings müssen wir der Gefahr ins Auge sehen, dass diejenigen, die sich von den Krankenkassen bezahlen lassen, freilich auch deren Regeln nicht nur akzeptieren, sondern auch realisieren müssen. Die systemische Therapie wird nun ebenfalls zunächst psychopathologisch verdinglichen müssen, was sie dann bestenfalls in der Durchführung der Behandlung wieder verflüssigt und pulverisiert: Krankheitszuschreibungen. Sie muss zunächst die Aufmerksamkeit richten auf das, was als Defizit bzw. psycho-sozial als störend bewertet wird, bevor sie den Fokus der Kommunikation auf Resilienzen in der Gegenwart und Vergangenheit sowie auf Lösungen in der Zukunft richten kann. Das will ich hier im Einzelnen nicht weiter vertiefen. Denn ich bin kein Therapeut und damit von dem Sieg der systemischen Psychotherapie nicht direkt betroffen.

Vielmehr will ich meine Hoffnung darüber ausdrücken, dass durch den Eintritt in den Olymp anerkannter Psychotherapieverfahren der systemische Ansatz in seinen nicht-therapeutischen Varianten, wie etwa der psycho-sozialen Beratung, der Supervision, dem Coaching, der Organisationsberatung oder der Pädagogik wieder freier, rebellischer und aufmüpfiger werden kann. Denn das ist es doch, was viele in den Anfangstagen der systemischen Bewegung motiviert hat, dieser unorthodoxen Denk- und Handlungsrichtung zu folgen: ihre andere Art, die Welt und deren Phänomene zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten.

Besonders radikal kann das (wieder) gelingen, wenn wir Niklas Luhmann noch intensiver als bisher rezipieren. Die systemischen Akteure können mit diesem „Anwalt des Teufels“, wie Peter Sloterdijk Luhmann in einer Freiburger Rede im Jahre 1999 aufgrund der diabolischen Paradoxie-Verliebtheit der Systemtheorie mal genannt hat, daran erinnert werden, dass sie es selbst sind, die mit ihrer Aufmerksamkeitsfokussierung das mit konstruieren, was sie als Problem bewerten und zu lösen versuchen. Luhmann hat dies besonders deutlich formuliert; womit wir abschließend an die systemischen Psychotherapeuten appellieren wollen, dass sie diese systemtheoretische Lektion auch im Trubel ihres Erfolgs nicht verlernen sollten: “wenn man wissen will, was ‚pathologisch‘ ist, muß man den Beobachter beobachten, der diese Beschreibung verwendet, und nicht das, was so beschrieben wird.“[i]

[i] Luhmann, N. (1990): Glück und Unglück der Kommunikation in Familien, in: ders. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 218-227.

 

10. Dezember 2018
von Tom Levold
11 Kommentare

systemagazin Adventskalender: Die Vertreibung ins Paradies?

Rudolf Klein, Merzig: Die Vertreibung ins Paradies?

Nach jahrelangen Mühen und enormen personellen und finanziellen Investitionen ist es nun endlich so weit: Die Wächter der heiligen Pforte zum Eintritt ins Paradies namens Gesundheitssystem haben den Weg für die systemische Therapie freigemacht. Die sozialrechtliche Anerkennung ist erreicht. Halleluja!

Approbierte psychologische und ärztliche PsychotherapeutInnen können nun systemische Therapien abrechnen. Das haben viele zwar schon in den vergangenen Jahren, unter falscher Flagge segelnd, so praktiziert, nun ist es aber offiziell erlaubt und kann auch so benannt werden.

Diese Entscheidung eröffnet die Möglichkeit, an die Fleischtöpfe der Krankenkassen zu kommen. Und vielleicht wird auch von dem Einen oder Anderen gehofft, damit systemische und kritische Ideen in das sogenannte Gesundheitssystem zu transportieren und dieses entsprechend zu reformieren. Zum Beispiel durch eine Infragestellung der an Defiziten orientierten Diagnostik und einer Dekonstruktion von Krankheit, durch eine kontextsensible Praxis, durch eine flexible Gestaltung von Settings, durch kürzere und effektivere Therapien usw.

Die Sache mit dem Geld mag zutreffen, beim zweiten Punkt bin ich mehr als skeptisch. Denn: Lediglich die Pforte wurde durchlässiger – nicht hingegen die Bedingungen und Strukturen des Gesundheitssystems selbst. Hier wird nach wie vor auf Einhaltung eingeführter Regeln geachtet. Sei es der Umgang mit Diagnosen, sei es das Gutachterverfahren, sei es die Anzahl der Sitzungen und deren Settingwahl.

Wenn man die Entwicklung der Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten beobachtet, kann einem angst und bange werden. Ein eher progressiver Ansatz wurde Stück für Stück handzahm gemacht und in Richtung Stromlinie geformt, besser: die VT hat sich ganz von alleine geschmeidig angepasst. Wie gesagt: Fleischtöpfe ja, systemische Veränderungen eher nein.

Auch wird es berufspolitisch zu einer Spaltung kommen. Wenn man bedenkt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil aller AusbildungskandidatInnen SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind, wird für diese Berufsgruppen eher ein Ausschluss aus dem psychotherapeutischen Bereich die Folge sein. Das kann man im stationären Bereich, z.B. in Suchtkliniken, bereits jetzt beobachten. Nicht gerade die beste Lobbyarbeit der beiden Dachverbände. Weiterlesen →

9. Dezember 2018
von Tom Levold
3 Kommentare

systemagazin Adventskalender: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude“

Martin Rufer, Bern: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, denn euch ist heute ein Kind geboren“: Systemische Therapie sozialrechtlich anerkannt!

Maria, Joseph und die drei Weisen aus dem Morgenland stehen zusammen bei der Wiege und diskutieren heftig darüber, wer denn nun die Eltern dieses Kindes seien:

Maria: Ich weiss nur eins: ich habe dieses Kind nicht zur Welt gebracht.

Caspar: Wer denn sonst? Es wird euch wohl nicht einfach so in die Wiege gelegt worden sein.

Melchior: Warum nicht, möglich ist heute alles, denn bis vor kurzem waren wir ja drei ja gar nicht da, sondern weit weg und in warmen Stuben.

Balthasar: Ich auf jeden Fall bin ich nicht der Vater, das sieht man ja von blossem Auge. Dieses Kind ist weisser als weiss.

Josef: Ich übrigens auch nicht, denn seit mehr als einem Jahr sind wir, Maria und ich, als Fremdlinge unterwegs von Tür zu Tür auf der Suche nach Anerkennung.

Melchior zu Caspar (flüsternd): …wahrscheinlich meint er „fremd gegangen“ und hat nun das Kuckucksei heute Nacht in die Wiege gelegt und es seiner kinderlosen Frau untergejubelt…

Melchior: Ist es überhaupt wichtig zu wissen, wer der Erzeuger ist, wenn nicht mal klar ist, wer die Mutter ist. Und schliesslich sind wir drei ja nicht Pharisäer oder Schriftgelehrte, die darüber richten und entscheiden müssen, wessen Kind dies ist. Weiterlesen →

8. Dezember 2018
von Tom Levold
1 Kommentar

systemagazin Adventskalender – Gemächlich in die Zukunft

Bernd Schmid, Wiesloch: Gemächlich in die Zukunft

Ich bin nun annähernd 2 Jahre im Ruhestand. Zum Erstaunen mancher Kollegen habe ich mich von allen öffentlichen Bühnen zurückgezogen, wirke lediglich im Hintergrund und schreibe, wenn ich Lust dazu habe. Nicht, dass ich untätig wäre, doch ich lasse mich nicht mehr von To Do Listen stressen. Es ist ja nicht die Arbeit, sondern der ständig nachwachsende Berg an Unerledigtem, der einen stresst.

Mein neues Wappentier ist die Schnecke. An neueren Entwicklungen nehme ich gemächlich teil.

Kulturelle Evolution auch im systemischen Feld ist eh auch nur im Schneckentempo unterwegs, zumindest was aufbauende Entwicklungen betrifft.

Wird es überhaupt so viel Neues in den nächsten 10 Jahren geben? Ich glaube nicht.

Dieser Tage kamen mir zwei meiner Texte unter. Der eine über Professionsentwicklung aus systemischer Sicht und der andere über Ethik und Professionalität. Was ich dort lese, könnte heute als brandneu veröffentlicht werden. Ich wüsste nichts Neues zu diesen Themen. Dabei sind mehr als 25 Jahre vergangen, seit diese Texte erschienen sind. Warum sollte das in Zukunft anders sein?

Aber vielleicht liegt es daran, dass systemisches Gedankengut bei näherem Hinsehen eh Jahrhunderte alt ist. Wir finden es bei Kant, in der Weimarer Romantik und bestimmt bei den alten Griechen oder im Sanskrit, auch wenn ich nicht weiß wo.

Auf der anderen Seite bin ich immer wieder verblüfft, wenn ich Denkweisen und Wirklichkeitsvorstellungen begegne, die einen Grundkurs Konstruktivismus und systemisches Zusammenhangsdenken dringend nötig haben. Aber brauchen wir dafür neuere Entwicklungen? Wahrscheinlich geht es nicht darum, Neues zu finden, sondern systemisches Denken den antiaufklärerischen Tendenzen, die derzeit weltweit Urstände feiern, immer wieder neu entgegen zu halten. Dafür brauchen wir das Ernstnehmen von Kontexten, die Kombination mit Inhalten, von denen wir wirklich etwas verstehen, das Erreichen von Menschen, die konkret in Verantwortung stehen. Dazu sind Sach- und Feldkenntnisse sowie Durchhaltevermögen angesagt und der Respekt vor Menschen, die unsere Gesellschaft am Funktionieren halten. Also Nase runter, damit man sieht, wohin man seine Füße setzt und sich auf Augenhöhe dienlich machen. Und das durchaus mit angemessener Muse, weil man daraus den Sinn für Wesentliches schöpfen kann und eben nur ein Leben hat.

7. Dezember 2018
von Tom Levold
8 Kommentare

systemagazin Adventskalender – Paradoxe Zeiten

Arist von Schlippe, Osnabrück: Paradoxe Zeiten

Nun ist sie also da, die lang erwartete Anerkennung der systemischen Therapie. Ich erinnere mich gut an die entscheidende Sitzung in Köln am 18.12.2004, auf der eine Gruppe von zwölf Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Praxis, zusammen mit VertreterInnen der SG (ich war damals im Vorstand) und der DGSF nach langer und kontroverser Diskussion entschied, noch einmal in die Auseinandersetzung zu gehen, ein neues Gutachten und einen neuen Antrag auf den Weg zu bringen und dafür zu kämpfen, dass die systemische Therapie als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren sich auf Augenhöhe in der Versorgung psychischer Erkrankungen behaupten kann. Und nun ist die Anerkennung da, endlich und nach all der Vorarbeit wohlverdient.

Moment mal, habe ich da gerade, ganz locker und ohne nachzudenken (natürlich nicht…) das Wort „psychische Erkrankungen“ verwendet und auch noch ohne Anführungszeichen? War da nicht was? Genau! Ein Kernthema, ein Essential eines systemischen Blicks auf die Welt ist es doch, immer wieder kritisch zu hinterfragen, inwieweit es nicht ein Kategorienfehler ist, Phänomene mit medizinischen Begriffen zu belegen, die in sich im Bereich menschlicher Sinnerzeugung bewegen. Diese, die Sinndimension, ist bekanntlich psychischen und sozialen Systemen vorbehalten, während „Krankheit“ sich auf der Ebene „Leben“, also biologischer Systemprozesse bewegt. Die Skepsis der systemischen Therapie war schon in den Anfängen und ist bis heute groß, ob eine Nomenklatur, die bestimmte psychische Phänomene als „Krankheit“ bezeichnet, nicht genau an der Erzeugung und „Betonierung“ eben der Phänomene beteiligt ist, die sie nur harmlos zu „beschreiben“ vorgibt. Denn hier haben wir es mit Phänomenen zu tun, die man sich nicht vorstellen kann, ohne die Art und Weise mitzubedenken, wie ein Mensch mit sich selbst und/oder mit anderen spricht. Die Beschreibung greift in das Beschriebene ein, wir wie wissen. Wenn wir die Art, wie Menschen leidvoll Sprache verwenden, als „Krankheit“ bezeichnen, dann erzeugen wir aus Sicht systemischer Erkenntnistheorie eine Paradoxie. Weiterlesen →

6. Dezember 2018
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender – Kleine Dystopie

Barbara Bräutigam, Stralsund: Kleine Dystopie

Die Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie (DGST) hat am 23. 11. 2028 zum zehnjährigen Jubiläum ihrer Anerkennung als nützliches und notwendiges Verfahren eingeladen. Mit von der Partie ist auch die DGSBCP – die Deutsche Gesellschaft für systemische Beratung, Coaching und Prävention. Die Vorsitzenden beider Gesellschaften tauschen wertschätzende Phrasen aus – die beiden können sich nicht ausstehen. In der Festrede des Vorsitzenden der DGST wird insbesondere hervorgehoben, wie hervorragend es gelungen sei, die Patientenversorgung zu verbessern sowie mehrere deutsche Studien zur Wirksamkeitsüberprüfung der systemischen Therapie zu initiieren – die systemische Therapie werde mittlerweile bei Suchterkrankungen und bei Anpassungsstörungen als primäre Methode in den Leitlinien empfohlen und habe in diesen Bereichen das Monopol der Verhaltenstherapie erfolgreich zurückgedrängt. Die Vorsitzende der DGSBCP hebt maliziös hervor, dass man dem Schwesternverband natürlich herzlich zu seinen unbestreitbaren Erfolgen gratuliere aber man doch nicht umhin könne zu bedauern, dass vom systemischen Kerngedanken nicht mehr viel übriggeblieben sei – die systemische Therapie habe sich immer weiter zu einem gesellschaftlich angepassten, diagnosehörigen und manualgläubigen Verfahren entwickelt und dabei alles Bunte und Widerständige an ihren Schwesterverband ausgelagert. Darüber sei man natürlich glücklich, auch wenn es die Organisation des Verbandes nicht unbedingt einfacher mache. In der Zuhörerschaft entsteht ein Gemurmel. Ein junger Mann flüstert seiner deutlich älteren Nachbarin zu, „was meint die denn mit systemischem Kerngedanken?“ „Tja, wahrscheinlich, dass alles irgendwie miteinander zusammenhängt und lineare Erfolgszuschreibungen sich nicht gehören“, antwortet diese vage. „Hm“, meint der junge Mann, „und wieso soll das verloren sein?“ „Kausalfragen führen zu nichts“, erwidert seine Nebenfrau, „es sei denn die Lage ist eindeutig, was sie ja bekanntlich eigentlich nie ist.“

5. Dezember 2018
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender – Das systemische Feld in zehn Jahren

Hans Lieb, Edenkoven: Das systemische Feld in zehn Jahren

Wir befinden uns im Jahre 2028 und blicken zurück. Ich zentriere mich auf das mir vertrautere Gebiet der Systemtherapie im klinischen Sektor.

Die Systemtherapie ist sozialrechtlich als kassenfinanziertes Verfahren anerkannt – zuerst für den Bereich der Erwachsenen, dann auch für die Kinder – Jugendlichentherapie.

Welche Prognosen hatte es dazu in 2018 gegeben ?

Man hatte sich sehr viel Positives versprochen: Abrechnungsmöglichkeiten; weitere gesellschaftliche Anerkennung des systemischen Ansatz mit Prestigegewinne für Systemtherapeuten; Zugang vieler Menschen zur Systemtherapie.
Es gab aber auch berechtigte Sorgen: Das unvermeidliche Hantieren mit Sprachfiguren und Logiken des traditionell medizinisch ausgerichteten „Gesundheitssystems“ würden unbenommen aller Konstruktivismus-Bekenntnisse die Köpfe der darin tätigen Systemiker infiltrieren. Auf dem Markt der Selbständigen würde es zu einer Spaltung zwischen finanziell abgesicherten „Kassenabrechnern“ und weiter auf „Selbstzahler“ angewiesenen Systemikern kommen. Es könne zur Gründung einer eigenen Gesellschaft der „Systemischen Vertragspsychotherapeuten“ kommen.

Nun stelle ich 2028 zurückschauend fest: Es ist gut gelaufen – die Negativprognosen haben sich nicht erfüllt.

Systemtherapie wird in etlichen Praxen für Erwachsenen und Kinder / Jugendliche und deren Familien als „Kassenleistung“ durchgeführt. Deren Erfolge haben sich herumgesprochen. Viele Menschen, die sonst keinen Zugang dazu hätten, finden nun zur Systemtherapie. Systemiker haben das, was die damaligen Hauptakteure auf dem Weg zur sozialrechtlichen Anerkennung hierzu bereits erfolgreich aufgebaut hatten, noch weiter entwickelt: Die Systemtherapie hat heute einen festen Platz im Gesundheitssystem: als Kollegen mit Vertragspsychotherapeuten anderer Schulen, als Gutachter, bei Konferenzen. Man anerkennt sich dort gegenseitig. Die Systemiker haben dazu Wesentliches beigetragen: Mit im Gesundheitswesen anders Denkenden selbstbewusst und konstruktiv zu kommunizieren und zu diskutieren.

Die befürchtete subtile Aushöhlung der eigenen systemischen Identität durch die Übernahme ontologischer Krankheitslogiken hat keineswegs stattgefunden. Maßgeblich dafür war die Installation permanenter individueller und vor allem kollektiver diesbezüglicher bewusster Selbstbeobachtungen: In Ausbildungen, Supervisionen, Tagungen und Veröffentlichungen wurde und wird stets reflektiert, was in Köpfen, Interaktionen und Verbänden passiert, wenn man als Systemiker an das Gesundheitssystem ankoppelt und dort mit ontologischen Krankheitskonzepten operiert. Systemiker beherrschen mehr und mehr die Kunst, mir diesen Logiken kreativ umzugehen: mal dekonstruierend, mal diese nützend und manchmal solche auch bewußt konstruierend. So hat man sich im Gesamten die systemische Identität gewahrt.

Die Anerkennung des systemischen Ansatzes ist auf vielen weiteren gesellschaftlichen Gebieten gestiegen – so in der Kinder – und Jugendhilfe, ambulant und stationär, in der Organisationsberatung usw. Die systemische Community geht konstruktiv und kreativ mit der im Gesundheitswesen entscheidenden Leitunterscheidung „krank – gesund“ – bzw. hier genauer „krankheitswertig problembelastet“ (Kasse zahlt) und „nichtkrankheitswertig problembelastet (Kasse zahlt nicht) – um. Das hatte eine innerhalb der systemischen Community einen positiven Effekt für die „Nichtabrechner“: Kraft und Nutzen des Systemische Ansatz für beide Seiten dieser Unterscheidung sind immer bekannter geworden, weshalb die Nachfrage nach systemischer Therapie und Beratung auch bei Systemtherapeuten ohne Kassenzulassung zugenommen hat.

Es gibt jetzt in 2028 begründete Hoffnungen , dass das alles auch bis 2038 so positiv weitergehen weitergeht.

4. Dezember 2018
von Tom Levold
2 Kommentare

systemagazin Adventskalender – Muss überall draufstehen, was drin ist?

Bruno Hildenbrand, Marburg: Muss überall draufstehen, was drin ist?

In seinem Aufruf, zum Adventskalender 2018 beizutragen, schreibt Tom Levold: „das Label ‚systemisch‘ ist überall zu finden, aber ist auch immer ,systemisch‘ drin, wenn ,systemisch‘ drauf steht?“

An dieser Frage will ich mit meinem Beitrag einsetzen. Für mich gilt, an die eigene Nase zu fassen. Als wir im Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen (heute: Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen/Zürich) 1996 mit einem eigenen Konzept an die Öffentlichkeit traten, nannten wir unser Buch „Systemische Therapie als Begegnung“. Auch noch die 4. Aufl. 2004 trug diesen Titel. Wider besseres Wissen, denn weder war in diesem Buch viel „Systemisches“ drin, noch traf der Titel unser Schlüsselkonzept. Dieses lautet: „Fallverstehen in der Begegnung“.
Ein Sprung auf das Trittbrett des „Systemischen“ musste damals sein, wollte man im Feld überhaupt wahrgenommen werden. Ich selber als der damals etatmäßige Schreibknecht bin ein von der Phänomenologie beeinflusster Soziologe, und außer Rosmarie Welter-Enderlin hat sich in der Projektgruppe niemand zu öffentlichen Glaubensbekenntnissen zur Systemtheorie hinreißen lassen, weder Robert Waeschle noch Reinhard Waeber noch ich. Ein schlechtes Gewissen ob dieser Trittbrettfahrerei hat mich persönlich immer wieder einmal beschlichen; es hätte sich später mitunter angeboten, eine Renegatenkarriere anzutreten. Stattdessen habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, dass die systemtheoretische Orientierung einen Ausweg aus der Innerlichkeit gängiger therapeutischer Verfahren ermöglicht und den Blick auf den Kontext der Klienten eröffnet hat – dem Soziologen kommt das gerade recht.
Nun will Tom noch wissen, wie man die Zukunft der systemischen Therapie sieht. Mehr als die im vorigen Abschnitt erwähnte Blickrichtungsänderung, die vollmundig als „kopernikanische Wende“ etikettiert wurde (klein waren die Brötchen selten, die damals gebacken wurden) wird die nächsten zehn Jahre nicht überstehen.
Und überhaupt: Muss überall draufstehen, was drin ist? Wer in eine Mineralwasserflasche Lösungsmittel schüttet, ohne das zu markieren, kann unter Umständen großen Schaden anrichten. Ich kenne theoretische Soziologen, die angesichts eines an der Phänomenologie orientierten Soziologen, der sich mit Systemikern gemein macht, im günstigen Fall die Nase rümpfen, im schlimmsten Fall Zeter und Mordio schreien. Das sind dann besonders jene, die die Welt vor allem aus der Perspektive ihrer akademischen Überheblichkeit sehen. Die Handlungsperspektive ist für solche Leute irrelevant (ein Pamphlet wollte ich an dieser Stelle vermeiden, auch wenn Tom ausdrücklich dazu ermuntert hat). Ich jedoch halte dafür, dass es im therapeutischen Handeln nicht darauf ankommt, was draufsteht, sondern darauf, wie die Wirklichkeit dieses Handelns aussieht. Diesem Punkt haben wir in unserem Buch über „Systemische Therapie als Begegnung“ breiten Raum gewidmet: Die vierte Auflage enthält eine Zehnjahres-Katamnese therapeutischen Handelns bei einer „Multiproblem-Familie“ mit bäuerlichem Hintergrund. Andere hätten in diesem Zeitraum den Fall längst aus den Augen verloren.

3. Dezember 2018
von Tom Levold
Keine Kommentare

systemagazin Adventskalender – Die Systemische Therapie ist flügge geworden – kritischer Rück-Blick und Aus-Blick

Dennis Gildehaus, Bad Zwischenahn: Die Systemische Therapie ist flügge geworden – kritischer Rück-Blick und Aus-Blick

Vor 18 Jahren beschäftigte ich mich rein zufällig mit dem Begriff „Systemische Beratung“. Damals noch in der stationären Jugendhilfe tätig, suchte ich nach einer passenden Fort- bzw. Weiterbildung, um Jugendlichen, die als „kompliziert oder sogar schwer erziehbar“ galten, einen passenden Rahmen zu bieten, in dem es nicht nach Sekunden verbal eskalierte. Begriffe wie Deeskalationstraining oder PART – Professional Assault Response Training waren die Highlights in einem Fortbildungsprogramm für PädagogInnen und TherapeutInnen der Jugendhilfe.

So meldete ich mich für die beiden Fortbildungen an und musste leider sehr schmerzlich erfahren, dass es stets darum ging, sehr linear Jugendlichen einen Impuls bzw. Rahmen zu bieten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Dies soll nicht heißen, dass die Inhalte unprofessionell waren, aber ich hatte immer gehofft, dass es auch darum gehen könnte, mit dem Familiensystem zu arbeiten. Es wurde ja immer postuliert, dass es um zeitnahe Rückführungen der Jugendlichen gehen sollte. Aber wie konnte dies umgesetzt werden, wenn es keine Arbeit mit dem System gab oder das System nichts mit uns zu tun haben wollte?

Diese Fragen lenkten mich zielgerichtet auf die nagelneue Homepage der DGSF, auf der viele Beiträge veröffentlicht wurden, was „systemisch“ eigentlich heißt. Ich habe jede Seite rauf- und runtergelesen und fühlte mich komplett elektrisiert. Das erste Mal hatte ich das Gefühl, dass es endlich in die Richtung ging, die ich mir immer erhoffte – von linearer Haltung zur systemischen Praxis.

Es wurden einige akkreditierte Institute angezeigt und am folgenden Tag korrespondierte ich mit einem Leiter eines systemischen Fortbildungsinstitutes in Nordrhein-Westfalen. Die Anmeldung für eine 2-jährige Ausbildung zum systemischen Berater mit Anschlussmöglichkeit zur 2-jährigen systemischen Therapieausbildung war direkt auf dem Postweg.

Aus heutiger Sicht eröffnete sich mir eine komplett neue Welt und es fühlte sich wie ein Paradigmenwechsel an. Nicht nur gefesselt von all den faszinierenden und aus meiner Sicht innovativen Methoden, die ich damals als „kompletter Neueinsteiger“ lernte (Arbeit am Familienbrett, Umgang mit der von Frank Natho herausgebrachten Skalierungsscheibe, Reflecting Team, Reframing, systemische Fragetechniken, den genialen Impact-Techniken, paradoxen Interventionen, Arbeit mit dem Tetralemma u.v.m.), sondern insbesondere auch die Auseinandersetzung mit all den Pionieren aus dem systemischen Feld, beeinflussten meine professionelle Entwicklung hin zum Systemischen Therapeuten. Weiterlesen →

2. Dezember 2018
von Tom Levold
1 Kommentar

systemagazin Adventskalender – Was bleibt vom Wegweiser?

Clemens Lücke, Lindlar: Was bleibt vom Wegweiser?

Als ich als junger Suchttherapeut 1990 zur Familientherapie-Ausbildung kam, fühlte ich mich von Gisela Osterhold und Haja Molter schon provoziert von deren Aussagen: „Es gibt keine Diagnosen. Es gibt nur die momentan beste Lösung, die das System findet!“ Ich hatte da schon einige Jahre mit Alkoholikern und dem chronischen Alkoholismus „F.10. folgende“ zu tun.
Der neue Wegweiser, den es galt zu erarbeiten, war die immer wieder kehrende Schleife, das System, so wie es ist, erst einmal wertzuschätzen. Für mich war es die größtmögliche Evolution in meiner beruflichen (vielleicht auch privaten) Karriere. Ein wirkliches Umdenken, das Erwerben einer neuen Haltung. Dazu kam, dass ich das Neue in meiner täglichen Arbeit ausprobieren  und die Erfolge sehen konnte.

Wegweiser (Foto: Ute Oessenich-Lücke)

Foto: Ute Oessenich-Lücke

Heute bin 65 Jahre alt und immer noch Systemiker. Jetzt kommt der Tom und fragt, was wird in 10 Jahren? Ich muß zugeben, dass es auf diese Frage mindestens zwei Antworten gibt. Die eine ist die Anerkennung einer Therapieform, die auch in meiner Praxis außerordentlich erfolgreich ist. Die Familientherapie bewegt zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen immer noch was, wenn die Kollegen schon aufgeben. Trotzdem müssen die Familien selber zahlen. das ist unglaublich und nur in Deutschland möglich.
Die andere Antwort geht in die Skepsis: die Systemische Therapie und das systemische Denken hatten und haben immer etwas Kreatives und Neues gehabt. Verrücktes durfte sein. Wird das im Kassenkorsett weiter möglich sein? Weiter denken, neu denken, die Dinge umkehren bei konstanter Wertschätzung. Wenn ich in Kontakt mit den kassenzugelassenen Kollegen bin und mitbekomme, wie alles reguliert und vorgeschrieben ist, kommen Zweifel.
Natürlich gibt es noch viel mehr Antworten, aber das sind schon mal zwei.