systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

24. November 2019
von Tom Levold
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Beratung in der Sozialwirtschaft

In der von Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller herausgegebenen Reihe „Beraten in der Arbeitswelt“ erscheinen kompakte Bändchen zu arbeitsweltbezogenen Themen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2018 veröffentlichte der frühere Professor der Sozialarbeitswissenschaft Herbert Effinger darin den Band „Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien“. Peter Jensen hat ihn für systemagazin gelesen und stellt ihn hier in seinem Rezensions-Essay ausführlich vor:

Peter Jensen: Kairos – die Gunst des rechten Augenblicks. Rezension von Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft

Herbert Effinger bringt in seinem Buch zwei Bereiche zusammen: den Bereich professioneller Sorgearbeit und die Beratung. Eine Beraterin oder ein Berater, in diesen Bereich kommend, fragt sich, vor welchen Herausforderungen steht eine Sorgearbeiterin (die männliche Sprachform umstandslos anzufügen, würde verschleiern, dass in diesem Arbeitsfeld überwiegend Frauen tätig sind), was brauchen die Tätigen, ist Beratung die angemessene Antwort auf die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen der Behindertenarbeit, der Altenarbeit, in den Kliniken, oder dient sie als Feigenblatt, wo schlicht bessere Entlohnung her müsste, wo kapitalistisches Profitstreben einen ethischen Widerspruch aufreißt in Bezug auf die Ziele und Erfordernisse des Feldes zu helfen, zu unterstützen, Pflege zu geben, d.h. auf Kosten der Bedürftigen und auf dem Rücken der Beschäftigten?

Was hat Beratung anzubieten? Beratung fordert die Zielgruppe der in diesen Arbeitsfeldern Tätigen dazu auf, den Blick auf sich selbst zu lenken. Sie bietet an, aus den Anstrengungen, dem Stress, aus den berührenden Erlebnissen Sprache zu formen. Sie ermöglicht Zuhören, Austausch. Sie eröffnet einen Emotionsraum. Denn die Menschen in Carebereich leisten Emotionsarbeit (Hochschild 2003). Wir wissen, das emotionale Verarbeiten von belastenden Situationen bedarf eines Vertrauensrahmens, es braucht Zeit, und Zeit ist in diesem Feld ein knappes Gut, zu wenig vorhanden. Sie bietet kreativ den Raum für Umdeutungen, z.B. dassindividuell empfundene Erschöpfung oder Resignation keine persönliche Schwäche ist, sondern auch von den Kolleginnen und Kollegen erlebt wird und vielleicht eine strukturelle Überanstrengung ausdrückt. Und die Beraterin oder der Berater kann durch seinen Außenblick auf das Handeln der einzelnen Kollegin, auf das Team, die Organisation und auf das Feld insgesamt, neue Sichtweisen anregen, die entlastend wirken können, Lösungen aufzeigen, aber auch Grenzen des Machbaren benennen.

Wirft man diese beiden Bilder, das des Arbeitsfeldes und das der Beratung projektiv an eine Wand, erkennt man vielfältige, widersprüchliche Muster auf unterschiedlichen Ebenen:strukturelle, dynamische, handlungsethische, ökonomische, politische. Herbert Effinger erkennt diese unübersichtliche Komplexität. Er greift sie im Eingangskapitel seines Textes auf: Ungewissheit als Risiko und Chance lautet die Überschrift. Er stellt sie als Basiserzählung seiner Analyse voran. Damit benennt er gleichzeitig eine zentrale Kompetenz, die Beratenden in diesem Feld abverlangt wird, mit Offenheit liebevoll und genau hinzuhören auf die Erzählungen der zu Beratenden; liebevoll meint das zentrale Ziel des Arbeitsbereichs im Blick und im Herzen zu haben, unterstützungsbedürftige Menschen zu halten und zu pflegen. Das heißt also genau nicht neutral zu sein, sondern auf der Seite der zu Versorgenden und an der Seite der Frauen und Männer, die diese Arbeit machen, zu stehen.

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19. November 2019
von Tom Levold
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Josef Duss-von Werdt (24.10.1932 – 25.10.2019)

Schon am 25. Oktober 2019 ist Josef Duss-von Werdt gestorben, einen Tag nach seinem 87sten Geburtstag. Erfahren habe ich erst gestern davon. In den letzten Jahren war es still um ihn geworden.
Sepp Duss von Werdt hat an der Entwicklung der Systemischen Therapie schon früh Anteil gehabt und sie später lange begleitet, nicht zuletzt gemeinsam mit Helm Stierlin als Herausgeber der Zeitschrift Familiendynamik.
1956 schloss er sein Studium der Philosophie und Psychologie an der Katholischen Universität Löwen mit einem Dr. phil. ab, ich erinnere mich, wie begeistert er mir von seinen Studien im Husserl-Archiv an der Löwener Universität erzählte. 1964 wurde er dann noch an der Universität München zum Dr. theol. promoviert.
Von 1967 bis 1987 war er Leiter des Institutes für Ehe und Familie in Zürich, das er auch mitbegründet hatte. An diesem Institut, das in den 70er Jahren eine Reihe von sehr einflussreichen internationalen Tagungen zur Familientherapie organisierte, arbeitete er auch mit Rosmarie Welter-Enderlin zusammen, die von ihrem Aufenthalt in den USA neue systemische und familientherapeutische Konzepte mitbrachte. 1976 begründete er gemeinsam mit Helm Stierlin die Zeitschrift Familiendynamik, die in den ersten Jahren noch überwiegend psychoanalytisch inspirierte Beiträge veröffentlichte, dann aber zunehmend ein systemisches Profil entwickelte. 1987 gab er seine Herausgebertätigkeit auf. Schon seit Ende der 1970er Jahre befasste er sich aufgrund seiner Begegnungen mit Richtern, Anwälten und Beratern mit der Frage außergerichtlicher Konfliktklärungen und war in den Folgejahren maßgeblich als Pionier an der Entwicklung der Mediation beteiligt. Er prägte insbesondere die Familienmediation mit zahlreichen Vorträgen, Weiterbildungen und Veröffentlichungen. Sein Werk „Homo Mediator. Geschichte und Menschenbild der Mediation“ wurde zu einem Standardwerk der Mediation. 1992 begründete er den Schweizerischen Verein für Mediation. Im Jahr 2014 erhielt er den Mediationspreis des Schweizer Dachverbandes SDM/FSM für sein Lebenswerk. Ab 1998 war Joseph Duss-von Werdt als Lehrbeauftragter für Mediation an der Fernuniversität Hagen tätig. Auf Youtube ist er in einem Gespräch mit Bernhard Böhm zu sehen:

Bis in die 90er Jahre hinein erlebte ich Sepp Duss-von Werdt vor allem über seine Publikationen und hatte auch einmal Kontakt mit ihm als Herausgeber der Familiendynamik gehabt, bei dem ich mich über seine wertschätzenden und unterstützenden Kommentare zu meiner Arbeit freuen konnte. Erst auf einer SG-Tagung lernten wir uns auch persönlich näher kennen. Ich bekam einen Eindruck von seinem unglaublich breiten geisteswissenschaftlichen Horizont und seinem spannenden professionellen Werdegang, erfuhr von seiner Wanderlust, die er auf Tausenden von Kilometern durch Europa auslebte.

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11. November 2019
von Tom Levold
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Was wirkt in der Psychotherapie?

Wolfgang Loth, Niederzissen

Mit der Serie „Psychotherapeutische Dialoge“ hat Uwe Britten ein Format entwickelt, das zuverlässig für ebenso interessante wie fundierte Erkundungen spezifischer Fragestellungen aus dem Bereich der Psychotherapie sorgt. Eingeladen zum Gespräch sind stets zwei profilierte KollegInnen, die zum Thema publiziert haben und, idealerweise, unterschiedliche Positionen dazu vertreten. Wenn es gut läuft, können sich dabei belebende Momente ergeben, ein Hineinbewegen in noch nicht verphraste Beschreibungen eigener Prämissen, Suchbewegungen und Arbeitserfahrungen, sowie deren Einbettung in theoretisches Rüstzeug. Uwe Britten erweist sich dabei als ein spannender Impulsgeber. Er überblickt erkennbar ein weites Feld, schaut über Tellerränder, bohrt nach und liefert Stichworte, die sich in der Regel nicht einfach so abarbeiten lassen. Es sind, um das abzuschließen, also erhellende Eindrücke zu erwarten, wenn man Bücher dieser Serie in die Hand nimmt.

Wie ist es in diesem Fall? Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki vertreten beide ihr Fach in universitärerer Forschung und Lehre und haben beide gewichtige Beiträge zur Psychotherapieforschung geleistet. Strauß reflektiert Psychotherapie eher in Bezug auf seine psychoanalytische Praxis, Willutzki in Bezug auf kognitive Verhaltenstherapie. Dies jedoch nicht im Sinne orthodoxen Bestehens auf einer jeweils „wahren“ Lehre, sondern sowohl theoretisch als auch in konkreten Projekten vernetzt. So ergeben sich unter anderem Impulse aus Psychodrama, Bindungstheorie und Systemtheorie. Insgesamt ergibt das kein Streitgespräch, keine Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Das ist einerseits wohltuend, benötigt jedoch erkennbar Brittens Witz und Anregungssicherheit. Da dies gegeben ist, kann das Gespräch seinen gewinnbringenden Verlauf nehmen.

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9. November 2019
von Tom Levold
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Adventskalender 2019

Liebe Leserinnen und Leser von systemagazin,

Foto: anonym

heute ist der 9. November, die Öffnung der Berliner Mauer – das Startsignal zur deutschen Wiedervereinigung – jährt sich zum 30. Mal. Ein Ereignis, dessen Folgen nicht nur für die beiden deutschen Teilstaaten, sondern auch für die Biografien ihrer Bewohner, auf jeden Fall für die Bürger der ehemaligen DDR, von existenzieller und nachhaltiger Bedeutung waren und heute noch sind. Hinter der allgemeinen Euphorie, dass „zusammenwächst, was zusammen gehört“ (Willy Brandt), wurde aber auch schnell deutlich, wie spannungs- und konfliktreich die Wiedervereinigung (oder der Anschluss?) bis heute war und ist. Welche Dynamiken hat die Vereinigung zweier so unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Systeme in Gang gebracht? Was verbindet, was trennt bis heute? Welche Symmetrien und Asymmetrien, Macht- und Größendifferenzen, Konfliktlagen und Mentalitätsunterschiede haben diese Dynamiken geprägt und sind von ihnen geprägt worden? Was war das Gute im Schlechten und das Schlechte im Guten?
Wie in jedem Jahr soll es mit Ihrer Mitwirkung auch wieder einen systemagazin-Adventskalender geben. Ich möchte Sie anlässlich dieses Jahrestages herzlich einladen, einen kürzeren oder längeren Beitrag zum Kalender beizusteuern, der sich mit diesen und den folgenden Fragen beschäftigt:
Wie haben Sie diesen Tag und das, was danach folgte, erlebt? Welche persönlichen und professionellen Begegnungen haben sich für Sie aus der Wiedervereinigung ergeben? Welche Unterschiede haben sich für Sie aufgelöst, welche erhalten oder sogar verstärkt? Welche erleben Sie als produktiv und spannend, welche als problematisch und besorgniserregend? Wie hat sich die Wiedervereinigung in der Entwicklung der systemischen Szene in Deutschland bemerkbar gemacht? Was bedeutet es, aus einer systemischen Perspektive auf diese Geschichte zu schauen – und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?
Wie immer ist die Wahl des Formates völlig frei. Ob eine persönliche Geschichte oder Anekdote, die Sie besonders beschäftigt und berührt hat, einen persönlichen Rückblick auf 30 Jahre Wiedervereinigung, eine Reflexion der Systemdynamik von Spaltung, Trennung, Verbindung und Wiedervereinigung, oder ein Zukunftsbild der Wiedervereinigung aus dem Jahre 2030, alles hat Platz, wenn es in irgendeiner Weise auf das Thema Bezug nimmt.

Ich freue mich auf Ihre Antworten und Zusendungen!

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

5. November 2019
von Tom Levold
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«Evidenzbasierung» als Kriterium der Psychotherapie-Selektion? Über eine gutes Konzept – und seine missbräuchliche Verwendung

Jürgen Kriz

In der gerade erschienenen Ausgabe 2 der Online-Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft geht es um das Verhältnis von Psychotherapie und Wissenschaft. Enthalten ist auch ein Artikel von Jürgen Kriz, der sich kritisch mit dem Konzept der Evidenzbasierung in der Psychotherapie(forschung) auseinandersetzt. Im abstract heißt es: „In diesem Beitrag wird zunächst hervorgehoben, dass «Evidenzbasierung» ein gutes und nützliches Konzept ist, aber durch eine Reduktion auf RCTs inzwischen oft missbräuchlich verwendet wird. Zwar ist das RCT-Design durchaus ein hervorragendes Modell zur Untersuchung experimenteller Forschungsfragen. Dies gilt aber nur dann, wenn klar definierbare Ursachen und ebenso klar definierbare Wirkungen hinreichend isolierbar sind und diese dabei die Untersuchungsrealität brauchbar abbilden. Je grösser der Handlungsspielraum zur Gestaltung der Ursachen (Interventionen) ist und je komplexer die relevanten Wirkungen sind, desto weniger tauglich ist dieser Ansatz. Wie sodann aufgezeigt wird, eigenen sich RCT-Designs in der Psychotherapieforschung besonders dann, wenn manualisierte Programme angewendet werden. Dies ist primär für die Verhaltenstherapie der Fall. Für psychotherapeutisches Vorgehen, das wesentlich in der prozess-spezifischen Entfaltung von Prinzipien begründet ist, sprengt die grosse Variabilität der Detail-Ursachen (Interventionen) die erforderliche massenstatistische Homogenität für ein experimentelles Design. Die Forderung, Wirksamkeit vor allem mit RCT-Designs zu belegen, läuft dort auf methodische Artefakte hinaus, beziehungsweise stülpt eine bestimmte psychotherapeutische Präferenz, nämlich für die Verhaltenstherapie, auf dem Wege der Wissenschaftsmethodik anderen Psychotherapieansätzen über. Abschliessend werden noch einige weitere Reduktionen und Missinterpretationen im Zusammenhang mit RCT- und Metastudien-Designs problematisiert.“

Der Artikel ist hier zu lesen und kann auch als PDF heruntergeladen werden.

31. Oktober 2019
von Tom Levold
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2018 erstmals über 1 Million erzieherische Hilfen für junge Menschen

WIESBADEN – Im Jahr 2018 haben die Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland mehr erzieherische Hilfen für Menschen unter 27 Jahren gewährt als jemals zuvor: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, wurden erzieherische Hilfen in rund 1 003 000 Fällen in Anspruch genommen. Das waren knapp 17 500 mehr als 2017 (+1,8 %).

Hilfen zur Erziehung sind professionelle Beratungs-, Betreuungs- oder Hilfeangebote, auf die Eltern minderjähriger Kinder einen Anspruch nach dem Kinder- und Jugendhilferecht haben.

Voraussetzung ist, dass eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet werden kann, die Hilfe für die kindliche Entwicklung aber geeignet und notwendig ist. Grundsätzlich ist die Inanspruchnahme freiwillig. Bei drohenden Kindeswohlgefährdungen kann sie jedoch auch vom Familiengericht angeordnet werden. Junge Volljährige haben unter bestimmten Voraussetzungen bis höchstens zum 27. Lebensjahr ebenfalls Anspruch auf erzieherische Hilfen. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre stieg die Zahl erzieherischer Hilfen um gut 205 000 beziehungsweise 26 % auf nun über 1 Million Fälle an. Im Mittel entsprach das einem Plus von jährlich 2,0 %. Weiterlesen →

22. Oktober 2019
von Tom Levold
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Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen

Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen

Wolfgang Loth hat sich in Heft 1/2019 der Zeitschrift systeme mit der Neuauflage eines 10 Jahre alten Buches von Sigrun-Heide Filipp & Peter Aymanns beschäftigt, die 2018 erschienen ist: „Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens“. Es ist kein „systemisches“ Buch im engeren Sinne, aber dennoch Loth zufolge für Systemiker zu empfehlen: „Gerade im Kontext der nun in die Gänge kommenden Verankerung systemischer Therapie im Gesundheitswesen dürfte das dem Profil systemischer Therapie nützen. Forschungsergebnisse, wie die im vorliegenden Buch beschriebenen, aufzugreifen und sie in explizit systemische Fragestellungen zu übersetzen, könnte der systemischen Therapie dabei helfen, im real existierenden Gesundheits-Organisations-Wesen erkennbar zu bleiben. Systemische Therapie ist mehr als die von ihr propagierten Methoden. Der konsequente Blick auf Sinnentfaltung im Kontext darf nicht verloren gehen. Erstaunlicherweise finde ich in diesem, der Reflexion empirisch gewonnener Erkenntnisse gewidmeten Buch manchmal eine nachdenklichere, selbstkritischere Haltung als in manchen Publikationen systemischer Provenienz, die Wirksamkeit reklamieren oder über Stolperstellen huschen, die bei redlicher Betrachtung immer wieder vorkommen“.


Wolfgang Loth, Niederzissen:

Die Erstauflage des vorliegenden Buches erschien vor 10 Jahren. Die Welt, so scheint es, ist in der Zwischenzeit noch unübersichtlicher geworden, schneller und fraktionierter zugleich, ein Tummelplatz galoppierender Orientierungsreaktionen. Das Private, das Refugium und Medium der Wünsche nach Unversehrtheit, Selbstwirksamkeit und wohltuenden Beziehungen bleibt davon nicht unberührt. Insofern wundert es nicht, dass das vorliegende Buch auch in seiner Wiederauflage nach wie vor aktuell erscheint. Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen – „an sich“ erwartbar – erhalten durch die angedeuteten Entwicklungen fortlaufend wahrnehmungsverschärfende Differenzhinweise: Man kann sich nicht abschließend daran gewöhnen.
Sigrun-Heide Filipp und Peter Aymanns stehen für die profilierte Trierer Forschung zur „Entwicklung der Lebensspanne“ und man kann insofern erwarten, dass sie ihr Thema nicht nur punktuell beleuchten, sondern in seinem weitverzweigten Netz zeitlicher und kontextueller Bedingungen reflektieren. Das bringt ihren Beitrag aus meiner Sicht in unmittelbare Nähe zu den Themen und Prämissen systemischer Therapie und lädt daher dazu ein, über Möglichkeiten nachzudenken, das hier versammelte Wissen in den systemischen Diskurs einzubeziehen, auch wenn das vorliegende Buch den Begriff „systemisch“, wenn überhaupt, nur marginal verwendet und es nicht zum Kanon genuin systemischer und systemtheoretischer Literatur gehört. Noch nicht, möchte ich sagen. Aus meiner Sicht spricht einiges dafür, dies zu ändern. Dazu später.

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16. Oktober 2019
von Tom Levold
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Mitgefühl und anderes

Angesichts der Krisen, wo immer man auch hinschauen mag, braucht es etwas Zuversicht. Im letzten Heft der systeme versuchen die HerausgeberInnen, der Leserschaft Mut zuzusprechen. Im Editorial heißt es: „Wir richten den Blick nach vorn und bieten Proviant für das unverdrossene Nachdenken darüber, was wir für ein menschenwürdiges Leben tun können. Was unsere Profession dazu beisteuern kann, was es dazu braucht und wie es gelingen kann, nicht den Mut zu verlieren oder nicht zynisch zu werden, gewalttätig, wutblind. Was also bringt das vorliegende Heft? Luise Reddemann spricht über Mitgefühl und denkt darüber nach, inwieweit Mitgefühl als ein common factor in der Psychotherapie traumatisierter Menschen wirken kann. Sie beschreibt Mitgefühl als einen lebendigen Prozess, den man nicht ausschließlich technisch erfassen könne, sondern der erlebt werden will und immer wieder aufs Neue entdeckt. Veronika Hermes untersucht, wie systemische Theorie das Inklusionsthema befruchten kann: „Wie die systemische Haltung dabei hilft, Selbstbefähigung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten zu stärken“. Sie spürt den gängigen und den von ihr bevorzugten Begriffen nach und lässt hilfreiche Haltungen nachvollziehen. Auf dieser Basis entsteht ein plausibles Verständnis von systemischem Agieren in der Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Hans-Jürgen Balz und Marascha Heisig zielen in ihrem programmatischen Beitrag darauf ab, „den Coaching-Begriff zu präzisieren, den Beitrag des Systemischen für das Coaching zu beschreiben, seinen Nutzen zu belegen und den inneren Zusammenhang zwischen theoretischen Grundlagen, der professionellen Grundhaltung, der Prozessgestaltung und den systemischen Methoden zu verdeutlichen“. Darüber hinaus formulieren sie Thesen zur Weiterentwicklung des systemischen Ansatzes im Coaching. Eine Reihe von Rezensionen rundet das vorliegende Heft ab.“

Wie immer gibt es auch die bibliografischen Angaben und abstracts, und zwar hier…

15. Oktober 2019
von Tom Levold
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Neurobiologische Grundlagen für die Beratung

Mit diesem Schwerpunktthema setzt sich die aktuelle Ausgabe von OSC – Organisationsberatung Supervision Coaching auseinander. Im Editorial schreibt Herausgeberin Heidi Möller: „Die Neurowissenschaften boomen und halten folgerichtig Einzug in neuere Beratungskonzepte. Es stellt sich ganz radikal die Frage, ob Veränderungen von Deutungs- und Handlungsmustern, die wir im Coaching, in der Supervision und Organisationsberatung anstreben, ohne die Berücksichtigung der unterschiedlichen Ebenen des limbischen Systems, der Bindungstheorie, der somatischen Marker, Embodimenttheorie u. v. m. überhaupt denkbar sind. Kann wissenschaftlich fundierte Beratung ohne Wissen um Neuroplastizität, die Funktion des Stressverarbeitungssystems, des Selbstberuhigungssystems, des Impulshemmungssystems, des Motivationssystems und des Realitäts- und Risikowahrnehmungssystems auskommen? Oder handelt es sich z. B. beim „Neurocoaching“ schlicht um einen weiteren Hype, ein überschätztes Konzept, das bald schon wieder verschwunden sein wird?“
Beiträge von Gerhard Roth, Alica Ryba, Annette Diedrichs und Torsten H. Voigt befassen sich mit diesem Thema. Darüber hinaus sind Beiträge zum Diversity Management sowie ein Text über Supervision in Nahost zu lesen.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts zu den Beiträgen finden Sie hier…

12. Oktober 2019
von Tom Levold
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Luc Isebaert (22.5.1941 – 30.9.2019)

Foto: Solutionfairy

Am 30.9. ist Luc Isebaert gestorben. Der belgische Psychiater und Psychotherapeut ist als Vertreter der lösungsorientierten Therapie bekannt geworden. Er war Mitbegründer der European Brief Therapie Association (EBTA) sowie Gründer und Inspirator des Korzybski-Instituts für lösungsorientierte Therapie und des Brügger Modells für Kurztherapie.

Filip Caby, Vorsitzender der DSGF, hat Luc Isebaert gut gekannt und für systemagazin einen Nachruf verfasst.

Filip Caby, Leer: „Du brauchst nur hinzuschauen“

Am Montag, dem 30.09.2019, verstarb Luc Isebaert 78jährig in Oostende. Luc war ein belgischer Kinder- und Jugendpsychiater und Psychiater und leitete bis zum Ruhestand die psychiatrisch-psychosomatische Klinik am St-Jan-Ziekenhuis in Brügge. 

Seit den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschäftigte er sich mit der Ericksonschen Hypnotherapie und ließ sich von Bateson, Minuchin und Korzybski beeinflussen. Er gründete das Korzybski-Institut in Brügge und später weitere Ableger in Antwerpen und Rotterdam. Er war mit Insoo Kim Berg und Steve De Shazer eng befreundet und entwickelte seine Ideen der Lösungsfokussierung parallel zu deren Ideen.

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11. Oktober 2019
von Tom Levold
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Hans Schindler (6.7.1952 – 8.10.2019)

Hans Schindler
(Foto: B. Schmidt-Keller)

Am Dienstag, dem 8. Oktober 2019, ist Hans Schindler in seinem Haus in der Toscana unerwartet und unerwartbar gestorben. Er starb aufgrund eines Hornissen-Angriffes an einem anaphylaktischen Schock mit Herzstillstand. Das systemische Feld verliert einen wichtigen Wegbegleiter und Vertreter des Systemischen Ansatzes, viele von uns verlieren einen guten Freund.

Hans Schindler war Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und früherer Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bremen, seit 1989 arbeitete er als Lehrtherapeut am Bremer Institut für systemische Therapie und Supervision. Er war lange Zeit im Vorstand der Systemischen Gesellschaft tätig und Redaktionsmitglied der Zeitschriften Systhema und Psychotherapeutenjournal. Seine Bemühungen um die Anerkennung der Systemischen Therapie als Kassenleistung wurden zuletzt durch seine Wahl zum Präsidenten der Bremer Psychotherapeutenkammer gekrönt.

Wir vermissen Hans als einen klugen, zugewandten, humorvollen und immer vermittelnden Kollegen und Freund.

Arist von Schlippe, der Hans Schindler auch privat eng verbunden war, hat für systemagazin einen Nachruf geschrieben.

Arist von Schlippe: How fragile we are …

Diese Liedzeile von Sting geht mir seit gestern morgen nicht aus dem Kopf. Es war nur eine kurze Nachricht: Hans Schindler ist am 8.10. in Folge einer allergischen Reaktion auf einen Hornissenangriff gestorben. Er wurde 67 Jahre alt.

Ein Schock. Das ist unmöglich, kann nicht sein! Vor vier Wochen hatten wir noch in Bremen zusammengesessen, uns unsere Geschichten erzählt, gut gegessen und von den besonderen Flaschen aus dem unerschöpflichen Weinkeller getrunken. Wir hatten Spaß und haben viel gelacht, denn im Humor waren wir uns besonders nah. All das, was doch noch so viel Gegenwart in sich zu bergen schien, ist nun vergangen.

Wir waren enge Freunde und gute Kollegen. Ich kannte Hans noch aus seiner familientherapeutischen Ausbildungszeit am IF Weinheim, war später mehrfach auch im Bremer Institut zu Gast. Gemeinsam waren wir lange Jahre in der Systemischen Gesellschaft im Vorstand (1999-2005). Ich schätzte damals seine in langer Zeit des politischen Engagements gewonnenen Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Konstellationen, etwa in Mitgliederversammlungen und ich bewunderte sein strategisches Denken, wenn es um die Weiterentwicklung der Verbandes ging. Selbstverständlich wurden die Vorstandssitzungen regelmäßig mit sehr gutem Essen und sehr gutem Wein beendet.

Auch privat hatten wir viel miteinander zu tun, unsere Familien waren und sind eng verbunden, wir verbrachten mehrfach die Ferien gemeinsam. Seine Mühle in der Toskana, die die Familie 1986 im baulich sehr schlechten Zustand gekauft hatte, war seine große Leidenschaft (sicher lag es auch daran, dass dort in den Jahren zuvor die PCI getagt hatte, die kommunistische Partei Italiens, der Hans sich nahe fühlte). Sein Ferienhaus wurde zum zweiten Leben, sämtliche Ferien spielten sich dort ab. Unermüdlich war er hier tätig, wir erlebten das Wachsen mit, ein Reitplatz entstand, ein Weinberg – zu dem brauchte es natürlich auch einen kleinen Traktor, dann einen Bagger. Und der Wein „Molino di Possera“ schmeckte – nach einigen Versuchsjahren – wie ein echter italienischer Landwein; ein Rosengarten und ein zweites Nachbarhaus entstanden. Es war ein alter Schuppengewesen, den er mit seinen Söhnen zum „Palazzo“ ausgebauthatte. Dieser wurde nun sein Schicksal, als er dort nichtsahnend eine Terrassentür öffnete, hinter der sich ein noch nicht entdecktes Hornissennest befand.

Und er hatte doch noch so viel Leben vor sich! Eine größere Krankheit war gut überwunden, ein wenig Schonung war angesagt, aber er war auch gerade zum Präsidenten der Psychotherapeutenkammer in Bremen gewählt worden. Der erste Systemiker als Chef einer Kammer! Es war nicht nur für ihn ein Sieg nach jahrzehntelangen Kämpfen, auch wenn er ihn natürlich persönlich sehr genoss – es war auch eine Genugtuung für die darin liegende Anerkennung für die systemische Therapie, der er aufs Engste verbunden war. Ich erinnere mich noch, wie er mir sagte, wie leicht nun auf einmal alles geworden sei: Nach der Anerkennung und mit der neuen Position nahm mit ihm die systemische Therapie nun ganz selbstverständlich Platz zwischen den anderen Verfahren, gehörte dazu. Seine Praxis betrieb er reduziert weiter, aber nur noch zur Hälfte, nachdem seine Tochter dort mit eingestiegen war.
Alle Kinder waren „unter der Haube“, die elf Enkelkinder in Bremen, zum Teil im Nachbarhaus. Eigentlich war nun die Zeit zum Innehalten gekommen, seine Frau Nina und er hatten Zeit und freuten sich, ihre engsten Lieben so nah zu wissen. Alle Zeichen standen auf positiv. Das Schicksal wollte es anders. Ich weiß nicht, wie wir alle, die ihn kannten und schätzten, mit dem Verlust fertig werden, aber am meisten denke ich jetzt an Dich, liebe Nina, und an Euch liebe Schindler-Familie.

How fragile we are…

Rudi Klein und Barbara Schmidt-Keller

How fragile we are… Wie wahr, lieber Arist

Wir haben mit Hans einen lieben Kollegen und engen Freund verloren. Das Gewebe unserer Erinnerungen verbindet  Begegnungen in Bremen und im Saarland, an der Mosel, in der Bretagne und in der toskanischen Mühle , umfasst  Diskussionen,  Witze, gemeinsames Lachen, Trinken, Essen, Genießen und  auch ernste und nachdenkliche  Gespräche über Krisen und körperliche Bedrohungen. Wir erinnern uns an Autofahrten, in denen 3 von 4 Insassen lautstark alte Abba-Songs mitgeschmettert haben, unterbrochen von gelegentlich heftigem Luftholen und einiger verkehrsbedingter Stoßgebete. Über alles eben, was zum Leben gehört.

Hans war ein wunderbarer Kollege und warmherziger Freund. Ich (Rudi) verdanke ihm in beider Hinsicht viel.  Seine Freude, Neugierde und Kraft waren ansteckend. Ich habe mit ihm sogar Beton gemischt und Mauern gebaut, obwohl ich in jeder anderen Beziehung um jedwedes Handwerken riesige Bögen gezogen habe und ziehe. Ich habe von ihm gelernt, gute von sehr guten Weinen zu unterscheiden, wie man ganze Seezungen (vier Stück) in einer riesigen Pfanne brät, wie man Zucchiniblüten füllt. Kurz: wie man das Leben genießt und welche Möglichkeiten es noch gibt, die eingefahrenen Prioritäten über den Haufen zu werfen und mit alternativen zu experimentieren.

Und wir sind dankbar für die letzte gemeinsam verbrachte Woche in Italien. Das Foto zeigt den Tisch, von dem wir gerade alle aufgestanden waren. Es war ein Mittagessen zu seinem 65. Geburtstag und das folgende Gedicht von Luigi Nono bringt für uns zum Ausdruck, was Hans uns bedeutet hat und weiter bedeuten wird.

Lebendig ist, wer wach bleibt
Sich den anderen schenkt
Das Bessere hergibt
Niemals rechnet
Lebendig ist, wer das Leben liebt
Seine Begräbnisse, seine Feste 
Wer Märchen und Mythen aus den ödesten Bergen findet.

Lebendig ist, wer das Licht erwartet
in den Tagen des schwarzen Sturms
Wer die stilleren Lieder
ohne Geschrei und Schüsse wählt

Sich zum Herbst hinwendet
und nicht aufhört zu lieben
In Verbundenheit mit Nina und der Familie und den Freunden

Rudi und Barbara

10. Oktober 2019
von Tom Levold
1 Kommentar

Luc Ciompi wird 90

Luc Ciompi
(Foto: T. Levold)

Heute feiert Luc Ciompi seinen 90. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Am 10. Oktober 1929 wurde Luciano „Luc“ Ciompi in eine komplizierte Familiensituation in Florenz geboren und wechselte mit der Mutter in die Schweiz über, wo er Medizin studierte und eine Karriere als Psychiater durchlief. Er war von 1977 bis 1994 Professor für Psychiatrie an der Universität Bern und ärztlicher Direktor der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern. Als Kliniker berühmt wurde er durch sein innovatives Konzept der Soteria, einer Wohngemeinschaft für Menschen mit akut schizophrenen Störungen, die vor allem durch intensive zwischenmenschliche Begleitung und Zuwendung in einem emotional entspannenden Milieu behandelt wurden. Auch hierdurch, aber vor allem durch seine Arbeiten zur Affektlogik und ihrer Bedeutung für den systemischen Ansatz im Allgemeinen und die Psychotherapie im Besonderen, wurde er auch im systemischen Feld bekannt und einflussreich, sein Werk umfasst über 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen, darunter 14 Bücher und über 50 Buchbeiträge, insbesondere zum Langzeitverlauf der Schizophrenie, zum Konzept der Affektlogik, zu den emotionalen Grundlagen des Denkens sowie zum Problem von Zeit und Zeiterleben.

Lieber Luc,

Meine ersten Begegnungen mit dir (als sehr junger systemischer Therapeut) hatte ich nur über die Literatur. Im Januar 1981 erschien in der „Psyche“ dein Aufsatz „Psychoanalyse und Systemtheorie – ein Widerspruch? Ein Ansatz zu einer ,Psychoanalytischen Systemtheorie“, dessen Titel mich schon elektrisierte, weil ich als Soziologe, der einen psychoanalytischen Background hatte, aber über Luhmann seine Diplomarbeit geschrieben hatte, genau diese Verbindung interessant fand. Deine These damals war, „dass die beiden Denkmodelle sich nicht in einem Widerspruchsverhältnis befinden, sondern allenfalls (…) im hierarchischen Verhältnis einer allgemeinen zu einer speziellen Theorie. Was die familiär-interpsychische gegenüber der individuell-intrapsychischen Dynamik anbelangt, so stehen die beiden Theorien in einem ausgesprochen komplementären Verhältnis zueinander“. Auch wenn damals die Psychoanalyse, die heute viel systemischer geworden ist, und die sich entwickelnde Familientherapie nicht wirklich aneinander interessiert waren und in ihrem Sprachspielen wohl weniger kompatibel waren, als du vorgeschlagen hattest, wurde deine visionäre Idee, eine bestimmte Art psychodynamischen Denkens mit systemtheoretischen Überlegungen zu verknüpfen, schon damals wegweisend – unabhängig davon, was an altem theoretischen Ballast dafür noch abzuwerfen war.

Im systemischen Feld war die Bedeutung von Affekten und Gefühlen noch lange – bis in die 90er Jahre – eher kein oder allenfalls ein Randthema. Dass sich das im Laufe der Zeit verändert hat, dazu hast du Wesentliches beigetragen.

Persönlich kennengelernt haben wir uns sehr viel später. Ich meine, wir sind uns erstmals auf einem der Symposien ohne Publikum begegnet, die Rosmarie Welter-Enderlin mit ihrem Gespür für die wichtigen Themen so wunderbar zu organisieren wusste. Deine freundliche, zugewandte, alle Status- und Reputationsmarkierungen beiseite lassende Art der Diskussion und Aufmerksamkeit für das, was im Raum an inhaltlichen Entwicklungen möglich war, hat mich von Anfang an beeindruckt. Deine Leidenschaft für die Themen, die dich umtreiben, deine Liebe zur Komplexität und auch abstrakter Theoriebildung bei gleichzeitiger Fähigkeit, sie mit den unmittelbareN Erfahrungen und der klinischen Praxis anschaulich zu verbinden, ist bewundernswert und mir immer ein Vorbild gewesen.

Und nun schenkst du allen interessierten Leserinnen und Lesern mit deinem Blog beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht besondere und auch sehr intime Einblicke in deine persönliche Entwicklungsgeschichte wie in deinen intellektuellen und professionellen Werdegang mit allen damit verbundenen Zweifeln, Niederlagen und Widrigkeiten, die es zu überwinden oder zumindest auszuhalten galt. Deine Bereitschaft, am Beispiel deiner eigenen Biographie zu zeigen, dass professionell erfolgreiche Entwicklungen immer auch notwendigerweise mit einer Entwicklung der Persönlichkeit – mit allen Höhen und Tiefen –, einhergehen muss, zeugt von deiner Haltung, Theorie, Praxis und Selbstreflexion in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Davon können wir alle nur lernen und dafür möchte ich dir ganz besonders danken.

Deine geistige Frische ist wie dein künstlerischer und schriftstellerische Elan in deinem Alter ist trotz aller erwartbaren Beeinträchtigungen bewundernswert. Ich wünsche dir, dass deine Leidenschaft, Energie und Kreativität auch in den kommenden Jahren noch einige Überraschungen für dich und uns bereit halten wird.

Lieber Luc, zum 90. Geburtstag ganz herzliche Glückwünsche und alles Gute! Ich freue mich, dass ich dir auch im systemagazin einen Strauß von Gratulationen überreichen kann.

Tom

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3. Oktober 2019
von Tom Levold
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Borderline

Das aktuelle Heft der Familiendynamik ist dem Thema „Borderline-Persönlichkeitsstörungen“ gewidmet. In der Einleitung von Rieke Oelkers-Ax und Christina Hunger-Schoppe heißt es: „Mit dem Wort »Borderline« (engl. ›Grenzlinie‹) bezeichnete der Psychiater C. H. Hughes 1884 erstmals einen Bereich diagnostischer Grenzfälle zwischen Gesundheit und psychischer Krankheit. A. Stern beschrieb 1938 die meisten Merkmale der heutigen Borderline-Persönlichkeitsstörung unter dem Namen »border line group«. Damit wurde der Begriff in einer stark von psychoanalytischer Theorie beeinflussten Zeit geprägt für psychische Zustände an der Grenze (engl. ›border‹) von Neurose und Psychose. Dies war damals nicht nur eine Symptombeschreibung, sondern auch eine Einschätzung zu Therapiemöglichkeiten und Prognose: nämlich zwischen »behandelbar« (wie Neurosen durch die Psychoanalyse) und »unbehandelbar« (wie Psychosen).

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