systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

21. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Gedankensplitter zur Zukunft von DGSF und SG

Wilhelm Rotthaus, Bergheim: Gedankensplitter zur Zukunftvon DGSF und  SG

Die Entscheidung des GBA und die anstehende Aufnahme der Systemischen Therapie für Erwachsene – und hoffentlich nicht unendlicher Ferne die der Systemischen Therapie für Kinder und Jugendliche – wird zu einer Veränderung der Verbände-Landschaft im systemischen Feld führen. Diese Veränderung kann, wenn sie denn gelingt, in den verschiedenen Arbeitsfeldern wichtige Entwicklungsimpulse anstoßen, wenn „die Systemiker“ in der nächsten Zeit diskutieren und klären, was ihnen für die Zukunft wichtig ist und welche Erfordernisse für eine positive Entwicklung erfüllt sein müssen.

Die folgenden Themen drängen sich auf:

  • Je erfolgreicher sich systemisches Arbeiten in den unterschiedlichen Praxisfeldern verbreitet, umso größer wird die Gefahr der Banalisierung der grundlegenden systemischen Ideen. Dies ist bereits jetzt zu beobachten und findet seinen Ausdruck in der derzeit häufig – teils mit anderen Worten und Bildern – formulierten Frage: „Ist eigentlich immer systemisch drin, wo systemisch draufsteht?“ Diese Gefahr nimmt selbstverständlich zu, wenn in den nächsten zehn Jahren allmählich die Zahl systemisch ausgebildeter Psychotherapeutinnen steigt. Das ist kein originär systemisches Problem. Aber wenn uns die grundlegenden und in allen Arbeitsfeldern immer noch revolutionären Ideen systemisch orientierten Arbeitens am Herzen liegen, werden wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir dieser Gefahr der Banalisierung entgegentreten wollen.
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20. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Muss überall draufstehen, was drin ist?

Peter Fuchs, Bad Sassendorf: Muss überall draufstehen, was drin ist?

Die  Frage, die im Titel formuliert ist, ist seltsam vieldeutig. Sie liefert sogar ein Exempel mit, denn in diesem‚Adventskalender‘ steht nicht drin, was er verspricht: Weihnachtliches, Besinnliches, gar Christliches. Vielleicht ließe sich ein passenderes Wort wie ‚systemlich‘ erfinden, das man mit ‚traulich‘ verknüpfen könnte, mit ‚behaglicher Behaustheit‘. Eine Tagung, an der ich teilnahm, verhieß (glaube ich) Schokoladisches: ‚Systemisch – praktisch – gut‘. Ein bisschen heimelig klingt aber auch die ‚Systemische Trauerfloristik‘. Was meines Wissens nur noch fehlt, ist systemisches Weihnachten.

Aber Spaß beiseite, tatsächlich habe ich eine Aversion gegen das Systemische, und das nicht nur, weil man ihm unterstellen kann, dass viele Leute ‚systemisch‘ haben wie andere Leute ‚Rücken‘ oder endlos schreiende Kleinstkinder ‚Baby‘. Der Grund für meine Abneigung ist einfach, nämlich, dass das Systemische kein Begriff und deshalb in gewisser Weise vogelfrei zu sein scheint. Vielleicht liegt die Ursache darin, dass man es mit einer konventionalisierten Metapher zu tun hat, die im Dienst von Reflexionsblockaden bzw.Kommunikationssperren steht – ebenso wie die lexikalisierte Metapher der Praxis.

Wenn ich das so sage, müsste ich aber auch ein Angebot unterbreiten, wie vielleicht der Unbegriff des Systemischen begrifflicher werden könnte. Für mich gibt es in diesemZusammenhang einen Weg, den ich selbst immer wieder begehe: die Referenz auf das, was in der Systemtheorie (jedoch nicht nur dort) Limitationalität genannt wird. Die Methode ist einfach. Man muss sich nur daran gewöhnen, die Frage nach dem Systemischen via negationis zustellen – etwa so:

Was ist das Systemische nicht?

Damit wird ein Negationshorizont aufgespannt. Trivial wäre eine Antwort wie: Es ist kein Lebkuchen, kein süßer Glockenklang, kein Christkind in ‚Präsepio‘. Nichttrivial ist dagegen:

Das Systemische ist kein System.

Weshalb nicht? Es findet sich keine Grenze, bezeichnender Weise auch nicht für Praxis. Was bleibt, sind Anmutungen und Eklektizismen, derenFunktion darin besteht, Vagheit aufrechtzuerhalten. Das ist nicht negativ gemeint. Jene Antwort formuliert nur eine deutlich undeutliche Paradoxie, die man auch als ‚Sprunggelegenheit‘ auffassen kann, die Limitationsfrage zu erweitern:

Was wäre das Systemische dann, wenn es nicht als System beobachtet werden könnte?

Na ja, so adventlich ist die Frage nicht. Aber vielleicht kommt sie an.

19. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Haltung bewahren!

Andreas Wern, Leverkusen: Haltung bewahren!

Systemische Praxis hat über die letzten Jahrzehnte eine enorme Vielfalt gewonnen – sowohl methodisch, als auch hinsichtlich ihrerAnwendungsfelder. Alleine diese Entwicklung stellt an die Systemiker meinerAnsicht nach die ständige Herausforderung als Beobachter ihrer eigenen PraxisUnterscheidungen einzuführen, was Systemisches zu einem Zeitpunkt X ist und was es nicht ist. Das kann natürlich nur im Bewusstsein geschehen, dass andereBeobachter, ob Systemiker oder nicht, andere Unterscheidungen treffen oder man selbst zum Zeitpunkt Y anders unterscheidet. Mit der sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie ist dies nicht einfacher geworden.Relevante nicht-systemisch-geschulte Beobachter haben damit das Feld betreten und mit ihnen mit Sicherheit auch andere Unterschiedsbildungen. Letztlich gilt es, Identität unter Bedingungen höherer Komplexität zu konstruieren, ohne dabei interne Komplexität aufzugeben.

Meine ganze eigene Konstruktion des Systemischen basiert darauf, dass letztlich eine bestimmte systemische Haltung systemische Praxis auszeichnen sollte. Haltung ruht dabei auf systemischer Theoriebildung und deren Kenntnis. Danach handeln Systemiker systemtheoretisch informiert und auf der Basis einer konstruktivistischen Epistemologie. Dies müsste natürlich noch weiter ausdifferenziert werden und zwar in dem ständigen Bewusstsein, dass dies nur eine mögliche Sichtweise ist. An dieser Stelle soll es aber genügen, den Fokus auf die systemische Haltung zu richten.

Die aktuelle Situation birgt große Chancen, aber auchGefahren. Die Systemische Therapie hat nun auch offiziell im Gesundheitswesen einen angemessenen Platz erhalten. Die zentrale Frage vor dem Hintergrund dieser Entwicklung besteht für mich darin, was daraus gemacht wird.

Werden systemische Konzepte perspektivisch verdinglicht oder trägt systemische Praxis zur Verflüssigung mancher überkommenen Konzepte bei?Nehmen systemische Therapeuten für sich zukünftig „Wahrheit“ in Anspruch oder streuen sie Zweifel an manchen vermeintlichen „Wahrheiten“? Wird sich dieAufmerksamkeit zukünftig nur auf die anerkannten systemischen Therapeuten konzentrieren oder werden andere Berufsgruppen, die z.B. allein aufgrund geltendem Rechts diese Anerkennung nicht erhalten können, gleichzeitig aber wesentliche Beiträge zur Entwicklung systemischer Theorie und Praxis leisten, gleichwertige Partner bleiben?

Die Liste der Fragen wäre noch deutlich zu erweitern.

Meine ganz persönlicher Rat oder Wunsch für die Zukunft an alle Systemiker ist: Haltung bewahren!

Dann wird vielleicht alles gut.

Ich wünsche eine schöne Adventszeit!

18. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Wenn ich mir was wünschen dürfte…

Andreas Wahlster, Ladenburg: Wenn ich mir was wünschen dürfte…

Tom hat uns Leitfragen mitgegeben, für mich nicht eben leicht, dazu was Sinnhaftes beizutragen. Geholfen hat mir, dass ich schon in den ersten Türchen des Adventskalenders spicken durfte. Es hat mich entlastet, etwas originell Anmutendes schreiben zu müssen und so bleibe ich bei den Essentials. Mit Prognosen ist es so eine Sache, ich beschränke mich lieber auf Hoffnungen.

Ich erhoffe mir:

  • Dass das Wissen um die Qualität der Begegnung zwischen Klient*in und Profi als das höchste Gut gepflegt wird
  • Dass das Wissen gepflegt wird, dass ein Methodenfeuerwerk noch keinen Unterschied macht, sondern die Haltung und Kunstfertigkeit des Profis
  • Dass das immer wieder aufflackernde Interventionsgetöse leiser wird
  • Dass eine stete Selbstbeobachtung im Sinne der guten alten Kybernetik II. Ordnung als Leitmotiv gelebt wird
  • Dass das schon vorhandene Wissen um Selbstorganisationstheorien und Synergetik sich erweitern und verbreiten möge

Ich glaube, dass die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie als Richtlinienverfahren zur Folge haben wird, dass das für Systemiker*innen fremde Spiel mit zunächst fremden Regeln zu einem bekannten Spiel werden wird. Dazu diese Begebenheit: Zu Beginn meiner Tätigkeit in der stationären forensischen Psychiatrie fragte mich ein erfahrender Mitarbeiter, ob ich das sog. psychiatrische Prinzip kennen würde. Ich antwortete mit nein und er erläuterte mir also das psychiatrische Prinzip: „Einlaufen, auflaufen, ablaufen“.
Aber womöglich war es so gewollt, dieses Spiel zu spielen. Wolfgang Loth hat es in seinem Kommentar zum Kalender-Beitrag von Arist von Schlippe treffend beschrieben, er schrieb von interessengeleiteten Zielen. Im Diskurs um die sozialrechtliche Anerkennung wurden diese nur verschämt benannt, hingegen wurde mit dem Motiv, daß systemische Therapie nun allen hilfesuchenden Menschen zugute käme, fast reflexartig argumentiert.
Der anhaltende Hype um „das Systemische“ stellt uns Aufgaben. Es braucht dazu Demut und Respekt vor anderen Konzepten, Neugier, Suchbereitschaft. Diese Haltungen sind in Zeiten, die von Respektlosigkeit, Rassismus und vereinfachenden Beschreibungen und Erklärungen gekennzeichnet sind, dringend nötig.

17. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Zukünftig gegenwärtige Vergangenheiten in zwei Szenen

Torsten Groth: Zukünftig gegenwärtige Vergangenheiten in zwei Szenen

31. Dezember 2028, später Abend: Kaminfeuer brennt, Weinflasche geöffnet, Rolling Stones „Best of…“ in der Dauerschleife, zwei sich systemisch nennende Organisationsberater, beide mehr als 30 Jahre eng befreundet, tief versunken in Ledersesseln – und im Gespräch. Offenkundig regt das anstehende neue Jahr zum Rotweingenuss an und zur Rückschau ein. Wie konnte ihnen das nur passieren? Der letzte systemische Beraterkurs, na gerade noch mit Ach und Krach gefüllt, die, die dabei waren, konnte man begeistern, ansonsten kaum noch Resonanz … Wie anders war es doch noch vor Jahren, eher Jahrzehnten, als systemisch „in“ war, alles musste systemisch genannt werden und wurde auch so benannt, nun springt kaum mehr jemand auf das Systemische an. Wie konnte man das schaffen mit Kybernetik, Konstruktivismus, soziologischer System- und Organisationstheorie als Grundlagen? – … (es folgt eine mehrstündige Empörung darüber, dass sich alle, naja, so gut wie alle neuen Organisationsansätze oberflächlich der wunderbaren systemischen Theorien, Ideen und Konzepte bedienen, diese aber weder nennen, geschweige in der Tiefe kennen. Namen wie Wiener, Bateson, von Foerster, March, Maturana und Luhmann sind zu hören) … sie alle sind doch Denker, die immer noch aktuell sind, deren Potenzial noch lange nicht erschöpft ist, die damals, als man von ihnen in systemischen Weiterbildungen gehört hat, das Denken radikal auf den Kopf gestellt haben. Ach, wie haben wir das geschafft? Mit ungläubigem Kopfschütteln wird die letzte Weinflasche fachmännisch entkorkt …

1. Januar 2029, früher Morgen: Die Gläser halbleer, der Kamin kalt, zwei Berater eingeschlafen, Mick Jagger, dem die Beiden kürzlich live zujubelten, singt:

Angie, Angie
Where will it lead us from here
With no lovin in our souls
And no money in our coats
You can’t say were satisfied
Angie, Angie

#immerderneuestenModenachrennen
#habekeineAhnungabernenneesagil
#Heldenverehrung
#Nachfolgeverpasst
#Theoriefeindlichkeit
#MenschenstattSystemeimMittelpunkt
#lovedmyjob
#DieSteinerollenundrollen

16. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Vom Baden im Mainstream

Kurt Ludewig, Münster: Vom Baden im Mainstream

Vor fast einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1994, hielt ich auf Einladung von Wilhelm Rotthaus im Rahmen der von ihm gestalteten Viersener Therapietagen einen Vortrag mit dem Titel “Quo vadis Systemische Therapie”. Wilhelm hatte den Vortragenden bei der Tagungsplanung die Frage gestellt: „Angenommen, wir hätten schon das Jahr 2.000 und du wärest zufrieden mit der Weiterentwicklung der Systemischen Therapie, woran würdest Du das merken?“ Angeregt durch die Einladung von Tom Levold, mich auch in diesem Jahr an seinem Adventskalender im systemagazin zu beteiligen, las ich in diesem lange vergessenen Text und war erstaunt zu finden, dass vieles davon auch heute gilt und durchaus eine Antwort auf die Frage sein kann, die Tom stellt. Im Folgenden übernehme ich Passagen aus jenem Text, zumal ich nicht glaube, dass ich es heute besser formulieren kann.

Tom Levold schlägt nämlich für das diesjährige Adventskalender 2018 folgendes Leitthema vor: “Angenommen, Sie schauen 2028 auf 10 turbulente Jahre zurück, was ist alles an erfreulichen und deprimierenden Ereignissen geschehen?” Schon an diesen beiden Leitthemen von 1994 und 2018 offenbart sich die intrinsische Motivation systemisch Denkender, die Zukunft vorwegzunehmen. Allerdings wirkt Wilhelms Frage durchaus eher im Sinne seines Erfinders, Steve de Shazer, als jene von Tom: sie war einseitig optimistischer. Offenbar erwartete man im Jahr 1994 weniger eventuell deprimierende Ereignisse, sondern hoffte vielmehr auf die Früchte einer guten Weiterentwicklung. Hat sich so viel im letzten Vierteljahrhundert verändert, dass man einen größeren Raum für Skepsis einplanen muss? Eigentlich müsste man heute viel mehr geneigt sein, sich über die aktuelle Entwicklung zu freuen und die Schampuskorken knallen zu lassen, denn seit wenigen Wochen ist endlich die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie beschlossene Sache.

Nur, wie man es seit den eigenen Kindheitstagen kennt, gehen die Feste, auf die man sich lange gefreut oder für die man lange vorgearbeitet hat, ob Geburtstage, Weihnachten oder bestandene Prüfungen, viel zu schnell vorbei, und der unaufhaltsame Alltag ordnet einen wieder ein. Ist etwa das, was sich als deprimierend erweisen könnte, der Alltag, das Ende des freudigen Anlasses? Oder ist es das, was passiert, wenn, um Heraklit zu paraphrasieren, der Badende im Mainstream danach nicht derselbe ist, der sich in diesen Strom hineingewagt hat? Man badet zwar nicht nur zweimal im selben Fluss, hier nicht so sehr, weil der Strom sich ändert, sondern weil dieser meistens mächtiger als der Badende ist und ihn verändert. Ist das, was zu befürchten und nach 10 Jahren als deprimierend zu werten wäre? Weiterlesen →

15. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Systemische Therapie? Was ist das?

Jürgen Hargens, Meyn: Systemische Therapie? Was ist das?

Diese Frage hörte ich Anfang der 1980er Jahre immer wieder, wenn ich mit Kolleginnen sprach, als die erfuhren, dass ich eine ebensolche Zeitschrift gestartet hatte. Ich muss gestehen, ich konnte die Frage damals genauso wenig beantworten wie heute. Klar, es gibt – für mich – ein paar Linien oder wie es neudeutsch heißt „basics“, die sich damit verbinden.

Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass es mit am wichtigsten für mich war, die dadurch gewonnene Freiheit zu gestalten, nicht mehr fixiert (ja, genauso meine ich es: nicht mehr festgebunden) auf starre Vorgaben zu sein, sondern Möglichkeiten und Stärken herauszufinden, respektvoll mit meinen Gegenübern umzugehen, ihnen zuzutrauen, das zu erreichen, was sie sich wünschen.

Heute – glücklicherweise praktiziere ich nicht mehr, eine Folge des Älterwerdens – hat sich das für mich verschoben. Auch die Anerkennung der systemischen Therapie (ich weiß immer noch nicht, was genau das ist) hat mir nicht wirklich geholfen – im Gegenteil. Systemische Therapie ist ins Bett des ärztlichen/medizinischen Systems gekrochen und muss sich – und wird sich weiter – an die von diesem System und seinen durch die bestehenden Organisationen und Strukturen definierten Anforderungen und Bedingungen anpassen. Was ich da aus meiner Situation und Perspektive ein wenig vermisse, fasse ich unter dem Begriff „Kontextsensibilität“ ebenso zusammen wie unter dem Begriff „Selbst-Rückbezüglichkeit“.

Ich war und bin immer noch kein Anhänger der Idee, „systemische Therapie“ als Teil des medizinischen Gesundheitssystems zu verstehen. Denn eines, was ich an systemischen Konzepten hilfreich finde, ist die Idee, dass es ein Merkmal von Systemen ist/sein soll, den eigenen Bestand zu wahren und zu erhalten. Und wenn ich mich zu jemand anderen ins Bett lege, dann … darüber ließe sich spekulieren. Und auch die Frage aufwerfen, was bei der ersten Ablehnung der systemischen Therapie durch die Ärzteverbände dagegen sprach, als Systemische Gesellschaft mit den Kassen zu verhandeln …

Auch die Idee, dass Sprache Wirklichkeiten hervorbringt, hat für mich Bedeutung erlangt. Es geht u.a. um Begriffe wie Diagnose, Krankheit, Intervention. Die sollen – so wird gesagt – im systemischen Zusammenhang eine andere Bedeutung haben. Wie soll das gehen, frage ich mich. Ein Beispiel amüsiert mich dabei immer wieder – das Thema der „geschlechtsneutralen Sprache“, also männlich oder weiblich, großes „I“, Unterstrich, Stern oder was auch immer. Mir schwebt immer ein Experiment vor: zehn Jahre lang einfach einmal ausschließlich die weibliche Form zu verwenden, also davon zu schreiben, dass es um Therapeutinnen geht, um Helferinnen usf. Bisher – so meine Erfahrung – kommt dann regelmäßig der Aufschrei, das ginge so nicht.

Könnte sein. Und wenn es denn so wäre, dann bliebe zu fragen, was es denn bedeuten könnte (welche Wirklichkeit es hervorbringe), wenn die „üblichen Begriffe“, z.B. Diagnose, Krankheit, Kausalität, Ursache, weiter verwendet werden, nun aber eine andere, nämlich eine systemische Bedeutung haben sollen.

Ich muss gestehen – da vermisse ich den Aufschrei.

14. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Context Your Life!

Andreas Manteufel, Bonn: Context Your Life!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
ich begrüße besonders den stellvertretendenden Leiter des Referats „Innere Gesundheit“ im Bundesgesundheitsministerium,
und ich begrüße unter allen Online-therapeutisch Tätigen insbesondere die Repräsentantinnen und Repräsentanten der „guten alten systemischen Therapie“.

Heute dürfen wir mit Ihnen ein Jubiläum feiern: Auf den Tag genau vor nunmehr zehn Jahren, im Dezember 2020, wurde der „Systemischen Therapie“ die endgültige Anerkennung als kassenfinanziertes Therapieverfahren zuerkannt. Über wie viele Jahre hinweg hatten die systemischen Verbände Anträge eingereicht, wie viele Gutachten wurden geschrieben, wie viele Wirksamkeitsnachweise zusammengestellt, bis der Gemeinsame Bundesausschuss und die Kassen ihre positive Entscheidung für die systemische Therapie bekannt gaben (anhaltender Applaus).

Wer konnte damals wissen, dass dies die letzte Verlautbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses sein würde? Musste man ein Visionär sein, um zu erahnen, dass kaum drei Wochen später das gesamte kassenfinanzierte Psychotherapiewesen auf den Kopf gestellt wurde? Dass „Psychotherapie“ als „Gesundheitsdienstleistung“ von der Übergangsregierung Spahn abgeschafft und das Thema psychische Gesundheit einer völligen Neubewertung und Neuorganisation unterzogen wurde? Zugegeben: Vielen erschien das Tempo hin zur Online-Therapie rasant. Aber man konnte schon 2018 wissen, dass einer der wichtigsten psychotherapeutischen Wirkfaktoren, nämlich die sogenannte therapeutische Allianz, von Klientinnen und Klienten im Online-Setting als ebenso gut eingestuft wird, wie in der alten Face-to-Face-Therapie, und das sogar bei einer klassischen psychodynamischen Herangehensweise (Ärztliche Psychotherapie 2018, 13(4), 247-253). Die Therapieverbände selbst überboten sich bald mit erfolgreichen Therapie-Apps, denken wir an die Programme „Talk to me“ (Psychoanalyse), „StApp by StApp“ (Verhaltenstherapie) oder „Context your Life“ (Systemische Therapie). Der Glaube daran, dass nur persönliche Begegnung im Therapiezimmer von therapeutischem Nutzen sein könne, wurde endlich entmystifiziert. Gleichzeitig leerte die historisch zweite, große „Enthospitalisierungswelle“ zu Beginn der Zweitausend-zwanziger Jahre die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, so dass nur noch die wirklich schwer neuropsychisch kranken Patienten zur notwendigen pharmako- und neuropsychiatrischen Behandlung in den großen Nervenzentren verblieben. Im ambulanten Bereich folgte schließlich die viel zitierte „Ent-Therapeutisierungswelle“. Endlich konnte eine klare Grenze gezogen werden zwischen psychisch-neurologischer Akut- bzw. Notfallbehandlung auf der einen Seite und der in der Regel internetbasierten Eigentherapie, selbstverantwortet und selbstfinanziert von jedem, der meint, seine „Psyche“ „optimieren“ zu müssen (Gelächter und Applaus).
Dass sich die ganze Diskussion um therapeutische „Schulen“ plötzlich als hinfällig erwies (Zwischenruf: „Gott sei Dank!“), dass die dramatischen Einsparungen im Gesundheitswesen das damals eingeführte „bedingungsgebundene Grundeinkommen“ überhaupt erst ermöglichten – auch wenn die Schwelle zum Existenzminimum natürlich noch in weiter Ferne liegt – und dass sich so manche sogenannte „Traumatisierung“ durch das Prinzip der selbstverantworteten Finanzierung (SelFi) ohnehin rasch erledigt (Gelächter) – dies alles ist an anderer Stelle schon ausführlich gewürdigt worden.

Offen bleibt, meine Damen und Herren, die Frage nach den Gründen für die schnelle Selbstauflösung der alten systemischen Therapieverbände, nicht weniger, nachdem einer der Ur-Väter der deutschen systemischen Therapieszene, der heute 82 Jahre alte F.B.S aus Heidelberg, per Twitter verlautbaren ließ: „Uns hat es nie wirklich gegeben“ (Gelächter). War es Protest? War es Kapitulation? War es Kalkül? Die Bewertung bleibt wohl jedem selbst überlassen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor Sie nun, wo immer Sie sich gerade aufhalten, Ihre VR-Helme abnehmen – natürlich nicht, ohne vorher den „Learned- A-Lot“-Button aktiviert zu haben (Gelächter) – erlauben Sie mir ein Wort in eigener Sache: Zwei Jahre lang stand ich Ihnen nun als Online-Therapy-Guide zur Seite. Jetzt warten neue Herausforderungen auf mich. Meine Nachfolgerin, die Sie ja bereits kennen lernen durften, wird Sie beim nächsten VR-Meeting „Round Insight“ im März begrüßen und ich wünsche ihr und Ihnen allen eine hohe Kompatibilität miteinander. Bleiben Sie uns und der Online-Therapie treu und bleiben Sie stets anschlussfähig. Vielen Dank für Ihre virtuelle Aufmerksamkeit (Gelächter, anhaltender Applaus und Ende).

13. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

Enno Hermans, Essen: Eine systemische Dekade voraus – je zwei Szenarien zu drei Themenkomplexen – und was wir (vielleicht) beitragen könnten

Mich hat die Fragestellung von Tom Levold für den diesjährigen Adventskalender im systemagazin sehr angesprochen und das hat vor allem auch persönliche Gründe.
Im nächsten Jahr endet nach dann neun Jahren meine Vorstandszeit in der DGSF – die abgelaufene „systemische Dekade“ habe ich also verbandspolitisch sehr umfangreich begleitet. Auf mich wartet eine echte Zäsur und da ist es natürlich besonders spannend, den Blick in die Zukunft auf die nächsten zehn Jahre zu richten.
Wenn ich priorisieren sollte, dann würde ich drei Themen als zentrale Herausforderungen identifizieren und nicht überraschend sind alle drei schon im Toms Aufruf zum Adventskalender genannt:

1. Entwicklung vor/nach und während sozialrechtlicher Anerkennungen
2. Verbandsentwicklungen in einem weiter wachsenden Feld
3. Konsensbildung, was denn „systemisch“ ist und „Qualitätssicherung“

Wie schon beschrieben, möchte ich jeweils zwei Szenarien anbieten, wie es im Advent 2028 aussehen könnte…

1.a. Systemische Therapie ist als psychotherapeutisches Verfahren sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche Teil der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland. Es werden primär an originär systemischen Instituten mehr systemische Psychotherapeuten aus- und weitergebildet. Durch das Psychotherapiestudium an den Universitäten und die entsprechende Besetzung von Lehrstühlen mit Systemikern findet vermehrt systemische Forschung statt. Durch die systemische Therapie im Versorgungssystem verändern sich zunehmend auch Sichtweisen im Gesundheitssystem im Hinblick auf die Beachtung von Wechselwirkungsphänomenen etc.

1.b. Systemische Therapie wird bisher nur für Erwachsene von den Krankenkassen finanziert und das Verfahren der Anerkennung für Kinder und Jugendliche ist noch nicht zum Abschluss gekommen. Dadurch und durch die geringe Zahl der Therapeuten ist eine Versorgungsrelevanz kaum gegeben. Die Ausbildungen und Weiterbildungen in systemischer Therapie finden vorwiegend an Instituten statt, die nicht zu den Verbänden gehören und die aus dem Spektrum der anderen Therapieverfahren kommen. Systemische Therapie wird stark als Methode verstanden, die sich ansonsten den klassischen Logiken des Gesundheitssystems unterordnet.

2.a. Basierend auf den guten Erfahrungen nach der sozialrechtlichen Anerkennung ist es den Verbänden gelungen, alle Systemiker*innen weiterhin unter einem Dach zu vereinen und den wechselseitigen Profit unterschiedlicher Grundberufe und Anwendungsfelder zu sichern. Die vielen Kolleg*innen aus der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit erleben dies ebenso wie die Psychotherapeut*innen aus dem Gesundheitswesen als große Bereicherung. Nach intensiven Diskursen auf allen Ebenen ist der Beschluss gefasst worden, dass eine verbandliche Einheit die systemische Idee in Deutschland noch weiter stärken könnte und in einem mehrstufigen Verfahren werden die beiden Verbände SG und DGSF zu einer Einheit zusammengeführt. Der Abschluss dieses Prozesses steht gerade unmittelbar bevor.

2.b. Vor einigen Jahren kam es bereits zu einer Abspaltung von beiden Verbänden, so dass es nun einen Berufsverband Systemischer Psychotherapeuten gibt und das Gesundheitswesen in SG und DGSF nahezu keine Rolle mehr spielt. Diese Entwicklung haben die nicht im psychosozialen Feld tätigen Systemiker*innen zum Anlass genommen, einen Systemischen Verband für Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung zu gründen, so dass in SG und DGSF die Vielzahl der aus der Profession der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik stammenden Mitglieder verblieben sind. Zwischen den neuen Verbänden gibt es viel Konkurrenz und Widerspruch. Nach außen hin wird die systemische Szene als zerrissen erlebt. Trotz aller Diskurse ist das Thema der Zusammenführung von SG und DGSF bereits Jahre zuvor ohne eine klare Antwort wieder versandet.

3.a. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben eine Verstärkung des theoretischen Diskurses in den Weiterbildungen und Verbänden mit sich gebracht. Es ist nicht mehr einfach alles „systemisch“ und die Entwicklung geht weg von einer Fokussierung auf Tools und Methoden – hin zu der wieder auflebenden Erkenntnis, dass es im Vergleich mit anderen theoretischen und psychotherapeutischen Zugängen um unterschiedliche Epistemologien geht und dass die konkrete methodische Intervention nur das „letzte Glied in der Kette“ eines Prozesses ist, der theoretischen Paradigmen und einer systembezogenen Hypothesenbildung folgt. Dieser theoretische Diskurs findet durch die Präsenz systemischer Psychotherapeuten nun auch verstärkt in den Einrichtungen des Gesundheitswesens statt.

3.b. Vor lauter inflationärer Verwendung ist eigentlich unabhängig vom Anwendungsfeld kaum noch zuzuordnen, was denn eigentlich „systemisch“ ist oder sein könnte. Die Verwechslungen reichen dabei vom reinen Settingsbezug („die mit der Familie“) bis hin zur Überzeugung mit dem Stellen einer einzigen zirkulären Frage auf jeden Fall schon „richtig“ systemisch gearbeitet zu haben. Überhaupt spielen plötzlich Kategorien von „richtig“ und „falsch“ eine große Rolle bei der neuen systemischen Betrachtung von Fallkonstellationen und im Grunde sind auch die systemischen Therapeuten nun immer häufiger diejenigen, die den Klienten sagen, was der Weg zur Lösung ist.

Zugegeben – das alles ist durchaus zugespitzt und jeweils sehr dichotom dargestellt. Eigentlich fühle ich mich beim Schreiben an die beiden Beschlussvorlagen A und B im Gemeinsamen Bundesausschuss erinnert und positioniere mich hier wie da dann gerne eindeutig für die Variante(n) A.
Nun sind komplexe Systeme bekanntermaßen eben nicht linear von außen instruierbar und dessen bin ich mir bewusst. Dennoch glaube ich, dass gemeinsam an vielen Stellen viel beigetragen werden kann, was eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion in Richtung der unter A beschriebenen Szenarien wahrscheinlicher macht. Dafür braucht es Mut, Entschlossenheit, aber auch einen Blick aufs Ganze. Es erfordert, eigene Interessen auch einmal zurückzustellen und das Vertrauen darauf, dass es gut werden wird – wenn auch vielleicht ganz anders als hier oder anderswo erdacht.
Konstruktive und kritische Diskurse über all das und viele spannende Entwicklungen wünsche ich der systemischen Szene für die nächsten zehn Jahre und bin selbst ganz gespannt, an welchen Stellen ich mich einbringen kann und werde.

12. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Der Siegeszug des Systemischen?

Hartwig Hansen, Hamburg: Der Siegeszug des Systemischen?

Eigentlich ist es ganz einfach. Natürlich ist der systemische Grundgedanke bestechend stimmig und überzeugend: Alles hängt miteinander zusammen! Darum tun wir gut daran, über unseren Tellerrand hinauszuschauen. Wer in Beratung, Sozialarbeit und Supervision relevante Faktoren und „Umwelten“ außer Acht lässt, kriegt es mit ziemlicher Sicherheit im weiteren Verlauf „um die Ohren gehauen“.

Als ich vor über 30 Jahren von den noch weitläufig verstreuten Impulsen der systemischen Grundideen hörte und las, entwickelte ich noch eine gewisse Abneigung gegen diesen schick gewordenen neuen Trend, der eigentlich Selbstverständliches gediegen neu zu verpacken und zu transportieren schien. Moden kommen und gehen, dachte ich bei mir.

Bis ich mich schließlich selbst als systemisch denkend und arbeitend wiederfand, damals noch mit der Gewissheit: Geld verdienen lässt sich damit nicht, weil es eben keine Kassenleistung war und absehbar auch nicht werden würde. In gewisser Weise blieb „die systemische Gemeinde“ dadurch auch noch ein bisschen elitär mit den Vor- und Nachteilen eines Außenseiter-Daseins.

Weil der Grundgedanke „Alles gehört miteinander zusammen!“ aber so naheliegend und überzeugend ist, setzte er sich schließlich – wie im Schreibaufruf von Tom Levold skizziert – ausgesprochen erfolgreich durch, und das interessanterweise eben nicht nur im sozialen und therapeutischen Feld, sondern unter dem Label „Globalisierung“ auch in der Politik.

Es galt jetzt zunehmend als zeitgemäß und „alternativlos“, in größeren Zusammenhängen und Dimensionen zu denken und zu handeln.

Der Europäischen Union traten immer mehr Staaten bei und die G-Treffen der Großen bekamen immer höhere Ziffern hintendran.

Es wurde eine UN-Menschenrechtskonvention für die Rechte behinderter Menschen verabschiedet, und der elegant klingende Begriff „Inklusion“ wurde in der Folge zu oft zu einer neuen „Mogelpackung“, um in Wirklichkeit Kosten sparen zu können.

Aktuell soll der UN-Migrationspakt ohne verbindliche Wirkung der Einzelstaaten unterzeichnet werden.

Man denkt und handelt also durchaus unter dem systemischen Motto: Alles gehört miteinander zusammen – unsere Antworten müssen weltweit sein.

Zumindest in den Sonntagsreden denkt man auch schon mal über (die Bekämpfung der) Fluchtursachen nach – und rüstet gleichzeitig Frontex und die libysche Küstenwache auf.

So weit also der sich offenbar stetig fortsetzende Siegeszug der systemischen Idee bis ins aktuelle Jahrzehnt.

Wenn es doch alles wirklich so einfach wäre und sich diese Idee bis zur erfolgreichen Rettung dieser Erde immer weiter fortsetzen würde.

Ist es aber offenbar nicht, denn mittlerweile überfordert, verängstigt und nervt immer mehr Menschen dieses „ewige, alternativlose Über-den-Tellerrand-schauen-müssen“.

Erstmals gibt es in der Bundesrepublik Deutschland ein „Heimat-Ministerium“, damit die eigene Scholle wieder (mehr) gewürdigt werde.

Erstmals hat sich die Mehrheit einer Nation aus dem langjährig bewährten, friedenwahrenden System der Europäischen Union wieder verabschiedet (Stichwort Brexit).

Erstmals streitet eine amerikanische Regierung – entgegen aller wissenschaftlichen Belege – notorisch die menschgemachten Folgen auf das Weltklima ab.

Über das anhaltende Rollback, das Wiedererstarken von national(istisch)en Bewegungen, den zunehmenden Egoismus im öffentlichen und medialen Leben steht jeden Tag diverses in Ihrer Tageszeitung.

Wer die Augen offen hält, stellt fest, dass der einleuchtenden systemischen Idee bei ihrem „Siegeszug“ relevante Wirkfaktoren in der Psyche des einzelnen Menschen entgegenstehen. Um nur einige davon (ohne Rangfolge) zu nennen: Angst, Neid, Überforderung, Gier, Egozentrik, Machthunger, Empathie-Losigkeit. Bitte setzen Sie die Reihe fort.

Sie merken schon: Das Fragezeichen in der Überschrift ist bewusst gewählt.

Ich habe keine Ahnung, wie es in zehn Jahren um „das Systemische“ stehen wird.

Sein Siegeszug scheint derzeit mit erheblichen Gegenkräften zu tun zu haben.

Das Systemischste, was ich denken kann, sind – mal abgesehen von den Theorien um Schwarze Löcher, die ich eben nicht denken kann – die weltweiten Gefahren des Klimawandels durch jahrzehntelanges, fatales Umgehen mit den Ressourcen dieser Welt.

Dass – beispielhaft – die Menschen, die sich in dieser systemischsten aller Fragen um eine Lösung bemühen, die Macht erlangen bzw. behalten werden, diese Lösung(en) auch durchzusetzen, schätze ich aus heutiger Sicht zunehmend skeptisch ein.

Diese Skepsis bezieht sich auch auf die Lösung mittelgroßer systemischer Fragen.

Wie singen die Fantastischen Vier so treffend:

Es könnt‘ alles so einfach sein, isses aber nicht

Das hab ich mir irgendwie schöner gedacht.

Ich glaub ich hab irgend ’nen Fehler gemacht …

Die Attraktivität und unmittelbare Überzeugungskraft der systemischen Idee wird dadurch nicht geschmälert. Wir müssen jedoch wohl weiterhin „den ganzen Menschen“ im Auge behalten.

11. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Systemisch – der Unterschied, der (k)einen Unterschied (mehr) macht!

Heiko Kleve, Witten/Herdecke: Systemisch – der Unterschied, der (k)einen Unterschied (mehr) macht! Oder: Die Ambivalenz des Erfolgs

Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, vom 22. November 2018, die systemische Psychotherapie als krankenkassenfinanziertes Psychotherapieverfahren anzuerkennen, haben die systemischen Fachverbände (insbesondere SG und DGSF) einen großen Erfolg errungen. Nun ist auch die systemische Therapie im Mainstream der anerkannten Psychotherapie-Schulen angekommen. Das ist sicherlich ein beachtlicher Meilenstein in der Entwicklung systemischer Therapie- und Beratungsverfahren, der gebührend gefeiert wurde und weiterhin zelebriert wird.

Ich will diesen Erfolg nicht schmälern, wenn ich seine Ambivalenz hervorhebe. Alles das, was den systemischen Therapieansatz von den anerkannten Mainstreamverfahren der Verhaltenstherapie, der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse abhebt, insbesondere seine erkenntniskritische Haltung, die sich etwa im subversiven Umgang mit der Psychopathologie und dem Diagnostizieren zeigt, steht damit hoffentlich nicht auf dem Spiel. Allerdings müssen wir der Gefahr ins Auge sehen, dass diejenigen, die sich von den Krankenkassen bezahlen lassen, freilich auch deren Regeln nicht nur akzeptieren, sondern auch realisieren müssen. Die systemische Therapie wird nun ebenfalls zunächst psychopathologisch verdinglichen müssen, was sie dann bestenfalls in der Durchführung der Behandlung wieder verflüssigt und pulverisiert: Krankheitszuschreibungen. Sie muss zunächst die Aufmerksamkeit richten auf das, was als Defizit bzw. psycho-sozial als störend bewertet wird, bevor sie den Fokus der Kommunikation auf Resilienzen in der Gegenwart und Vergangenheit sowie auf Lösungen in der Zukunft richten kann. Das will ich hier im Einzelnen nicht weiter vertiefen. Denn ich bin kein Therapeut und damit von dem Sieg der systemischen Psychotherapie nicht direkt betroffen.

Vielmehr will ich meine Hoffnung darüber ausdrücken, dass durch den Eintritt in den Olymp anerkannter Psychotherapieverfahren der systemische Ansatz in seinen nicht-therapeutischen Varianten, wie etwa der psycho-sozialen Beratung, der Supervision, dem Coaching, der Organisationsberatung oder der Pädagogik wieder freier, rebellischer und aufmüpfiger werden kann. Denn das ist es doch, was viele in den Anfangstagen der systemischen Bewegung motiviert hat, dieser unorthodoxen Denk- und Handlungsrichtung zu folgen: ihre andere Art, die Welt und deren Phänomene zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten.

Besonders radikal kann das (wieder) gelingen, wenn wir Niklas Luhmann noch intensiver als bisher rezipieren. Die systemischen Akteure können mit diesem „Anwalt des Teufels“, wie Peter Sloterdijk Luhmann in einer Freiburger Rede im Jahre 1999 aufgrund der diabolischen Paradoxie-Verliebtheit der Systemtheorie mal genannt hat, daran erinnert werden, dass sie es selbst sind, die mit ihrer Aufmerksamkeitsfokussierung das mit konstruieren, was sie als Problem bewerten und zu lösen versuchen. Luhmann hat dies besonders deutlich formuliert; womit wir abschließend an die systemischen Psychotherapeuten appellieren wollen, dass sie diese systemtheoretische Lektion auch im Trubel ihres Erfolgs nicht verlernen sollten: “wenn man wissen will, was ‚pathologisch‘ ist, muß man den Beobachter beobachten, der diese Beschreibung verwendet, und nicht das, was so beschrieben wird.“[i]

[i] Luhmann, N. (1990): Glück und Unglück der Kommunikation in Familien, in: ders. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 218-227.

 

10. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Die Vertreibung ins Paradies?

Rudolf Klein, Merzig: Die Vertreibung ins Paradies?

Nach jahrelangen Mühen und enormen personellen und finanziellen Investitionen ist es nun endlich so weit: Die Wächter der heiligen Pforte zum Eintritt ins Paradies namens Gesundheitssystem haben den Weg für die systemische Therapie freigemacht. Die sozialrechtliche Anerkennung ist erreicht. Halleluja!

Approbierte psychologische und ärztliche PsychotherapeutInnen können nun systemische Therapien abrechnen. Das haben viele zwar schon in den vergangenen Jahren, unter falscher Flagge segelnd, so praktiziert, nun ist es aber offiziell erlaubt und kann auch so benannt werden.

Diese Entscheidung eröffnet die Möglichkeit, an die Fleischtöpfe der Krankenkassen zu kommen. Und vielleicht wird auch von dem Einen oder Anderen gehofft, damit systemische und kritische Ideen in das sogenannte Gesundheitssystem zu transportieren und dieses entsprechend zu reformieren. Zum Beispiel durch eine Infragestellung der an Defiziten orientierten Diagnostik und einer Dekonstruktion von Krankheit, durch eine kontextsensible Praxis, durch eine flexible Gestaltung von Settings, durch kürzere und effektivere Therapien usw.

Die Sache mit dem Geld mag zutreffen, beim zweiten Punkt bin ich mehr als skeptisch. Denn: Lediglich die Pforte wurde durchlässiger – nicht hingegen die Bedingungen und Strukturen des Gesundheitssystems selbst. Hier wird nach wie vor auf Einhaltung eingeführter Regeln geachtet. Sei es der Umgang mit Diagnosen, sei es das Gutachterverfahren, sei es die Anzahl der Sitzungen und deren Settingwahl.

Wenn man die Entwicklung der Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten beobachtet, kann einem angst und bange werden. Ein eher progressiver Ansatz wurde Stück für Stück handzahm gemacht und in Richtung Stromlinie geformt, besser: die VT hat sich ganz von alleine geschmeidig angepasst. Wie gesagt: Fleischtöpfe ja, systemische Veränderungen eher nein.

Auch wird es berufspolitisch zu einer Spaltung kommen. Wenn man bedenkt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil aller AusbildungskandidatInnen SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind, wird für diese Berufsgruppen eher ein Ausschluss aus dem psychotherapeutischen Bereich die Folge sein. Das kann man im stationären Bereich, z.B. in Suchtkliniken, bereits jetzt beobachten. Nicht gerade die beste Lobbyarbeit der beiden Dachverbände. Weiterlesen →

9. Dezember 2018
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude“

Martin Rufer, Bern: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, denn euch ist heute ein Kind geboren“: Systemische Therapie sozialrechtlich anerkannt!

Maria, Joseph und die drei Weisen aus dem Morgenland stehen zusammen bei der Wiege und diskutieren heftig darüber, wer denn nun die Eltern dieses Kindes seien:

Maria: Ich weiss nur eins: ich habe dieses Kind nicht zur Welt gebracht.

Caspar: Wer denn sonst? Es wird euch wohl nicht einfach so in die Wiege gelegt worden sein.

Melchior: Warum nicht, möglich ist heute alles, denn bis vor kurzem waren wir ja drei ja gar nicht da, sondern weit weg und in warmen Stuben.

Balthasar: Ich auf jeden Fall bin ich nicht der Vater, das sieht man ja von blossem Auge. Dieses Kind ist weisser als weiss.

Josef: Ich übrigens auch nicht, denn seit mehr als einem Jahr sind wir, Maria und ich, als Fremdlinge unterwegs von Tür zu Tür auf der Suche nach Anerkennung.

Melchior zu Caspar (flüsternd): …wahrscheinlich meint er „fremd gegangen“ und hat nun das Kuckucksei heute Nacht in die Wiege gelegt und es seiner kinderlosen Frau untergejubelt…

Melchior: Ist es überhaupt wichtig zu wissen, wer der Erzeuger ist, wenn nicht mal klar ist, wer die Mutter ist. Und schliesslich sind wir drei ja nicht Pharisäer oder Schriftgelehrte, die darüber richten und entscheiden müssen, wessen Kind dies ist. Weiterlesen →